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plus-iconEine historische Spurensuche

Geopolitischer Zündstoff: Was die Ostukraine so explosiv macht

Die Ostukraine ist nicht nur umkämpft – sie ist das Ergebnis jahrhundertelanger Interessenkonflikte. Wer verstehen will, warum der Krieg in der Ukraine so festgefahren ist, kommt an der Geschichte ihrer östlichen Regionen nicht vorbei. Eine Analyse.

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Prorussische Demonstranten in Charkiw, Ostukraine, etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, am 16. März 2014. An dem Tag, an dem die Krim für den Beitritt zu Russland von der Ukraine stimmte.

Foto: Sergei Bobok/AFP via Getty Images

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Erst kam die Annexion der Schwarzmeer-Halbinsel Krim im Jahr 2014. Dann erklärte Russland im Jahr 2022 nach international kritisierten Referenden auch die ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Kherson zu seinem Staatsgebiet. Allerdings kontrolliert Russland – abgesehen von der Krim – keines dieser Gebiete vollständig. Das Schicksal dieser Regionen spielt eine zentrale Rolle im Hinblick auf ein mögliches Kriegsende. Das scheint die US-Regierung auch so zu sehen.
„Das ist der sprichwörtliche Elefant im Raum. Der eigentliche Kern des Problems ist, dass es innerhalb der Ukraine verfassungsrechtliche Hürden gibt, wenn es darum geht, Gebiete offiziell aufzugeben. Faktisch stehen diese Territorien unter russischer Kontrolle. Die zentrale Frage ist: Wird die Welt anerkennen, dass diese Gebiete zu Russland gehören? Und kann Selenskyj politisch überleben, wenn er das eingesteht? Genau das ist der entscheidende Punkt in diesem Konflikt – ohne Zweifel“, sagte Steve Witkoff, Sondergesandter von US-Präsident Donald Trump, in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson Ende März.
Die von Russland beanspruchten Gebiete bleiben eines der beherrschenden Themen in allen Gesprächen über einen Friedensprozess. Welche historischen Entwicklungen und aktuellen Realitäten beeinflussen den Status der Krim und der vier östlichen Regionen?

Ukrainer entschieden sich 1991 für die Unabhängigkeit

Im Dezember 1991 wurde in der Ukraine ein Referendum darüber abgehalten, ob sich das Land von der Sowjetunion abspalten wolle. Von den 84,1 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung – etwa 32 Millionen Menschen –, die an der Abstimmung teilnahmen, stimmten 90,3 Prozent für die am 24. August erklärte Unabhängigkeitserklärung.
Auch Bewohner in den heute strittigen vier Regionen stimmten mehrheitlich für die Unabhängigkeit. In Donezk stimmten 76,9 Prozent, in Luhansk 83,9 Prozent, in Saporischschja 90,7 Prozent und in Kherson 90,1 Prozent für die Unabhängigkeit. Die niedrigste Zustimmung wurde auf der Krim verzeichnet – dort votierten lediglich 54 Prozent für die Abspaltung. In einem damaligen Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa heißt es, dass „dort ethnische Russen einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen“. Die OSZE und andere Beobachter bezeichneten die Wahlen „im Großen und Ganzen […] frei und fair“.

Ukrainer feiern am 25. August 1991 in Kiew vor dem Hauptquartier der Kommunistischen Partei die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion.

Foto: Anatoly Sapronenkov/AFP via Getty Images

Meinungsumschwung in der Ostukraine?

Nach zahlreichen politischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen ist die Lage in den östlichen Regionen einige Jahrzehnte später eine gänzlich andere. 2014 in der Krim und 2022 in den vier östlichen Gebieten wurden erneut Referenden abgehalten. Diesmal von Moskau initiiert und diesmal ging es um die Frage der Angliederung an die Russische Föderation. Die Ergebnisse unterschieden sich deutlich von denen im Jahr 1991.
Etwa 93 Prozent der Wähler auf der Halbinsel stimmten angeblich im März 2014 für die Abspaltung von der Ukraine. Im September 2022 stimmten in der Region Saporischschja 93 Prozent der Wähler, in Kherson 87 Prozent, in Luhansk 98 Prozent und in Donezk 99 Prozent für den Anschluss an Russland.
Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte ein Jahr später, dass „diese bewusste, lang erwartete, hart erkämpfte und wahrhaftig populäre Entscheidung gemeinsam durch Referenden in voller Übereinstimmung mit internationalen Normen getroffen wurde“.
Die internationale Gemeinschaft sah das jedoch anders. Die Durchführung der Abstimmungen in den Jahren 2014 und 2022 stieß auf deutliche Kritik von der EU, UN und OSZE und wurde als illegitim bezeichnet.
Besonders mit dem Hinweis darauf, dass die Besetzung der Regionen durch Russland und aktive Gefechte keine demokratischen Bedingungen erlaubten. Aber auch, dass der ganze Prozess der ukrainischen Verfassung widersprach, denn diese lässt Gebietsveränderungen nur durch ein landesweites Referendum zu. Auch wurde bemängelt, dass es keine internationalen Wahlbeobachter gab.

Politische Karte der Ukraine mit Hervorhebung der strittigen Regionen: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Kherson wurden im September 2022 bzw. die Krim im März 2014 durch Russland annektiert.

Foto: grebeshkovmaxim/iStock

Die ukrainische Regierung lehnte in einer Erklärung die 2022-Abstimmungen ab: „Solche Fake-Volksabstimmungen haben keine rechtlichen Konsequenzen. Sie werden die Verwaltungs- und Territorialstruktur sowie die international anerkannten Grenzen der Ukraine nicht ändern.“
Den tatsächlichen Willen der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten festzustellen, ist aufgrund der Kriegslage weiterhin äußerst schwierig. Allerdings zeigten Umfragen wie vom Pew Research Center noch im Jahr 2014, dass eine Mehrheit, inklusive der russischsprachigen Bevölkerung, in den östlichen Regionen sich gegen eine Angliederung ausgesprochen hatte.

Die historischen Wurzeln

Sowohl die russische als auch die ukrainische Führung berufen sich im Ukraine-Konflikt auf die Epoche der Kiewer Rus ab dem 9. Jahrhundert, doch die Interpretationen gehen dabei weit auseinander. Während in Russland die gemeinsame Vergangenheit bedeutet, dass die Ukrainer als Teil der eigenen nationalen Geschichte angesehen werden sollen – die beiden Völker also im Grunde eines seien –, legt die ukrainische Sichtweise den Schwerpunkt auf eine eigenständige ukrainische Entwicklung.

Der ukrainische Historiker Mykhaĭlo Hrushevsʹkyĭ datierte den Beginn der russischen Geschichte nämlich erst viel später, im nordöstlichen Fürstentum Wladimir-Susdal, dessen Erbe im 14. Jahrhundert vom Großfürsten von Moskau übernommen wurde.

Die Kiewer Rus war ein mittelalterlicher Herrschaftsverband, ein multiethnisches Reich, in dem neben Ostslawen auch finnougrische, baltische und turksprachige Völker lebten. Sie entstand im 9. Jahrhundert und bestand in ihrer ursprünglichen Form bis ins 13. Jahrhundert. Die Annahme des orthodoxen Christentums sowie die Verbreitung der kyrillischen Schrift gehen ebenfalls auf diese Zeit zurück und bilden den Kern der gemeinsamen orthodox-slawischen Kultur.
Die Kiewer Rus war ein Zusammenschluss von Teilfürstentümern unter der Führung des Großfürsten von Kiew. Jedes dieser Teilfürstentümer wurde von einem Zweig der Rurikiden-Dynastie regiert, die von den normannischen Kriegern gegründet worden war. Diese föderative Struktur unterhielt rege Handelsbeziehungen mit Nord- und Mitteleuropa, dem Nahen Osten sowie dem Byzantinischen Reich. Die Rurikiden knüpften zudem auch dynastische Verbindungen zu den Königshäusern Europas und Byzanz’.

Das Gebiet der Kiewer Rus im 11. Jahrhundert.

Eine historische Zweiteilung prägt und spaltet die ukrainische Gesellschaft

Im 13. Jahrhundert geriet die Kiewer Rus unter mongolische Herrschaft, die mehr als zwei Jahrhunderte andauerte. Danach begann das Staatsgebilde zu zerfallen. Eine große Trennlinie verlief entlang des Dnipro-Flusses, der das heutige ukrainische Staatsgebiet beinahe mittig durchquert.
Nach den Kriegen zwischen der Polnisch-Litauischen-Union und dem russischen Zarentum im 17. Jahrhundert gerieten die westlich des Flusses gelegenen Gebiete zunächst unter polnische, ab 1772 unter österreichische Herrschaft. Diese Regionen gehörten nie direkt zu Russland, sondern kamen erst als Teil der ukrainischen Sowjetrepublik zur Sowjetunion und später zum unabhängigen ukrainischen Staat.
Die östlichen Regionen kamen allmählich unter russische Kontrolle. Ende des 18. Jahrhunderts wurden auch Teile der zentral gelegenen Gebiete ins russische Zarenreich eingegliedert.
Diese historische Zweiteilung prägt und spaltet die ukrainische Gesellschaft bis heute. Die russischsprachige Bevölkerung im Osten fühlt sich kulturell oft eher mit Russland verbunden. Der Westen ist hingegen mehrheitlich ukrainischsprachig und westlich orientiert.

Politische Krisen

Neben diesen historisch geprägten Spannungen wurde die innere Spaltung der Ukraine zusätzlich durch die politischen Krisen nach dem Zerfall der Sowjetunion verschärft. Der Übergang zur Demokratie und Marktwirtschaft stellt das Land bis heute vor große Herausforderungen. Viele Ukrainer – insbesondere in den russlandfreundlichen Regionen – blicken mit einer gewissen Nostalgie auf die relative Stabilität früherer Zeiten zurück.
„Die tiefste Kluft verläuft zwischen jenen, die das russische und sowjetische Erbe mit Sympathie betrachten, und jenen, für die es eine nationale Tragödie darstellt“, erklärte der Ukraine-Experte und ehemalige Mitarbeiter des Thinktanks Atlantic Council, Adrian Karatnycky, im Jahr 2014.
Diese Gegensätze haben sich durch revolutionäre Ereignisse, die auf eine stärkere europäische Integration abzielten – wie die Orange Revolution in den Jahren 2004 und 2005 und die Proteste auf Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan, die im November 2013 begannen – noch weiter vertieft. Der als Euromaidan bekannte Aufstand führte zu einer politischen Krise und dem Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar 2014.

Eskalation der Gewalt auf dem Euromaidan. Kämpfe in der Hrushevskyi-Straße in Kiew am 22. Januar 2014.

Foto: Amakuha, CC BY-SA 3.0

Putin bezeichnete diese Ereignisse als einen durch den Westen unterstützten Umsturz. Unruhen sowohl auf der Krim als auch in den östlichen Regionen der Ukraine folgten unmittelbar darauf. Es kam zu intensiven Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten, besonders im Donbass.
Russlands Führung äußerte zudem wiederholt Bedenken, dass die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, insbesondere im Donbass und auf der Krim, nicht ausreichend geschützt wurden.
Hier lebt auch die größte russischsprachige Minderheit. Auf der Krim machten laut der letzten offiziellen ukrainischen Volkszählung von 2001 ethnische Russen 58,3 Prozent der Bevölkerung aus. In Donezk lagen die Zahlen bei 38,2 Prozent, in Luhansk 39,0 Prozent, in Saporischschja 24,7 Prozent und in Kherson 14,1 Prozent. Was die ganze dortige Bevölkerung betrifft, werden diese Regionen jedoch selbst von der ukrainischen Führung als „russifizierte östliche Gebiete“ beschrieben.

Ukraine: Nur ein Teil eines größeren Problems für Russland?

Für Russland stellt die Zugehörigkeit der umkämpften Gebiete in der Ukraine jedoch nur einen Teil eines größeren Problems dar. In der zersplitterten Region der ehemaligen Kiewer Rus und des heutigen Russlands versucht Moskau seit Jahrhunderten, politische Einheit zu schaffen. Dies wird vom Westen oft als Streben nach Einfluss verstanden. Aus Sicht des Kremls geht es jedoch darum, ein historisch gewachsenes Ganzes zu schützen.
Russland ist mit einer Fläche von über 17 Millionen Quadratkilometer das größte Land der Welt. Es umfasst etwa 11 Prozent der gesamten Landmasse der Erde. Auf dem riesigen Gebiet leben etwa 190 ethnische Gruppen. Mehr als 100 Minderheitensprachen werden gesprochen, davon gelten 35 Sprachen in verschiedenen Regionen Russlands als Amtssprachen.

Laut der Volkszählung von 2010 sind 80,9 Prozent der Bevölkerung Russlands ethnische Russen. Weitere bedeutende ethnische Gruppen sind: Tataren (3,87 Prozent), Ukrainer (1,4 Prozent) und Baschkiren (1,15 Prozent). Der Rest der Bevölkerung besteht aus zahlreichen kleineren ethnischen Gruppen.

Foto: Olegzima/CC-BY-SA-4.0

Der russische Präsident hat wiederholt betont, dass Russland als Vielvölkerstaat vor der Herausforderung steht, seine Einheit zu bewahren. Diese Sichtweise äußerte er unter anderem in seinem Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ aus dem Jahr 2021. Hier argumentiert er, dass die Ukraine künstlich von außen geschaffen und gegen Russland instrumentalisiert worden sei. Zudem betonte er in einer seiner Reden, dass der Westen versucht hat, Russland entlang ethnischer Linien zu spalten.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieben Russland und Belarus eng verbunden. Die Ukraine hat sich aber zunehmend nach Westen orientiert. Insbesondere mit dem Ziel, der EU und der NATO beizutreten. Putin hat einen NATO-Beitritt der Ukraine wiederholt als fundamentale Bedrohung für die russische Sicherheit bezeichnet.
Die Ukraine beruft sich auf das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung und beansprucht das Recht, ihren außenpolitischen Kurs frei zu wählen. In einer Welt multipolarer Machtzentren bleibt die Suche nach einem tragfähigen Gleichgewicht eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.
Mária S. Szentmagyari ist eine ungarische Juristin mit deutschen Wurzeln und lebt im Grünen unweit von Budapest. Mit Leidenschaft und großem Interesse an geopolitischen Zusammenhängen berichtet sie für die Epoch Times über die aktuellen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, der Ukraine, Russland und dem Nahen Osten. Die Kommentare unter ihren Artikeln liest sie mit besonderer Neugier.

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