Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie – Die Heimat der Wölfe

Ein Buch, das besonders die Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren geboren wurde, betrifft. Raymond Unger ist es gelungen, das Schicksal der Kriegsenkel in literarischer Form zu verarbeiten. Lesung in den Berliner Kant Kinos am 19. April um 20 Uhr.
Titelbild
Von 18. April 2016

In dem Roman „Die Heimat der Wölfe“ von Raymond Unger, erschienen im Europa Verlag, begibt sich ein „Kriegsenkel“ auf die Spuren seiner Familie. Anhand von persönlichen Erinnerungen, Tagebüchern und Tonbandaufzeichnungen hat Raymond Unger sich intensiv mit der Chronik seiner Familie und den Kriegstraumata seiner Eltern und Großeltern auseinandergesetzt. Es geht aber nicht nur um Kriegserlebnisse, sondern auch um Flucht und Vertreibung, das Aufspüren einer neuen Heimat, die nie wirklich Heimat werden konnte. Gefühle der Ohnmacht und der Leere, die sich über Jahrzehnte die Hand gereicht haben.

„Auf sich gestellt, können sich Kinder gegen eine Übertragung von Gefühlen kaum wehren. Ich hatte fortan die Gefühle meiner Großmutter. Ich war traurig und verzweifelt wegen eines verlorenen Lebens, noch bevor mein eigenes Leben überhaupt begonnen hatte. Im wahrsten Sinne bestand die Zuwendung meiner Großmutter aus Zuckerbrot (Keksen) und Peitsche, um beides nahm ich begierig auf, ansonsten hätte ich auch kaum Zuwendung bekommen.“ (Seite 204

Raymond Unger ist es gelungen, das Schicksal der Kriegsenkel in literarischer Form zu verarbeiten und herausgekommen ist ein Buch, das besonders die Generation die in den sechziger und siebziger Jahren geboren wurde, betrifft. Mit einer unglaublichen Schärfe und Emotionalität anhand seiner Biografie, offenbart er schonungslos wie die Generation der Kriegskinder traumatisiert wurde und dadurch ihren eigenen Kindern permanent unnahbar und wenig emotional begegnet ist. Ein Phänomen, das viele Fünfzig- bis Sechzigjährige heute beklagen.

In der literarisch-psychologischen Chronik seiner Familie verflechten sich in beklemmender Weise große deutsche Themen des 20. Jahrhunderts, politisches und gesellschaftliches durchzieht wie ein feines Muster die Erzählung.

Die Geschichte findet auf drei Ebenen statt, es gibt einmal die Zeit der Großeltern vor und während des Zweiten Weltkrieges, dann die Zeit der Eltern als sie Kinder waren und dann, eine der längsten Episoden ist die der eigenen Kindheit und Jugend in den Sechzigern und Siebzigern.

Durch alle Schichten hindurch geht es immer wieder um die Auswirkung von verdrängten traumatischen Erfahrungen der Eltern und Großeltern. Welche Schatten werfen diese bis in die heutige Zeit? Wie viele Narben, welche seelischen Schmerzen und Wunden hat die Kriegsenkelgeneration über die Eltern und Großeltern erfahren müssen? Wie haben diese Erlebnisse die Kindheit und Jugend geprägt? 

Als Maler und Therapeut hat sich Raymond Unger schon jahrelang mit diesem Thema beschäftigt. Er erhielt 2011 den internationalen Lucas-Cramer Sonderpreis für Malerei. Seine großformatigen Ölgemälde befinden sich in Privatsammlungen Moskau, Genf, Salzburg, Düsseldorf, Hamburg und Berlin.

Wer seine Gemälde betrachtet, könnte vielleicht zuerst erschrecken, aber nach einer Weile ist seine Sehnsucht spürbar, der Hilfeschrei nach Anerkennung zu hören und das ewige Suchen nach sich selbst bemerkbar, und man wird förmlich von der Wucht dieser Bilder gefangengenommen. In seinem Erstlingswerk „Die Heldenreise des Künstlers. Kunst als Abenteuer der Selbstbegegnung“, geht er darauf ein, wie die Tätigkeiten als Künstler und Therapeut sich gegenseitig ergänzen. Jetzt hat der Schriftsteller die Sprache und das geschriebene Wort gefunden, sich erneut auszudrücken. Seltsamerweise mit einem Medium, das gänzlich in seiner Familie gefehlt hat. Miteinander zu sprechen, Sprache als Möglichkeit zu nutzen, um sich austauschen zu können. All das holt er in dieser Familienchronik nach.

Im Nachhinein wird gesagt, dass besonders die siebziger Jahre, auch wenn es Deutschland wirtschaftlich gut ging, viele Kinder und Jugendliche genau diese angeblich sorgenfreie Zeit eher als schwer und nicht selten als sehr depressiv empfunden haben. Eine Erfahrung, die Raymund Unger und seine Schwester Sabine gemacht hatten.

Doch Sabine war nicht nur depressiv, sie war auch wütend. Und diese Wut brach gelegentlich aus. Da konnte es passieren, dass Sabine einem Mückenspray ins Gesicht sprühte oder einen Kaffeebecher nach einem warf. Doch wehe, meine Mutter bekam mit, wenn Sabine ihre Wut raus ließ: „Mein liebes Fräulein! Säg dir nicht den Ast ab, auf dem du sitzt!“, bekam Sabine dann zu hören. Und das war ja gerade Sabines Problem. Denn ihr Ast war eben dieses Zuhause – in dem der Vater auf seinem Taubenschlag soff und die Mutter mit Eberhard in der Küche poussierte. (Seite 159)

Auch wenn die meisten Familien in den Siebzigern nach dem klassischen Prinzip gelebt hatten, Vater, Mutter, Kind, der Vater arbeitete, die Mutter blieb zuhause, hätte es im Grunde genommen anders verlaufen können und müssen. Aber besonders die Kinder dieser Generation erzählen im Nachhinein, dass die Gefühle von Wut und Verzweiflung dermaßen prägnant waren, und dass man sich irgendwie immer allein fühlte, vor allen Dingen allein gelassen.

Auch Raymund Unger musste erst begreifen lernen, was seine Eltern als Kriegskinder erlebt hatten, um am Ende auch seinen Frieden zu finden. In einem sehr berührenden Kapitel berichtet er davon, wie sein Vater als kleiner Junge miterleben musste, dass die ganze Stadt Hamburg zerbombt und in Schutt und Asche gelegt wurde. Er selbst weilte gerade auf dem Land, bei fremden Menschen, musste übers Radio erfahren, dass wahrscheinlich seine ganze Familie im Krieg umgekommen war.

Mit dem Wissen über das, was die eigenen Eltern im Krieg erlebt hatten, kann die nachfolgende Generation in seinen Augen versuchen zu verstehen, warum ein Mensch so war wie er war. Diese  traumatisierten Menschen suchten sich eine Lebensnische, um nicht von ihren eigenen Dämonen heimgesucht zu werden. Für Raymonds Vater waren es die Tauben.

„Ein Brieftaubenzüchter schafft sich sein eigenes Universum. In diesem ist er Gott. Er erschafft Kreaturen, die ihm gänzlich ausgeliefert sind. Er gibt und er nimmt: Wärme, Wasser, Nahrung, Unterkunft und Sexualität. Wie ein römischer Gott trennt er frisch verliebte Paare, macht sich ihre Sehnsucht zunutze und schickt sie dann wie Gladiatoren in den Wettkampf. Wenn sie halbtot aus dem Kampf zurückkehren, nach einem 800 Kilometer Nonstop- Flug in sengender Hitze, leidet er mit ihnen.

Waren sie schnell und erfolgreich, päppelt er die halbtoten Tiere wieder auf, fotografiert sie verleiht ihnen Orden. Haben Sie verloren, rächt er sich. „Kopf ab!“, schreit die rote Königin in Alice im Wunderland. Und auch im Wunderland Taubenschlag rollen die Köpfe, wenn Gott es so will.“ (Seite 150)

„Aber etwas in mir wollte die Taube auch erschießen. Die Taube hatte den Tod verdient. Sie war das Sühneopfer ihrer ganzen Sippe, die mich Zeit meines Lebens um meinen Vater gebracht hatte, denn Zeit meines Lebens lebte mein Vater in einem anderen Land. Meine Mutter hatte den Machtkampf 1962 nur scheinbar gewonnen. Physisch war mein Vater aus Amerika zurückgekehrt, jedoch nur, um psychisch in seinem selbst geschaffenen Kontinent Taubenschlag zu migrieren.“ (Seite 155)

In der Mythologie steht der Vogel für die Rettung der verlorenen Seele. Im Nachhinein kann gedeutet werden, dass diese Tauben den Vater womöglich vor dem Selbstmord gerettet haben.

Ein sehr prekäres Thema, auf das Raymond Unger sehr genau eingeht, ist das Thema „Sucht“. Interessant ist, dass alle Familienmitglieder anscheinend nach  irgendetwas süchtig waren. Seien es Alkohol, Zigaretten, Sex, schnelle Motorräder, Autos, usw.

War aber dieses nicht gerade in den Siebzigern ein typisches Gesellschaftsbild? Eine ganz offen zutage getragene Sucht und Abhängigkeit? Alles rauchte, alles trank? Kaum eine Sendung, kaum eine Talkrunde, bei der nicht geraucht und getrunken wurde. Die gesellschaftliche Sucht und Abhängigkeit nach einem betäubenden Mittel, um die Erinnerung nicht erwecken zu müssen?

In seinem Buch lässt Raimund Unger sich von zwei Zitaten leiten:

Max Frisch soll einmal gesagt haben, ein Mensch, der sich seines Traumes bewusst ist und der eine wirkliche Sinnfrage an das Leben zulässt, hat nur drei Möglichkeiten: Selbstmord, Sucht oder kreativen Ausdruck. In meiner Familie wurden alle drei Methoden praktiziert. Als Maler und Autor habe ich mich für die letzte der drei Möglichkeiten entschieden.

Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich, was du hervorbringst, erretten. Bringst du nicht hervor, was in dir ist, wird dich, was du nicht hervorbringst, zerstören. (Aus dem gnostischen Thomas-Evangelium)

Es ist gut, dass Raymond Unger sich für die Kreativität entschieden hat. Sowohl in seinen Bildern wie auch als Schriftsteller!

Weitere Infos zu Raymond Unger unter: www.raymond-unger.de (Künstler Homepage)

Wer in Berlin lebt oder zu Gast ist, kann Raymond Unger am 19. April um 20:00 Uhr in den Kant Kinos hören. Er wird seinen Roman „Die Heimat der Wölfe“, vorstellen im Rahmen des Literaturzirkels SalonKultur in den Kant Kinos, geleitet von Johann de Blank und Markus Reinefeld.

Raymond Unger

Die Heimat der Wölfe

224 Seiten

Europa Verlag (14. März 2016)

ISBN-10: 3958900143

Euro: 19,99



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion