Warum man Liebe statt Angst wählen sollte

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Ein Liebespaar.Foto: iStock
Von 23. Juli 2021

Lass die Angst los und wähle die Liebe. Dies ist ein beliebter Refrain und ein wunderbarer Ratschlag. Viele glauben, dass es nur zwei ursprüngliche Emotionen im Menschen gibt, Liebe und Angst, und dass wir nicht beides gleichzeitig fühlen können. So wie das Licht die Dunkelheit beseitigt, kann die Liebe die Angst beseitigen.

Die Entscheidung, die Angst loszulassen und die Liebe zu wählen, kann sich wie etwas anfühlen, das nur für außergewöhnliche Momente zutrifft – zum Beispiel wenn wir ein neues Unternehmen gründen oder uns darauf vorbereiten, den Mount Everest zu besteigen.

Aber in Wahrheit bietet sich die Gelegenheit, die Liebe zu wählen und die Angst abzulehnen, in den intimsten Momenten des Lebens, und insbesondere in den Beziehungen zu denen, die uns am nächsten sind.

In intimen Beziehungen verletzen wir uns gegenseitig – absichtlich und unabsichtlich. Das ist eine Tatsache.

Manchmal, wenn wir Glück haben, entdecken wir, dass wir die andere Person verletzt haben. Das geschieht, wenn sie zu uns kommt und uns ihren Schmerz mitteilt, ihre Erfahrung ausdrückt und verbalisiert, was wir gesagt oder getan haben, das sie verärgert hat.

Oft entdecken wir auf eine andere Art, dass wir eine Person verletzt haben – nämlich dann, wenn sie uns kritisiert oder uns sagt, was ihrer Meinung nach bei uns nicht in Ordnung ist.

In diesen Fällen fühlen wir uns in der Regel beschuldigt oder angegriffen. Deshalb kann es schwieriger sein, zuzuhören oder sich die Situation durch die Augen der Person vorzustellen. Oft ist es unmöglich, sich in ihren Schmerz hineinzuversetzen.

Wir neigen in solchen Situationen dazu, zurückzuschlagen und mit dem Finger auf den anderen zu zeigen oder uns zu verteidigen und dem anderen zu beweisen, dass er im Unrecht ist. Das ist ein Überlebensinstinkt und in der Tat kann es sich so anfühlen, als ob unser eigenes Überleben auf dem Spiel steht.

Was auf dem Spiel steht, ist nicht unser physisches Überleben, sondern das Überleben unserer Vorstellung von uns selbst. Die Person, als die wir von der anderen Person charakterisiert oder erlebt werden, ist nicht die Person, die wir denken oder glauben zu sein. Und so versuchen wir, die Identität des guten Selbst zu schützen – des Selbst, das bezüglich dem, was ihm vorgeworfen wird, unschuldig ist.

Es ist ein gesunder Instinkt, Anschuldigungen zu hinterfragen, die sich unfair oder ungerechtfertigt anfühlen. Es ist auch wichtig, Grenzen setzen zu können, die verhindern, dass Projektionen und von der Realität abweichende Wahrnehmungen anderer auf uns rückkoppeln.

Wenn uns Absichten zugewiesen werden, die nicht zu uns gehören, ist es wichtig, sich über die wahre Situation klar zu werden. Es ist auch gesund und notwendig, sich vor Schmerz zu schützen, der die Form eines emotionalen Angriffs annimmt. Emotionale Angriffe und Beleidigungen, die darauf abzielen zu schaden, sind nicht in Ordnung und müssen gestoppt werden.

Und doch gibt es eine enorme Chance in diesen Beziehungsmomenten, wenn jemand, der uns wichtig ist, verletzt ist und wenn wir – ob wir es verstehen oder nicht – ein Teil ihres Schmerzes zu sein scheinen. In diesen Situationen besteht die Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, aus Liebe zu antworten, statt aus Angst zu reagieren.

Wenn wir uns emotional angegriffen, beschuldigt oder in irgendeiner Weise kritisiert fühlen, erleben wir Angst, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Unser Ego ist bedroht. Unsere Identität ist bedroht. Unser Narrativ von unserem Selbst ist bedroht. 

Infolgedessen reagieren wir aus der Angst heraus, was bedeutet, dass wir unser Ego verteidigen oder zurückschlagen und versuchen, die Bedrohung auszuschalten. Angst als Ur-Emotion kann wie ein Tsunami über uns hinwegfegen und uns dazu bringen, zu reagieren, ohne nachzudenken oder unser rationaleres und liebevolleres Selbst zu konsultieren. Unsere Reaktion stimmt oft nicht mit dem überein, was wir in unserem Herzen für die andere Person empfinden.

Wenn wir Liebe über Angst als Ausrichtung im Leben wählen wollen, müssen wir nicht darauf warten, dass eine Krise eintritt. Wir können einfach die Gelegenheiten nutzen, die sich in den Momenten bieten, die jeden Tag passieren, wenn die Person, als die wir uns selbst sehen, nicht mit dem übereinstimmt, wie wir in dem Moment von anderen wahrgenommen werden.

Sich in solchen Situationen für die Liebe zu entscheiden, bedeutet, erst einmal innezuhalten und tief durchzuatmen, bevor man etwas tut. Es bedeutet, ruhig zu werden, um tatsächlich zu hören, was die andere Person sagt, ohne unsere Ansicht von dem, wer wir sind oder was wir denken, zu verteidigen.

Es bedeutet auch, nicht mit einer Kritik auf den anderen zurückzuschlagen, oder ihn zu beschuldigen, dass er etwas getan oder gesagt hat, das uns gleichermaßen verletzt hat. Es bedeutet, einfach zuzuhören – ohne Bedingungen.

Aus Liebe heraus zu handeln, bedeutet, unser eigenes Ego beiseite zu legen. Es bedeutet, mutig genug zu sein, um versuchen zu verstehen, was die andere Person erlebt, egal wie radikal es sich von dem unterscheidet, was wir erreichen wollten oder was unserer Ansicht nach passiert ist.

Aus Liebe zu handeln, bedeutet, Verständnis zu haben und unser Herz für den Schmerz des anderen zu öffnen. Eine Antwort – und nicht eine Reaktion –, die aus Liebe kommt, ist das Zuhören, als wären wir nur Ohren, die hören – nur Ohren und nicht Ohren, die an einen Kopf, an ein Ego oder an eine Identität gebunden sind oder an eine Person, die darauf aus ist, intakt und unverändert zu bleiben.

Aus der Liebe und nicht aus der Angst heraus zu leben, bedeutet auf einer praktischen Ebene, dass wir von dem Ziel, unser Ego zu schützen und den Streit zu gewinnen, dazu übergehen, in unseren Handlungen tatsächlich freundlich und liebevoll zu sein.

Es bedeutet, dass wir bereit sind, aufzuhören zu beweisen, wir wären ein guter Mensch und stattdessen tatsächlich dieser gute Mensch sind. Erstaunlicherweise werden wir in den Momenten, in denen wir die Kraft haben, uns für die Liebe statt für die Angst zu entscheiden, mit dem Geschenk belohnt, uns selbst als liebevoll zu erleben und als etwas, das unendlich viel mehr ist als nur das kleine, zerbrechliche Ego, von dem wir dachten, dass wir es wären und das wir so verzweifelt beschützen müssten.

Wir werden mit der Würde belohnt, zu wissen, dass wir etwas unglaublich Herausforderndes und Schönes getan haben. Wir werden mit einer Freiheit belohnt, die alle anderen Freiheiten übertrifft.

Letztlich werden wir in unserer Bereitschaft, unsere Vorstellung von uns selbst nicht mehr verteidigen zu müssen, unser wahres und unzerstörbares Selbst entdecken.

Nancy Colier ist Psychotherapeutin, interreligiöse Seelsorgerin, Autorin, Vortragende und Workshop-Leiterin. Sie schreibt regelmäßig für „Psychology Today“ und „The Huffington Post“. Außerdem veröffentlichte sie mehrere Bücher über Achtsamkeit und persönliches Wachstum. Colier bietet individuelle Psychotherapie, Achtsamkeitstraining, spirituelle Seelsorge, öffentliche Vorträge und Workshops und arbeitet auch weltweit mit Kunden über Skype. Mehr dazu auf NancyColier.com

 



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