Meinung
Schallenbergs Perspektiven: # 7 Glückliches Amerika, trotz allem
Gleich ob in den USA, in Deutschland, der Ukraine oder in Russland: Immer beginnt die Möglichkeit des Bösen, die geheime psychische oder physische Vernichtung des Menschen, im Herzen und im Denken eines Menschen, in der Ablehnung von Verantwortung für mehr als das private Leben.

Prof. Dr. Peter Schallenberg.
Foto: Privat/Epoch Times
„Ein wundervoller Aufsatz – und so etwas kann man in Amerika drucken! Glückliches Amerika, trotz allem!“ Dies schrieb der Philosoph Karl Jaspers am 2. Dezember 1945 an Hannah Arendt als Reaktion auf deren Aufsatz vom November 1944, verfasst in den USA und in englischer Übersetzung im Januar 1945 in der Zeitschrift „Jewish Frontier“ veröffentlicht, in deutscher Fassung erschienen in der Zeitschrift „Die Wandlung“ Heft 1 (1945/1946) unter dem Titel „Organisierte Schuld“.
Und Arendt antwortete auf das Lob von Jaspers wenige Tage nach Erhalt seines Briefes: „Zählen werden nur die, die bereit sind, sich weder mit einer Ideologie noch mit einer Macht zu identifizieren.“ In ihrem Aufsatz, unmittelbar vor dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur und ihrer Maschinerie der massenhaften Menschenvernichtung verfasst, aus der Distanz des Exils in den USA und nach der Flucht aus Nazi-Deutschland, will sie der Frage nach dem Ursprung des Bösen und dem Ursprung der Massenvernichtung des Menschen in Deutschland 1933 bis 1945 auf den Grund gehen.
Die Frage nach dem Ursprung des Bösen
In einem Brief viele Jahre später, vom März 1969, an Kenneth Thompson, den Vizepräsidenten der Rockefeller Foundation, bringt sie es nochmals auf den Punkt: „How can we approach the question of evil in an entirely secular setting?“ – „Wie kann man sich der Frage nach dem Bösen in einer vollständig säkularen Gesellschaft nähern?“ Gibt es in einer säkularen (oder meinetwegen auch gottlosen) Gesellschaft überhaupt noch das Böse im Sinn von Sünde und Schuld? Ist das Böse eigentlich nicht nur zu denken im Angesicht des Guten schlechthin? Und ist der Unterschied zwischen Gut und Böse überhaupt zu denken, ohne an Gott zu denken, es sei denn, man meint mit Gut und Böse einfach nur Angenehmes und Unangenehmes? Aber trifft diese allzu banale Unterscheidung von angenehm und unangenehm den Punkt des abgrundtief Bösen im Herzen des Menschen?
In ihrem Aufsatz „Organisierte Schuld“ notierte Arendt jedenfalls glasklar: „Dafür haben wir in Furcht und Zittern endlich begriffen, wessen alles der Mensch fähig ist – und dies ist in der Tat eine Vorbedingung modernen politischen Denkens. Sie werden sich vermutlich nicht sehr gut zu Funktionären der Rache eignen. Eines aber ist sicher: Auf sie und nur auf sie, die eine gewisse Angst vor der notwendigen Verantwortung des Menschengeschlechts haben, wird Verlass sein, wenn es darum geht, gegen das ungeheure Übel, das Menschen anrichten können, furchtlos und kompromisslos und überall zu kämpfen.“
Allgegenwärtige Religion in den USA
An diesen Aufsatz – und natürlich an Arendt, 50 Jahre nach ihrem Tod 1975 – musste ich oft denken, als ich in der vergangenen Woche zu Vorträgen und zu Besuch bei Freunden in Boston und Austin war, in den momentan in Deutschland viel und oft misstrauisch beäugten USA. Beeindruckt war ich von den Besuchen in der John F. Kennedy Presidential Library in Boston und der Lyndon B. Johnson Presidential Library in Austin; beide Politiker waren aktive und fromme Christen in bewusster Verantwortung vor Gott in ihrem politischen Leben.
Und beeindruckt war ich, wie immer in den USA, von dem aktiven religiösen Leben, ganz anders als in Deutschland. Auffallend in den USA ist ja ohne Zweifel die allgegenwärtige Religion, gleich welcher Art. Gott ist sehr selbstverständlicher Bestandteil des normalen öffentlichen Lebens, und der einfache Satz „God bless you – Gott segne Sie“ geht leicht über die Lippen, nicht nur im Anblick eines römischen Kragens und dem dazugehörigen Priester.
Arendt bringt das Böse des, wie sie es nennt, „Verwaltungsmassenmordes“ in Deutschland zur Nazi-Zeit sehr überraschend und originell so auf den Punkt, mit Blick auf die Massenmörder und ihre vielen Helfershelfer: „Sie alle sind nicht von Natur aus Mörder und nicht aus Perversion Verräter. Sie fühlten sich, nachdem sie Gott nicht mehr fürchteten und ihr Gewissen ihnen durch den Funktionscharakter ihrer Handlungen abgenommen war, nur noch ihrer Familie verantwortlich. Die Verwandlung des Familienvaters aus einem an den öffentlichen Angelegenheiten interessierten, verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft in den Spießer, der nur an seiner privaten Existenz hängt und öffentliche Tugend nicht kennt, ist eine moderne internationale Erscheinung.“
Spießer als Charakter des modernen Massenmenschen
Wir erinnern uns an den Kommandanten von Auschwitz, den vorbildlichen Familienvater und Ehemann, dessen Villa in unmittelbarer Nähe zu den Gaskammern lag… Und mit fast unbarmherziger Schärfe bringt Hannah Arendt den Charakter des modernen Massenmenschen, des Spießers privater Bürgerlichkeit, auf den Punkt: „Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, so hält er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht aus Neigung, sondern beruflich getan hat. Aus Leidenschaft würde er nicht einer Fliege etwas zuleide tun.“
Gleich ob in den USA, in Deutschland, der Ukraine oder in Russland: Immer beginnt die Möglichkeit des Bösen, die geheime psychische oder physische Vernichtung des Menschen, im Herzen und im Denken eines Menschen, in der Ablehnung von Verantwortung für mehr als das private Leben, in der Verantwortung vor jemand, der vielleicht Gott heißt und der einst fragen wird: „Hast Du recht getan?“ Was werden wir dann antworten? Herben, aber nachhaltigen Trost spendet dann vielleicht der typisch amerikanische kurze Satz auf jeder Banknote: „In God we trust“! Auf wen sonst?
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Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
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