„Bürgergeld“ statt Hartz IV

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach am Freitag in Berlin davon, dass die Bürgergeldreform „definitiv“ zum 1. Januar 2023 in Kraft gesetzt werden solle. Das neue Bürgergeld der Ampelkoalition – ein bedingungsloses Grundeinkommen durch die Hintertür?
Bürgergeld statt Hartz-IV
Ist ein Bürgergeld überhaupt bezahlbar?Foto: iStock
Von 23. Juli 2022

Laut Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 soll die derzeitige Bundesregierung ein Bürgergeld einführen und will damit das bisherige Hartz-IV-System ablösen. Einige haben sich gefragt, ob damit ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) durch die Hintertür eingeführt wird? Dazu ist es erstmal erforderlich, die Unterschiede zwischen Bürgergeld und BGE zu erläutern.

Das Konzept des ursprünglichen, echten Bürgergelds

Das Bürgergeldmodell fußt ursprünglich auf Ideen des Ökonomie-Nobelpreisträgers Milton Friedman (Konzept der negativen Einkommensteuer) und wurde von Joachim Mitschke in Deutschland weiterentwickelt.

2005 hat die FDP ein erstes umsetzbares Bürgergeld-Konzept vorgelegt, welches in den Folgejahren weiterhin verfeinert, an die durch Hartz-IV gewonnenen Erfahrungen angepasst und 2019 vom Ifo-Institut bezüglich Anreizwirkung und Finanzierungsbedarf berechnet wurde.

Das Bürgergeld basiert auf einer vermögens- und einkommensabhängigen Bedürftigkeitsprüfung. Es ist an die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme gekoppelt und verwendet auch das Instrument der Sanktionen, wenn der erwerbsfähige Transferempfänger seinen Mitwirkungspflichten wiederholt nicht nachkommt.

Ziel ist die Bündelung aller steuerfinanzierten Sozialleistungen sowie eine zentralisierte Auszahlung beziehungsweise Verrechnung und damit eine deutliche Vereinfachung der Sozialbürokratie. Das Bürgergeld setzt vor allem auf die Anreize besserer Hinzuverdienstmöglichkeiten und damit auf eine geringere Transferentzugsrate.

Bedingungsloses Grundeinkommen: Kosten und Effekte

Demgegenüber gewährt ein BGE einen Transferanspruch ohne Prüfung des individuellen Bedarfs.

Verschiedene BGE-Modelle wurden in der Vergangenheit diskutiert: Neben Bündnis90/Die Grünen und der Partei Die Linke schlug auch die Katholische Arbeitnehmerbewegung der CDU ein BGE-Modell vor.

Das noch „günstige“ BGE-Modell des ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus, welches irreführenderweise „Solidarisches Bürgergeld“ benannt wurde, schlug einen Betrag von 800 Euro für jeden deutschen Staatsbürger und 500 Euro für jedes Kind vor.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berechnete im Jahresgutachten 2007/08 den Finanzbedarf dieses Modells: Es führt zu einer gigantischen Finanzierungslücke zwischen 227 und 246 Milliarden Euro jährlich!

Vor allem spaltet ein BGE die Gesellschaft in einen arbeitenden und einen alimentierten Teil. Es wirkt wie eine Herdprämie und beutet die arbeitende Bevölkerung aus.

Das Ergebnis des BGE-Pilotprojekts in Finnland ist ernüchternd: Der erhoffte stärkere Anreiz zur Arbeitssuche und -aufnahme hat sich nicht eingestellt. Auch andere positive Effekte, wie zum Beispiel vermehrte Selbstständigkeit, mehr soziales Engagement, mehr selbstbestimmtes Arbeiten, sind empirisch nicht belegt.

Das BGE wurde besonders stark diskutiert, als die Arbeitslosigkeit noch sehr hoch war und einige davon ausgingen, dass es sich bei dem Gesamtvolumen der Arbeit um einen „festen Kuchen“ handele, der durch technische Entwicklungen immer kleiner würde.

Zum Jahresende 2021 gab es in Deutschland 1,69 Millionen offene Stellen – von einer grassierenden Arbeitslosigkeit oder geringen Beschäftigungschancen kann keine Rede sein. Zudem verlassen die Babyboomer in den kommenden Jahren den Arbeitsmarkt, sodass ein hoher Arbeitskräftebedarf besteht.

Bürgergeld im Ampel-Koalitionsvertrag

Obwohl die Verhandlungen innerhalb der Koalition erst am Anfang stehen, lassen sich schon wichtige Änderungen erkennen.

Eine erste größere Änderung ist die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs im Sozialgesetzbuch (SGB) II: Die Vermittlung in Arbeit soll zukünftig keinen Vorrang mehr vor einer beruflichen Aus- und Weiterbildung haben.

Es wird auch weiterhin eine bedarfsorientierte Berechnung der Einkommen geben. Allerdings soll das Vermögen in den ersten beiden Jahren des Bezugs von Bürgergeld nicht angerechnet werden. Zudem soll das Schonvermögen erhöht werden.

Neu ist die Einführung einer sechsmonatigen Vertrauenszeit, deren Ausgestaltung zwischen den Ampel-Parteien noch geregelt werden muss. Es soll eine Teilhabevereinbarung mit den Transferempfängern an Stelle der bisherigen Eingliederungsvereinbarung geben. Beabsichtigt sind eine „Beratung auf Augenhöhe“ und das Entstehen einer „Vertrauensbeziehung“.

Weiterhin sind die Transferempfänger zur Mitwirkung verpflichtet, der Grundsatz des Fördern und Forderns bleibt erhalten. Begleitendes Coaching und eine aufnehmende Sozialarbeit werden Regelinstrumente des SGB II und SGB XII.

Vor allem sollen die Hinzuverdienstmöglichkeiten verbessert werden, das heißt die derzeitige hohe und für die Arbeitsaufnahme schädliche Anrechnung eines Hinzuverdienstes auf den ALG-II-Transfer oberhalb des Freibetrags von 100 Euro monatlich soll deutlich reduziert werden. Die daraus resultierende geringere Transferentzugsrate soll einen sukzessiven Ausstieg aus dem Transferbezug und einen Einstieg in ein geregeltes Arbeitsverhältnis erleichtern.

Zudem sollen die Schüler- und Studentenjobs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II sowie von Pflege- oder Heimkindern nicht mehr angerechnet werden. Für Auszubildende soll es höhere Freibeträge geben.

Die Erwerbsfähigkeit soll zukünftig standardisiert ausschließlich von der gesetzlichen Rentenversicherung festgestellt werden. Die personelle Ausstattung der Jobcenter soll verbessert werden. In der Vergangenheit war die Personalfluktuation in vielen Jobcentern zu hoch und einer qualitativ hohen Betreuung abträglich.

Wirkungen des bisherigen Hartz-IV-Systems

Das Hartz-IV-System ist 2005 vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosenzahlen von einer rot-grünen Bundesregierung eingeführt worden. Damals waren fünf Millionen Menschen registriert arbeitslos und rund zwei Millionen Menschen waren unterbeschäftigt. Als unterbeschäftigt werden auch die Personen erfasst, die nicht als arbeitslos im Sinne des SGB gelten, weil sie an einer Maßnahme der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder einen arbeitsmarktbedingten Sonderstatus besitzen.

Die Bezugsdauer der Versicherungsleistung ALG I wurde deutlich verringert mit der Ausnahme älterer Arbeitsloser ab dem 58. Lebensjahr. Nach dem Bezug des ALG I erhielten die Arbeitslosen nicht mehr die Arbeitslosenhilfe in Höhe von 53 Prozent des letzten Nettoverdienstes, sondern die auf der Basis des soziokulturellen Existenzminimums ermittelten Regelsätze plus die Kosten der Unterkunft, Heizkosten, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie Mittel für Bildung und Teilhabe für die in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Kinder.

Zusätzlich können noch Mehrbedarfe bewilligt werden, um individuelle Besonderheiten zu berücksichtigen. Für ein Paar mit zwei Kindern im Alter von 7 und 14 Jahren würden bei standardisierter Berechnung insgesamt 2.319 Euro monatlich gewährt. Die Frage nach der Wahrung des Lohnabstandsgebots darf hier bei niedrig entlohnten Tätigkeiten gestellt werden.

Die Arbeitsmarktforschung hat deutliche Beschäftigungseffekte ermittelt: Nach Berechnungen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg auf Basis der Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat Hartz-IV die strukturelle Arbeitslosigkeit um mehr als eine Million reduziert!

Auch ist die anfängliche Klagewelle, die größtenteils durch einige neue unbestimmte Rechtsbegriffe bedingt war, nach wenigen Jahren der Einführung von Hartz-IV abgeebbt. Vor allem sank die Zahl der Langzeitarbeitslosen von einem Höchstwert von 1,7 Millionen auf einen Bestwert von knapp 700.000 Ende 2019. Hartz-IV war ergo bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit sehr erfolgreich.

Differenzen zwischen den Koalitionspartnern

Obwohl die Gespräche und Verhandlungen zum neuen Bürgergeld noch am Anfang stehen und mit einem Ergebnis erst zum Jahresende zu rechnen ist, müssen einige Streitpunkte zwischen den drei Koalitionspartnern gelöst werden:

Die FDP will Sanktionen aufgrund von Meldeversäumnissen auch während der neuen sechsmonatigen Vertrauenszeit, die Grünen wollen keine Sanktionen. Die gemäß dem Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem November 2019 weiterhin möglichen Sanktionen in Höhe von 30-prozentigen-Regelsatzkürzung will die FDP nach Ablauf des derzeitigen Sanktionsmoratoriums wieder anwenden. Die Grünen sind dagegen.

Bis zum derzeitigen Sanktionsmoratorium wurden nur 3 Prozent der erwerbsfähigen Transferempfänger sanktioniert. Hier müssen die Koalitionäre einen Kompromiss finden. Offen und vor allem aufwendig ist die Ausgestaltung der besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten, bedingt durch die komplizierten Wechselwirkungen zwischen dem Steuersystem und den Sozialversicherungsabgaben.

Die positiven Effekte überwiegen

In jedem Fall sind bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten, eine bessere und intensivere Betreuung der Langzeitarbeitslosen sowie eine begrenzte Vereinfachung des bisherigen Hartz-IV-Systems zu erwarten.

Richtig gemacht kann das geplante neue Bürgergeld zu einer weiteren Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit, weniger Sozialbürokratie und zu einer steigenden Beteiligung im ersten Arbeitsmarkt führen.

Das neue Bürgergeld wird auf der Basis der Einkommensanrechnung weiterhin bedarfsorientiert ermittelt und ist somit kein BGE durch die Hintertür. Der geplante Wegfall der Vermögensanrechnung in den ersten beiden Jahren dürfte in der Praxis eher eine Vereinfachung darstellen und nur unwesentlich eine finanzielle Mehrbelastung verursachen.

Über den Autor:

Prof. Dr. Peter Altmiks lehrt Volkswirtschaftslehre sowie Sozialverwaltung und Sozialpolitik an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management Hannover.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 54, vom 23. Juli 2022.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion