Raphael Bonelli im Interview: „sich an richtigen Werten orientieren und nicht an falschen“

In seinem neuen Bestseller-Buch „Bauchgefühle“ erklärt der Wiener Neurowissenschaftler und Psychiater Dr. Raphael Bonelli, wieso wir unserem Bauch zuhören, aber nicht unbedingt immer folgen sollten.
Von 19. Dezember 2022

Unser Bauch ist ein ziemlicher kluger Kopf. Einem intuitiven Kompass gleich kann er rasch stimmige Entscheidungen treffen, soziale Bindungen eingehen oder uns vor Gefahren warnen. Man kann ihm also durchaus Gehör schenken, dem Bauchgefühl, solange man ihm nicht ungezügelten Lauf lässt.

„Der Bauch denkt nicht langfristig, er entwirft keine Lebensplanung. Er lebt im Hier und Jetzt“, sagt der Wiener Neurowissenschaftler und Psychiater Raphael Bonelli in seinem neuen Buch „Bauchgefühle“. Und nicht nur das. Denn sobald wir uns nur noch von unseren Bauchgefühlen leiten lassen, verändern sich nicht nur unsere Lebensweise sondern auch unser Sozialverhalten ins Negative – da der Bauch immer den Weg des geringsten Widerstandes gehen möchte. Lustmaximierungen wie Habgier, Seitensprünge oder Süchte wie Handy, Alkohol oder Drogen aber auch Unlustvermeidungen wie Hass, Zorn oder Diskriminierung sind Bauchgefühle.

Im Gespräch mit Epoch Times erklärt der 54-jährige Bestseller-Autor, wie Bauchgefühle unsere Gesellschaft in den letzten drei Jahren negativ beeinflusst haben. Er verrät, wie wir durch wiederholte Handlungen unser Herz prägen, über das Ego hinauswachsen und echte innere Freiheit erlangen können.

Epoch Times: Herr Dr. Bonelli, was sind Bauchgefühle? 

Raphael Bonelli: Bauchgefühle sind etwas Positives – wer sie leugnet und ignoriert, manövriert sich in eine Sackgasse. Unsere Bauchgefühle wahrzunehmen, ist wichtig. Sie sind die Summe unserer Emotionen, unserer Bedürfnisse, auch unserer Triebe. Nach Sigmund Freud ist das Prinzip des Bauches die Lustmaximierung und Unlustvermeidung: „Ich möchte den Kuchen essen, ich möchte Sex haben“ – Das ist Lustmaximierung. Unlustvermeidung ist: „Ich möchte keine Schmerzen haben. Ich möchte länger schlafen. Ich möchte mich nicht anstrengen müssen. Ich möchte keine Schuld zugeben.“ Angst ist auch eine Unlustvermeidung.

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ET: Es gibt noch eine weitere Instanz, der Kopf, der für die Vernunft steht. Wer ist der angenehmere Zeitgenosse: Der Bauch- oder der Kopfmensch?

Raphael Bonelli: Das Wort „Kopfmensch“ und „Bauchmensch“ bezeichnet nicht unbedingt genau das Kopf- und Bauch-Prinzip. Das Bauch-Prinzip ist dieses bodenständige Spüren, völlig in der Wirklichkeit sein und mit ihr in Resonanz gehen. Der Kopf ist die Vernunft, die zweite Instanz. Diese ist besonders wichtig, damit der Mensch frei ist. Durch den Kopf kann der Mensch seine eigenen Impulse und Bauchgefühle steuern und bremsen. Im Gegensatz zum Tier, das nur seinem Instinkt folgt, hat der Mensch die Freiheit und die Fähigkeit, dem Bauchgefühl nicht zu gehorchen.

Dann gibt es noch die dritte Instanz, das Herz – die Entscheidungsfreiheit des Menschen. So ist der Mensch aufgebaut. Er kommt als reines „Es“, also als reines Bauchgefühl auf die Welt. Erst später entwickelt sich langsam die Vernunft. Je mehr sich die Vernunft entwickelt, umso mehr schafft er es, nach den richtigen Werten zu handeln. Das ist Teil der Erziehung: Er tut das Gute und Richtige aus freien Stücken und ist nicht einfach nur konditioniert wie ein Tier. Man kann natürlich einen Hund trainieren, damit er den Hasen nicht beißt, wenn der Jäger ihn geschossen hat. Aber das ist Konditionierung, keine Freiheit. Der Mensch ist frei.

Die klassischen Kopfmenschen sind Menschen, die keinen Zugang zu ihrer Lustmaximierung haben, sprich, zu ihren Interessen und Lüsten. Sie sind getriggert von Ängsten. Damit sind sie in Wahrheit gar keine Kopfmenschen, sondern eine andere Art von Bauchmenschen. Reine Kopfmenschen gibt es natürlich auch. Was man aber klassischerweise unter Kopfmensch bezeichnet, sind im Alltag eher Angsthasen, die sich nicht trauen, ihre Lust zu maximieren und mal auf den Putz zu hauen. Sie denken „Was werden die anderen denken?“ Das ist aber keine Vernunft-Entscheidung.

ET: Das heißt Bauch und Kopf sollten in einem ausgewogenen Verhältnis sein?

Raphael Bonelli: Der ideale Mensch hat eine Harmonie zwischen Kopf, Herz und Bauch. Er handelt immer aus dem Herzen heraus. Das Herz hört den Bauch an: „Was nimmst du wahr?“ Der Bauch spürt die Dinge relativ gut. Er ist sensibel, interpretiert aber nicht gut, weil er nicht reflektieren kann. Das heißt: Erster Schritt – auf die Gefühle hören. Zweiter Schritt – die Vernunft anhören: „Ist es langfristig vernünftig oder nur eine kurzfristige Befriedigung, die mir langfristig Nachteile bringt?“ Anschließend muss noch geprüft werden: „Entspricht das meinen Werten? Möchte ich so ein Mensch sein?“ Werte sind besonders wichtig.

Es kann „nützlich“ sein, eine Bank auszurauben, entspricht aber hoffentlich nicht meinen Werten. Deswegen werde ich es unterlassen. Auch, wenn es vielleicht eine Methode geben sollte, wo niemand draufkommt.

ET: Inwiefern beeinflussen Gefühle unsere Gesellschaft negativ? Welche Beobachtungen haben Sie in den letzten Jahren diesbezüglich gemacht?

Raphael Bonelli: Wir haben uns von einer Bauch-Gesellschaft, die Lust maximiert hat, zu einer unlustvermeidenden Gesellschaft entwickelt. In den 68ern hat man gesagt: „Tu, was dein Bauch dir sagt.“ Es ging um sexuelle Selbstverwirklichung, sexuelle Befreiung, das war völlige Lustmaximierung.

Ich nehme sehr stark wahr, dass unsere Gesellschaft in den letzten drei Jahren völlig in die Unlustvermeidung gekippt ist. Zwei Prinzipien wurden deutlich: Die Angst einerseits, andererseits der Hass. Beide sind aversive Gefühle, Gefühle, die „Nein“ sagen. Gefühle, die „Ja“ sagen, sind beispielsweise die Gier und Sexualität.

Wir sind von A nach B gekippt. Beides ist eine Bauch-Gesellschaft und beides hat relativ wenig mit Werten zu tun, auch wenig mit Vernunft. Bei einem „Shitstorm“ oder der „Cancel-culture“ denken die Leute gar nicht mehr weit, sondern machen im Rudel einfach mit. Sie vernichten ihre Mitglieder, weil es jemandem nicht genehm ist. Man hat das auch nicht mehr völlig unter Kontrolle, da man nicht mitdenkt, sondern einfach mitzieht. Diese Gruppendynamik hatten wir leider schon immer, auch im Mittelalter. Jetzt stehen wir wieder hier. In den letzten drei Jahren sind wir eine aversive Gesellschaft geworden, denke ich.

ET: Sie sagen im Buch sinngemäß, dass wir Menschen uns von unserem Bauchgefühl oft leiten lassen, in der Annahme, dass wir uns dadurch frei fühlen. Was ist diese vermeintliche Freiheit und wie können wir echte innere Freiheit erlangen?

Raphael Bonelli: Bauchgefühle, die man exzessiv auslebt, bringen immer eine Unfreiheit. Wenn ich der Lustmaximierung folge, immer mehr Kuchen esse, immer mehr Sex habe, immer mehr nach meinen Launen lebe, komme ich damit nicht weiter, sondern lande letztendlich in der Sucht. Entweder laufe ich dem Geld nach oder verfalle einer Sexsucht. Es gibt auch Kaufsucht, den Alkohol, die Drogen …

Das alles ist eine exzessive und unvernünftige Lustmaximierung. Auf der anderen Seite stehen die Unlustvermeidung und Unlust. Vermeidung ist einerseits Angst oder Hass. Beides führt mich in die Unfreiheit. Es gibt Menschen, die hassen die ganze Welt. Sie sind immer dagegen und sagen zu Allem nur „Nein“. Besonders ausgeprägt ist es bei Angsthasen, bei Menschen, die aus einer Angst heraus handeln.

In unserer Gesellschaft haben wir nicht nur Angst vor Corona, sondern auch vor dem Klima, vor der Inflation, vor einem Krieg. Lauter Ängste, über die man vernünftig reden kann. Wenn der Mensch aber nur mehr von der Angst geprägt ist, wird er in seinem Handeln immer unfreier. Er macht dann unvernünftige Dinge.

Das konnten wir in den letzten drei Jahren beobachten. Menschen, die eigentlich denken könnten, tun es nicht. Sie sind von ihrer Angst getriggert und getrieben herumgelaufen und haben viel Schaden angerichtet. Wir sehen das auch in manchen schrecklichen Katastrophen, beispielsweise wenn in einem Fußballstadion Panik ausbricht. Ängstliche Menschen, Menschen in Panik können töten.

Angst kann also extrem gefährlich werden, wenn sich der Mensch in der Angst überhaupt nicht mehr im Griff hat, sondern exzessiv um sich schlägt. An meinen Patienten konnte ich das in den letzten drei Jahren häufig beobachten, ebenso wie in der Gesellschaft. Es war wirklich ein sehr gefährlicher Zustand, ein asozialer Zustand. Das kommt daher, weil die Menschen, besonders die, die immer an Solidarität appelliert haben, in Wirklichkeit ganz anders getriggert waren.

ET: Dem Thema Angst haben Sie ein ganzes Kapitel im Buch gewidmet. Darunter fällt z.B. auch der Perfektionismus oder sogar Burnout. Was haben die genau mit Angst zu tun?

Raphael Bonelli: Der Perfektionist hat Angst, einen Fehler zu machen. Natürlich sind Fehler nicht gut – aber der Perfektionist befürchtet, nicht mehr tadellos dastehen zu können. Er hat extreme Angst vor Tadel. Ich habe perfektionistische Patienten, die mitten in der Nacht aufschrecken, weil sie denken „Oje, ich habe in der Email ein Wort falsch geschrieben“. Sie starten dann den Computer, schauen nach, ob es falsch oder richtig geschrieben ist und schicken um 03:00 in der Früh eine Korrektur-Mail nach. Der Perfektionist ist niemand, der gut arbeitet, sondern einer, der aus lauter Panik und Angst gut dastehen will.

Solche Menschen kommen ins Burnout. Nicht weil sie fleißig sind und viel arbeiten, sondern weil sie aus den falschen Motiven arbeiten. Sie können ihre eigenen Grenzen nicht mehr spüren und schreiten über sie hinweg. Das tun sie, weil es ihnen um die Gratifikation von außen geht. Sie möchten gelobt werden, sie brauchen den Applaus und die Wertschätzung der anderen.

Wer arbeitet, nur um von anderen wertgeschätzt zu werden, ist schon gefährdet, ins Burnout zu schlittern. Es ist ein Hamsterrad, aus dem man nicht mehr rauskommt.

ET: Das ist demjenigen nicht bewusst, richtig?

Raphael Bonelli: Genau. Es ist eine Angst, die unbewusst ist. Betroffene würden sogar sagen, dass sie keine Angst haben. Da muss man erst einmal tiefer bohren, bevor man merkt „Wow, ich habe eigentlich eine panische Angst“. Sie können sie meist aber gar nicht wahrnehmen.

ET: Ein weiteres Kapitel handelt von der Aggression. Ist sie ein Ausdruck der Angst?

Raphael Bonelli: Aggression und Angst hängen eng miteinander zusammen. Beide sind aversive Emotionen, also Emotionen, die „Nein“ sagen. Wenn die Angst in die Ecke gedrängt wird, wird sie aggressiv. Viele aggressive Menschen sind im Grunde ängstliche Menschen. Aber nicht jede Aggression ist unbedingt Angst.

Wenn wir zurückgehen zur Corona-Zeit, da hat man gesehen, dass diejenigen, die exzessiv Angst vor diesem kleinen Virus hatten, ungemein aggressiv gegenüber Andersdenkenden geworden sind. Gegenüber Menschen, die sich nicht so verhalten haben, wie sie das gerne gehabt hätten. Man ging wirklich hinein in den Hass und in die Verachtung. Das hat sich sogar medial ausgetragen.

ET: Im Kapitel über Aggressionen geht es auch um das Streiten. Sie sagen: Streiten ist nicht gut. Wie kann man auf eine gesunde und produktive Art mit zwischenmenschlichen Konflikten – sei es in der Ehe oder in der Arbeit – umgehen?

Raphael Bonelli: Streiten ist „unnötig wie ein Kropf“. Das sagt man in Österreich so, ich finde das sehr lustig. Wie kann man anders umgehen? Die Regel ist ganz einfach: Streit ist eine Folge von aggressivem Bauchgefühl. Mann und Frau fühlen sich beide in die Ecke gedrängt und ungerecht behandelt. Aus diesem Gefühl heraus fühlen sie sich berechtigt, in den Angriff zu gehen. Vom anderen wird es natürlich auch als solcher wahrgenommen, nicht als Verteidigung. Es eskaliert dann eben, indem es sich gegenseitig aufbauscht.

Am besten geht man vor, indem man zuerst mal den Mund hält. Man nimmt wahr „Okay, mein Partner oder meine Partnerin tut gerade etwas, das mich stört, emotional irritiert oder aggressiv macht.“ Man kann wahrnehmen, aber aus der Situation rausgehen, damit es eben nicht zum Streit kommt. Streiten ist wirklich toxisch und gefährlich für die Beziehung.

Man schaut, dass man seine Emotionen runterfährt. Nach ein paar Tagen sollte man es aber ansprechen. Viele machen den Fehler, dass sie es im Moment zwar nicht ansprechen, aber später, wenn die Wut verflogen ist, auch nicht mehr. Sie denken dann, es sei egal. Ist es aber nicht! Wenn mein Partner von mir nicht hört, dass es mich stört oder verletzt, macht er es das nächste Mal genauso wieder. Wenn ich es einmal geschluckt habe und er wiederholt es, fühle ich mich noch provozierter. Obwohl es eigentlich gar keine Provokation ist. Er weiß es einfach nicht. Dann schlägt man umso aggressiver zurück.

Das Wichtigste am Nicht-Streiten ist, alles auszusprechen, aber respektvoll. Auf Augenhöhe und ohne Untergriffe, ohne Unterstellungen. Vor allen Dingen sollte man sich selbst relativieren. Solange man sich selbst nicht relativieren kann, kann man Vieles auch nicht aussprechen.

Das Wesen der Bauchgefühle ist eben, dass sie nicht differenzieren. Sie können nicht sagen „Ich fühle mich zwar jetzt im Recht, bin aber möglicherweise gar nicht im Recht“. Bauchgefühle fühlen sich immer zu 100 Prozent im Recht. Sie schattieren nicht. Es gibt für sie kein grau, nur schwarz und weiß – „Ich bin gut und du bist schlecht. Du bist im Unrecht, ich bin im Recht.“ Wenn man seine Bauchgefühle nicht gut reflektieren kann, kommt es sehr leicht zum Streit.

Man liebt seinen Partner, aber dieser macht gerade etwas, das einen ärgert. Dann geht man so vor: „Aha, da ist jetzt eine Emotion des Ärgers. Ich lasse sie mal runter kochen und schaue später an, was die Substanz ist.“ So schafft man es, jahrelang nicht zu streiten.

ET: Das heißt, man sollte schon über seine Gefühle miteinander sprechen, aber auf eine respektvolle Art?

Raphael Bonelli: Ja, aber vor allem relativieren. Man kann zum Beispiel sagen: „Gestern hast du dies und jenes gesagt, das hat mich wahnsinnig gestört und ich weiß nicht warum. Heute weiß ich, meine Gefühle waren zu Unrecht da. Trotzdem will ich es dir sagen, nur damit du weißt, dass mich das triggert. Es war von dir zwar nicht falsch, hat nun mal mit mir zu tun.“

ET: Wie kann man weg von diesem Ego, weg von dem Ich und hin zum Du? Wie kann man die Selbsttranszendenz, die Sie im Buch beschreiben, im Alltag anwenden und auf Dauer umsetzen? [In der modernen Psychologie nennt man die Ausrichtung auf die drei Transzendentalien Platons – das Wahre, das Schöne, das Gute – die „Selbsttranszendenz“.]

Raphael Bonelli: Diese Frage wurde mir noch nie gestellt rund um dieses Buch, obwohl das eigentlich das Wichtigste ist. Die Bauchgefühle sind sehr bodenständig, haben aber keinen großen Horizont. Den großen Horizont muss ich mir durch das Herz erarbeiten. Die Fähigkeit, sich selbst zu prägen, ist die Fähigkeit, nach dem Herzen zu leben.

Im Herzen befinden sich die Werte. Werte sind beständig. „Heute Vanille, morgen Erdbeereis und übermorgen Diät“ sind nicht beständig. Werte sind etwas, das dem Leben einen Sinn gibt und wofür die Menschen leben. Werte, wie das Wahre, das Gute und das Schöne sind beständig. Ich kann mich an ihnen orientieren und meine Emotionen langsam nach ihnen ausrichten. Wie mache ich das? Ganz einfach, indem ich Handlungen setze. Ich kann meine Emotionen im Moment nicht ändern, aber ich kann Handlungen setzen, die die Emotionen ändern.

Ein theoretisches Beispiel: Wenn mich meine Frau ärgert und ich diese Emotion nicht auslebe, sondern es nachher kultiviert mit ihr ausspreche, habe ich danach weniger von dieser Emotion übrig. Wenn sich die Situation wiederholt, bin ich ruhiger. Je häufiger ich unterlasse, nach dieser Emotion zu handeln, obwohl das Bauchgefühl das will, umso mehr beruhigt sich der Bauch.

Das können wir jetzt bei allem durchdeklinieren, zum Beispiel bei Wahrheit sagen. Der Bauch neigt dazu, zu lügen, weil er Unlust vermeiden will. Es gibt ja nur Notlügen. Sie entstehen, wenn man in Not ist. Wenn es ernst wird und man etwas zugeben muss, was man eigentlich nicht zugeben möchte, lügt man.

Wenn ich dann entscheide „Lügen entspricht nicht meinen Werten“, werde ich mich überwinden und die Wahrheit sagen, obwohl es für mich Nachteile bringt. Das fällt mir am Anfang sehr, sehr schwer. Die Wahrheit sagen, ist für die Erziehung wahnsinnig wichtig. Je häufiger das Kind oder der Erwachsene die Wahrheit spricht, umso leichter fällt es ihm, die Wahrheit zu sagen. Bis es sozusagen von selber geht.

Diese Leichtigkeit im Tun des Guten nennt Aristoteles die Tugend. Das ist der Weg, den Aristoteles vorgezeichnet hat: Der glückliche Weg ist die Leichtigkeit im Tun des Guten. Mit meinen Worten: weil das Herz den ganzen Menschen geprägt hat. Deswegen kann man seine Emotionen ändern, man kann seine Interessen ändern. Um beim Beispiel Lügen zu bleiben: Am Ende hat der Mensch Lust, die Wahrheit zu sagen und Unlust, zu lügen. Er hat also wirklich die Emotionen, entsprechend seinen Werten, umgedreht.

Aus diesem Grund ist es so ungemein wichtig, sich an richtigen Werten zu orientieren und nicht an falschen. Es gibt Menschen, die entweder gar keine Werte im Herzen haben, wie Kommunisten oder Nationalsozialisten … oder falsche Werte, wie zum Beispiel ein Mafioso, der sagt „Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sind wichtig.“ Dann macht er aber andere schlimme Sachen. Das bringt nichts.

Wir müssen uns immer am Wahren, Guten und Schönen orientieren. Und wenn etwas nicht wahr oder gut oder schön ist, dann hat es auf mein Leben irgendwann bestimmte Folgen. Deswegen müssen wir ein Leben lang nach dem Wahren, Guten und Schönen suchen.

Man hat es nie ganz hundertprozentig erreicht, würde ich sagen. Keiner hat die Weisheit mit Löffeln gefressen. Je mehr man aber offen dafür ist, lernfähig bleibt und der Wahrheit näherkommen möchte, umso mehr ist es ein wertvoller Mensch. Denn er lebt aus dem Herzen heraus und prägt sich selbst hin zum Guten, Wahren und Schönen.

Man kann seine Emotionen nicht kontrollieren, einschalten und ausschalten wie eine Maschine. Aber man kann mit der Zeit dieses riesige Schiff der Emotionen steuern und einen neuen Kurs einschlagen lassen. Das geht, dauert aber lang. Deswegen sage ich lieber „prägen“ und nicht „kontrollieren“. Viele meiner Kollegen reden von Selbstkontrolle. Ich rede von Selbstprägung, weil es einfach ein langsamer Prozess ist, in dem man sehr viel Geduld braucht – mit sich selber und mit seinen Emotionen. Aber es funktioniert.

ET: Vielen herzlichen Dank, Dr. Bonelli.

 

Der Autor: Raphael M. Bonelli, geboren 1968, ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Er arbeitet als Psychiater in eigener Praxis. 2009 gründete er das Institut für Ressourcen in Psychiatrie und Psychotherapie. Bonelli ist Autor mehrerer Bücher über psychologische Themen und betreibt mit seinem Institut einen YouTube-Kanal mit über 230.000 Abonnenten.

 


Buch: „Bauchgefühle“ von Raphael M. Bonelli, edition a, 240 Seiten, 24 Euro



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