Geheime Friedensdokumente von 2022 – ein Schlüssel zum Frieden in der Ukraine?
Im Frühjahr 2022 scheiterten Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland, die in Belarus und der Türkei stattfanden. Nun, drei Jahre später, könnten die geplatzten Entwürfe für einen Friedensvertrag wieder relevant werden und eine neue Chance bieten. Eine Analyse.
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Der russische Präsident Wladimir Putin trifft den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Sotschi, Russland. Erdoğan hat mehrfach zwischen den Konfliktparteien des Ukraine-Krieges vermittelt.
Am Wochenende schlug der russische Präsident der Regierung in Kiew vor, die 2022 abgebrochenen Friedensgespräche wieder aufzunehmen – und das „ohne Vorbedingungen“.
„Wir schlagen vor, ohne Verzögerung bereits am kommenden Donnerstag, 15. Mai, in Istanbul zu beginnen, wo sie früher stattfanden und unterbrochen wurden“, sagte Wladimir Putin am Sonntag, 11. Mai. Damit spielte er auf die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine vom Frühjahr 2022 in der Türkei an.
Putin reagierte damit auf die Forderung von Wolodymyr Selenskyj zusammen mit Friedrich Merz, Emmanuel Macron, Keir Starmer und Donald Tusk nach einer 30-tägigen Waffenruhe.
Daraufhin forderte US-Präsident Donald Trump den ukrainischen Präsidenten auf, „sofort“ dem Treffen mit Russland zuzustimmen. Zumindest könnte die Ukraine herausfinden, „ob ein Deal möglich“ sei.
„Ich werde am Donnerstag in der Türkei auf Putin warten“, kündigte der ukrainische Präsident später an. Er schloss dabei aus, sich mit anderen Vertretern Russlands als Putin zu treffen. Bis Mittwoch, 14. Mai, war noch offen, wer von russischer Seite erscheinen und ob möglicherweise sogar Trump am Donnerstag in der Türkei aufkreuzen wird.
Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 gab es mehrere diplomatische Versuche, den Ukraine-Krieg zu beenden. Sowohl in Belarus als auch in der Türkei fanden Gespräche statt, um eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden. Die Verhandlungen in Istanbul kamen einem Friedensabkommen am nächsten.
Die Entwürfe der Friedensverträge wurden damals letztlich nicht von der Ukraine angenommen. Putin hat sich jedoch seither mehrfach auf die in Istanbul erzielten Ergebnisse berufen, die aus russischer Sicht als Grundlage für neue Gespräche gelten könnten.
Doch was genau stand in diesen Entwürfen? Dieser Frage gehen wir nun nach.
Die geheimen Dokumente der Verhandlungen
Bei den Gesprächen Ende März 2022 in Istanbul waren hochrangige Vertreter beider Seiten anwesend. Auf ukrainischer Seite gehörten unter anderem Dawyd Arachamija, Fraktionsvorsitzender von Selenskyjs Partei Diener des Volkes, und Mykhailo Podoljak, Berater des Präsidenten, zur Delegation. Die russische Delegation wurde von Wladimir Medinski, einem Berater des russischen Präsidenten, geleitet. Weder Putin noch Selenskyj nahmen persönlich an den Gesprächen teil.
Im März und April 2022 wurden mehrere Entwürfe für ein Friedensabkommen erstellt. Weder der Kreml noch die ukrainische Führung veröffentlichten diese jedoch offiziell.
Allerdings berichteten das „Wall Street Journal“ im März 2024 und die „New York Times“ (NYT) im Juni 2024, dass sie mehrere Versionen der Abkommen erhalten hätten. Die NYT schrieb, dass die Dokumente von „ukrainischen, russischen und europäischen Quellen“ bereitgestellt und von Teilnehmern der Gespräche sowie anderen nahestehenden Personen als authentisch bestätigt wurden.
Die Inhalte der Dokumente umfassen Vertragsentwürfe vom 17. März und 15. April 2022, die die konkurrierenden Vorschläge und Übereinstimmungen beider Parteien zeigen, sowie ein privates „Kommuniqué“ der persönlichen Gespräche in Istanbul vom 29. März, das ein Abkommen zusammenfasst.
Keine der Parteien hat die von den US-Medien veröffentlichten Dokumente offiziell bestätigt oder bestritten. Putin präsentierte jedoch im Juni 2023 während eines Treffens mit afrikanischen Staatschefs in Sankt Petersburg einen Entwurf des Abkommens vom April 2022. Seine Aussagen über den Inhalt stimmen mit den von der NYT veröffentlichten Dokumenten überein.
Der Chefunterhändler der Ukraine, Mykhailo Podoljak (M.), in Istanbul am 29. März 2022.
Foto: Yasin Akgul/AFP via Getty Images
Was stand im geplanten Friedensabkommen?
Die veröffentlichten Dokumente enthielten mehrere zentrale Punkte, die laut den Anmerkungen der Parteien zum großen Teil bereits unstrittig waren.
Die Ukraine würde auf Bestrebungen einer NATO-Mitgliedschaft verzichten und sich zur Neutralität verpflichten. Das bedeutet: Sie dürfte keinem militärischen Bündnis beitreten, keine militärischen Abkommen schließen und keine ausländischen Truppen, Ausbilder oder Waffensysteme auf ihrem Staatsgebiet stationieren.
Als Garantiemächte des Abkommens und der Sicherheit der Ukraine waren Russland, die USA, das Vereinigte Königreich, China und Frankreich vorgesehen. Es wurden auch die Türkei, Belarus, Israel, Italien, Polen und Deutschland in Betracht gezogen. Die Ukraine widersprach allerdings einer Einbindung von Belarus.
Die Garantiemächte würden sich verpflichten, sämtliche internationalen Verträge und Abkommen zu kündigen, die mit dem neutralen Status der Ukraine unvereinbar sind – darunter auch Vereinbarungen über militärische Hilfe. Diese wiederum würden ihrerseits bekräftigen, dass sie eine Mitgliedschaft der Ukraine in europäischen Institutionen unterstützen wollen.
Internationale Militärübungen dürfte die Ukraine nur mit Zustimmung der Garantiemächte durchführen. In Bezug auf Nuklear- und Biowaffen würden für die Ukraine strikte Verbote hinsichtlich Stationierung, Nutzung, Herstellung und Ähnliches gelten.
Ferner enthielten die Entwürfe die Bestimmung, dass die Ukraine und die anderen Vertragsstaaten einander nicht als Gegner betrachten. Die Garantiemächte sowie alle weiteren Vertragspartner würden sich verpflichten, sich weder direkt noch indirekt in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen.
Bezüglich einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Ukraine sowie ihrer Teilnahme an Friedensmissionen der UN, der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) oder der EU zeigten sich beide Kriegsparteien laut den Entwürfen offen. Außerdem wurde eine generelle Verpflichtung zur friedlichen Beilegung aktueller und zukünftiger Konflikte festgeschrieben.
„Kommuniqué“ der persönlichen Gespräche in Istanbul vom 29. März, das die vorgeschlagene Vereinbarung zusammenfasst.
Die einzelnen Entwürfe zeigen, dass in mehreren Punkten Uneinigkeit zwischen den Parteien herrschte und weitere Präzisierungen erforderlich gewesen wären. Dies betraf insbesondere die zukünftigen Grenzen der Ukraine – vor allem die Halbinsel Krim, die strategisch bedeutende Stadt Sewastopol auf der Halbinsel sowie die Donbass-Region, die aus den Gebieten Donezk und Luhansk besteht.
Russland zeigte sich in den Verhandlungen grundsätzlich bereit, sich aus Teilen der Ukraine zurückzuziehen – jedoch nicht von der Krim und jenen Gebieten im Donbass, die laut Entwurf nicht unter die vorgesehenen Sicherheitsgarantien fallen sollten.
Es ist anzumerken, dass zum Zeitpunkt der Verhandlungen Russland die Regionen Cherson und Saporischschja sowie den Donbass bisher nicht offiziell als eigenes Staatsgebiet beanspruchte. Diese Gebiete wurden erst im Herbst 2022 nach international umstrittenen Referenden von Russland annektiert.
Im Vertragsentwurf vom März 2022 äußerten ukrainische Vertreter den Wunsch, diese Fragen vor der Unterzeichnung des Abkommens zu klären. Im „Istanbuler Kommuniqué“, das während der Gespräche Ende März 2022 die Hauptpunkte der Einigung zusammenfasste, wurde vorgesehen, diese territorialen Streitigkeiten innerhalb von 10 bis 15 Jahren nach Vertragsabschluss durch bilaterale Verhandlungen zu lösen.
Weitere Streitpunkte bei den Verhandlungen betrafen zum einen die Garantiefragen und zum anderen die militärische Stärke der Ukraine. Im Gegensatz zum Budapester Memorandum von 1994 sollten weitreichende Beistandsgarantien vereinbart werden. Westliche Staaten hatten Kiew damals nämlich nur ihren Beistand in Aussicht gestellt, jedoch nicht garantiert.
Die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sollten dabei entweder gemeinsam oder einzeln für die Umsetzung dieser Garantie verantwortlich sein. Die Beistandsverpflichtung sollte innerhalb von drei Tagen nach einem Angriff aktiv werden. Russland verlangte jedoch im Entwurf vom 15. April, dass im Falle eines Angriffs alle Garantiestaaten ihre Zustimmung zur Aktivierung des Beistandsmechanismus geben müssten. Dies hätte Moskau das Recht eingeräumt, den Beistand durch sein Veto zu blockieren.
Umstritten waren auch die Vorgaben im Anhang 1, die die Stärke der ukrainischen Armee betrafen. Russland wollte diese auf 85.000 Soldaten reduzieren – die Ukraine bot 250.000 an. Anfang 2025 verfügte die ukrainische Armee über rund 880.000 aktive Soldaten.
Überdies enthielten die Dokumente konkrete Vorschläge für die Anzahl der Fahrzeuge und Waffen der ukrainischen Armee und deren Reichweite. Dabei gehen die Zahlen beider Seiten deutlich auseinander. Moskau wollte der Ukraine 342 Panzer, 1.029 Panzerfahrzeuge, 96 Mehrfachraketenwerfer, 50 Kampfflugzeuge und 52 Hilfsflugzeuge zugestehen. Kiew habe auf 800 Panzer, 2.400 Panzerfahrzeuge, 600 Mehrfachraketenwerfer, 74 Kampfflugzeuge und 86 Hilfsflugzeuge beharrt.
Weitere kritische Themen
Laut den Dokumenten lehnten es angeblich die ukrainischen Verhandlungspartner im letzten Vertragsentwurf vom 15. April 2022 ab, über mehrere kritische Punkte Stellung zu nehmen. Nach dem Treffen in Istanbul legte nämlich Moskau diese Punkte erst nachträglich als zusätzliche Bedingungen vor. Kiew berief sich auf das „Istanbuler Kommuniqué“, und wollte nur die dort bereits angeführten und besprochenen Themen gelten lassen.
Zu den abgelehnten neuen Punkten gehörten unter anderem die Wünsche Russlands zur Aufhebung von Sanktionen, die Einstellung bereits laufenden internationalen Gerichtsverfahren, die Anerkennung der russischen Sprache als zweite Amtssprache in der Ukraine sowie die Aufhebung von Verboten der russischen Sprache.
Eine weitere russische Forderung war, dass die Ukraine jegliche Propaganda und Organisationen verbietet, die auf Ideologien basieren, die dem Faschismus, Nationalsozialismus, Neonazismus und aggressiven Nationalismus nahestehen.
Ferner lehnte Moskau in dem Entwurf vom März 2022 die Darstellung Russlands als „Aggressor-Staat“ sowie eine Bezugnahme auf „international anerkannte Grenzen“ als inakzeptabel ab. Auch die Erwähnung des Budapester Memorandums von 1994 im Vertragsentwurf wurde von russischer Seite abgelehnt, da es nach ihrer Auffassung durch wiederholte Vertragsverletzungen der anderen Unterzeichnerstaaten seine Gültigkeit verloren habe.
Warum scheiterten die Verhandlungen?
Warum die Verhandlungen letztlich scheiterten, ist bis heute unklar. Eine verbreitete These geht auf eine Aussage im Jahr 2023 von Arachamija, dem Parteikollegen von Selenskyj und Teil der ukrainischen Delegation in Istanbul, zurück. Demnach hätte der damalige britische Premierminister Boris Johnson am 9. April bei einem Besuch in Kiew interveniert. Er soll damals gesagt haben, dass die Ukrainer nichts unterschreiben und einfach weiterkämpfen sollen. Arachamija erwähnte allerdings weitere unüberbrückbare Hindernisse. Und zwar, dass die Ukraine die Verfassung in Bezug auf NATO-Mitgliedschaft hätte ändern müssen und es „kein Vertrauen“ gegenüber Moskau gegeben habe.
Johnson hat die Behauptungen in Bezug auf seinen Einfluss auf den Friedensprozess zurückgewiesen. Er bezeichnete diese als „völligen Unsinn“ und „russische Propaganda“. Seiner Erklärung nach habe er in einem Gespräch mit Selenskyj nach den Friedensgesprächen in Istanbul lediglich seine „Bedenken“ hinsichtlich der möglichen Vereinbarung geäußert.
Der ehemalige Berater des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Arestowytsch, erklärte in einem Interview mit der britischen Nachrichten-Website „UnHerd“ Anfang 2024, dass nach dem Bekanntwerden des Massakers von Butscha Selenskyj sich entschied, von den laufenden Friedensverhandlungen Abstand zu nehmen. Arestowytsch betonte, dass die Enthüllung der Gräueltaten einen Wendepunkt darstellte, nach dem eine Fortsetzung der Gespräche mit Russland für die ukrainische Führung nicht mehr tragbar erschien.
Die russische Regierung hat die Vorwürfe bezüglich des Massakers von Butscha zurückgewiesen. Außenminister Sergej Lawrow bezeichnete die Berichte als inszenierte Provokation und behauptete, dass die Aufnahmen und Berichte über getötete Zivilisten gefälscht seien. Putin selbst hat öfter betont, dass die Ukraine Butscha benötigte, um ihre Ablehnung der Vereinbarungen mit Russland zu rechtfertigen, obwohl die Parteien zuvor bei den Verhandlungen zu für „beide Seiten vorteilhaften Lösungen“ gelangt seien.
Mária S. Szentmagyari ist eine ungarische Juristin mit deutschen Wurzeln und lebt im Grünen unweit von Budapest. Mit Leidenschaft und großem Interesse an geopolitischen Zusammenhängen berichtet sie für die Epoch Times über die aktuellen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa, der Ukraine, Russland und dem Nahen Osten. Die Kommentare unter ihren Artikeln liest sie mit besonderer Neugier.