Prominente SPD-Politiker fordern eine sofortige Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. In einem als „Manifest“ bezeichneten Grundsatzpapier der SPD-Friedenskreise stellen sie sich gegen die Linie der Bundesregierung sowie den Kurs der eigenen Parteiführung.
Die Verfasser drängen unter anderem auf Gespräche mit Russland nach einem Waffenstillstand und einen Stopp der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen. Zudem erklären sie das geplante 3,5- oder 5-Prozent-Ziel der NATO für „irrational“.
Im Papier heißt es: „Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen NATO und Russland.“
Innerhalb der SPD gibt es Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern einer strikteren Aufrüstung und SPD-Friedenskreisen wie dem Erhard-Eppler-Kreis. Auch während der Friedensbewegung der 1980er-Jahre wandten sich Teile der SPD gegen die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden und forderten eine Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion.
Kerninhalte: Diplomatie statt Aufrüstung
Aktuell üben die Verfasser Kritik beispielsweise an der geplanten massiven Aufstockung der Verteidigungsausgaben. Sie schreiben: „Für eine auf Jahre festgelegte Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 oder fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt es keine sicherheitspolitische Begründung. Wir halten es für irrational, eine am BIP orientierte Prozentzahl der Ausgaben für militärische Zwecke festzulegen.“
Die SPD-Politiker listen mehrere
konkrete Maßnahmen auf, um eine Rückkehr zu einer „stabilen Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa“ zu erreichen:
- Schnelle Beendigung des Ukraine-Krieges über diplomatische Anstrengungen
- Aufbau einer „eigenständigen Verteidigungsfähigkeit“ der europäischen Staaten unabhängig von den USA
- Stopp eines Rüstungswettlaufs
- Defensive Ausstattung der Streitkräfte
- Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland
- Atomwaffensperrvertrag: Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung erneuern
- Neue Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung und -kontrolle sowie vertrauensbildende Maßnahmen zur Abrüstung in Europa
- Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen mit Russland
- Berücksichtigung der Bedürfnisse des Globalen Südens
- Bekämpfung der gemeinsamen Bedrohung durch Klimaveränderungen
- Keine Beteiligung Deutschlands und der EU an einer militärischen Eskalation in Südostasien
Unterzeichner
Unterschrieben ist das Papier von Dutzenden Sozialdemokraten; dazu gehören der frühere Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, Außenpolitiker Ralf Stegner, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans sowie der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel.
Stegner, einer der federführenden Autoren des Textes, sagte, Ziel sei auch, die parteiinterne Debatte neu zu justieren.
„Die SPD muss Teil der Friedensbewegung bleiben. Im Moment wird ungehemmt über den nächsten Landkrieg und über die Wehrpflicht gesprochen. Gegen diese Form der Militarisierung müssen wir uns als Sozialdemokraten wehren“, sagte er dem „stern“, der zuerst darüber berichtete.
AfD: „Ein spätes, aber wichtiges Signal“
Zustimmung erhalten die Initiatoren des SPD-„Manifests“ von der AfD. „Wenn nun selbst prominente SPD-Politiker eine Kurskorrektur fordern, dann ist das ein spätes, aber wichtiges Signal“, sagte der außenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Markus Frohnmaier, am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP in Berlin.
Die Initiatoren hätten erkannt, dass der „Konfrontationskurs mit Russland in die Sackgasse“ führe, sagte Frohnmaier. „Wenn Teile der SPD dies nun auch verstanden haben, ist das ein Schritt in die richtige Richtung – nämlich auf den außenpolitischen Kurs der AfD zu.“ Nötig sei langfristig die Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen.
Unterstützung der Jusos
Die Jusos unterstützen das umstrittene Manifest, in dem prominente Sozialdemokraten „riesige Aufrüstungsprogramme“ kritisieren und direkte Gespräche mit Russland fordern. „Hätten wir 2024 tatsächlich 3,5 Prozent des BIP ausschließlich für traditionelle Verteidigung aufgewendet, wären das über 150 Milliarden Euro gewesen. Das sind von der Realität weitestgehend entkoppelte Mondzahlen“, sagte Juso-Chef Philipp Türmer dem „stern“.
„Es ist gut, dass wir jetzt diese Debatten führen, denn sie entfalten neben der inhaltlichen Ebene auch eine psychologische Wirkung.“ Etwa, indem sie das sicherheitspolitische Zusammenrücken mit internationalen Partnern begünstigten. „Das ist wichtig angesichts der russischen Bedrohungslage.“ Aber dann sollte man auch stärker über die konkreten Punkte der Zusammenarbeit sprechen und nicht allein um BIP-Zahlen streiten.
Grüne kritisieren „Wunschdenken“ der SPD-Initiatoren
Mit scharfer Kritik reagierten derweil die Grünen auf die Forderung nach einem Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Aufruf zu einem Ende der Aufrüstung und einer Annäherung an Russland sei „leider Wunschdenken“.
Hinter dem als „Manifest“ veröffentlichten Forderungskatalog stünden „vor allem die üblichen Verdächtigen“, die „bei der Postenvergabe in der SPD leer ausgegangen“ seien, sagte Vizefraktionschefin Agnieszka Brugger am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP.
Die Grünen-Abgeordnete forderte die Partei- und Fraktionsführung der SPD zu einer klaren Distanzierung auf. „Es stellt sich schon die Frage, warum Vizekanzler Klingbeil und Fraktionsvorsitzender Miersch die Attacken aus den eigenen Reihen auf den Kurs der Bundesregierung und den Verteidigungsminister in einer so ernsten Lage einfach laufen lassen“, so Brugger weiter.
SPD-Fraktionschef distanziert sich von SPD-„Manifest“
SPD-Fraktionschef Matthias Miersch distanzierte sich von dem SPD-„Manifest“. Die Debatte sei „legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile“, sagte er dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“. „Wir erleben eine reale Bedrohungslage, auf die wir mit klarer politischer Haltung und massiven Investitionen in unsere Verteidigungsfähigkeit reagieren.“
Die SPD-Fraktion stehe hinter diesem Kurs und habe für die Änderung der Verfassung gestimmt, um höhere Verteidigungsausgaben möglich zu machen. Miersch sagte, er sehe kein Zerwürfnis. „Da braut sich gar nichts zusammen.“ Es dürfe keinen Zweifel daran geben, dass Deutschland die Ukraine „mit allem uns Möglichem“ unterstütze, so der SPD-Fraktionschef.
Die SPD steht Ende Juni vor einem Bundesparteitag. Fast zeitgleich findet der NATO-Gipfel statt, auf dem sich Deutschland dazu verpflichten will, die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen.
Michael Roth (SPD): Manifest ist „kein Debattenbeitrag, das ist Geschichtsklitterung“
Auch der ehemalige SPD-Außenpolitiker Michael Roth kritisierte das von SPD-Politikern und -Mitgliedern unterschriebene Manifest für mehr Diplomatie und gegen die Aufrüstungspläne der Bundesregierung unterdessen scharf.
„Das sogenannte Manifest ist kein Debattenbeitrag, das ist Geschichtsklitterung. Die Autoren bedienen die Erzählung, dass Russland nicht der alleinige Aggressor in diesem Krieg sei und der politische Westen die Hand zum Dialog mit Putin nicht ausreichend ausgestreckt habe“, sagte Roth dem Sender ntv und erinnerte an die Bemühungen der USA und der Bundesregierung um Waffenstillstandsverhandlungen in den vergangenen Wochen. „Es macht mich fassungslos, dass das Manifest all diese Bemühungen und auch die diplomatischen Anstrengungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik komplett ausblendet.“
Roth zeigte insbesondere für die Unterstützung des sogenannten Manifests durch Ex-SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich keinerlei Verständnis. „Mich verwundert, dass der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende einer von der eigenen Partei getragenen Regierung und dem eigenen Verteidigungsminister – dem beliebtesten Politiker des Landes – derartig ein Bein zu stellen versucht“, sagte Roth.
„Derselbe Fraktionsvorsitzende übrigens, der mir immer wieder vorgeworfen hatte, die Solidarität der Partei mit mir massiv überzustrapazieren. Dass einer der vor Kurzem noch mächtigsten Politiker Deutschlands diesen Beitrag als bloße Meinungsfreiheit deklariert, finde ich zudem verantwortungslos.“ Roth war zur vergangenen Bundestagswahl nicht mehr angetreten, auch weil er sich mit Teilen der SPD im Streit um die Unterstützung der Ukraine überworfen hatte.
Roth attestierte den Autoren des Manifests eine „selbstgefällige und sehr arrogante Abwendung von der NATO-Beistandsverpflichtung“. Dennoch müsse die SPD-Parteiführung die Debatte führen. „Wir können solche Positionen wie in dem Manifest nicht tot- oder verschweigen. Wir müssen ihnen mit Argumenten begegnen“, sagte Roth.
„Deswegen hoffe ich, dass das Willy-Brandt-Haus dieses Rumoren aufgreift, statt die Diskussion herunterzukochen.“ In einer Partei, in der die Mehrheit der Mitglieder deutlich über 60 Jahre alt sei, stoße solch ein Manifest überwiegend älterer Politiker auf große Resonanz. (dts/afp/red)