Könnte Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft 2024 entzogen werden?

Der Druck der EU auf Ungarn steigt. Eine Fünf-Parteien-Entschließung im Europäischen Parlament ruft dazu auf, den ungarischen Ratsvorsitz zu verhindern.
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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán am 25. März 2022 bei einem Treffen im Rahmen des EU-Gipfels in der EU-Zentrale in Brüssel.Foto: JOHN THYS/AFP via Getty Images
Von 1. Juni 2023

Das Europäische Parlament wird diese Woche über eine Resolution abstimmen, die Ungarns Fähigkeit infrage stellt, glaubwürdig die rotierende EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2024 zu übernehmen. Europa-Staatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sagte am 30. Mai vor einem Treffen mit ihren EU-Kollegen in Brüssel, Ungarn sei „momentan in der EU isoliert wegen Problemen bei der Rechtsstaatlichkeit, die wirklich gravierend sind“.

Lührmann zufolge lasse Ungarn mangelnde Unterstützung für die Ukraine im russischen Angriffskrieg erkennen. „Deshalb habe ich Zweifel daran, inwieweit es Ungarn gelingen kann, eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft zu führen“, betonte sie.

Es sei jedoch nicht Aufgabe des Europäischen Parlaments, über diese Frage zu urteilen, und es sollte auch nicht das Recht haben, dies zu tun, entgegnet die Regierung Ungarns.

Bei der Tagung am 30. Mai befragten die Minister der EU-Mitgliedsstaaten erneut die ungarische Justizministerin Judit Varga zum Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Es war die sechste Anhörung, seit das Europäische Parlament im September 2018 das sogenannte Verfahren gemäß Artikel 7 eingeleitet hat. Dem Land wurden deswegen seither Milliarden von Euro vorenthalten. Die Meinungen zu diesem Verfahren sind nach wie vor sehr geteilt.

„Ungarische EU-Ratspräsidentschaft könnte in die Katastrophe führen“

Ungarn wird in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 den rotierenden Vorsitz im Ministerrat innehaben. Diese Entscheidung wurde schon vor langer Zeit getroffen.

Jetzt möchte die liberale Mehrheit der EU einen Rückzieher machen. Die offizielle Begründung lautet, dass „die ungarische Regierung systematisch gegen die Grundwerte der EU verstößt und nicht mit Brüssel kooperiert“, berichtet „euronews“.

Die ungarische Präsidentschaft wäre mit einem besonderen Timing verbunden. Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten Jahr würde die nächste Europäische Kommission im Herbst eingesetzt werden. In dieser Zeit würden die designierten Kommissare angehört werden. Der ganze entscheidende Prozess würde während des ungarischen Ratsvorsitzes stattfinden.

Thijs Reuten, ein niederländisches Mitglied der sozialdemokratischen Parteifamilie, ergänzte die Argumente gegen Orbáns Regierung. Ihm zufolge würden die Ungarn „der Außenpolitik der EU sehr schaden“, vor allem im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Der Effekt wäre seiner Meinung nach noch stärker ausgeprägt, wenn Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen würde.

Damit spielt Reuten auf Orbáns Friedenspolitik an. Die Kritik dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass Ungarn der Ukraine gegenüber kritisch eingestellt ist. Zu den Gründen zählt die Unterdrückung von Minderheiten in der Ukraine; die größte ungarische Bank wurde kürzlich in der Ukraine auf eine schwarze Liste gesetzt und die Absicht Selenskyjs, russische Pipelines zu sprengen, die Öl nach Ungarn liefern.

Gwendoline Delbos-Corfield, Berichterstatterin des Europäischen Parlaments für Ungarn, bestätigte, dass der Entwurf, der aufgrund der Sorgen um Ungarns Präsidentschaft ausgearbeitet wurde, von fünf großen Fraktionen des Europäischen Parlaments stammt: der Europäischen Volkspartei, den Sozialdemokraten, den Grünen, den Liberalen und den Linken.

Was hat Ungarn zu verlieren?

Für Ungarn geht um die Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union. Hier geht es also um den Rat, der eines der Gesetzgebungsorgane der EU ist. Er setzt sich aus verschiedenen Räten zusammen, in die jede Regierung ihren für eine bestimmte Politik zuständigen Minister delegiert.

Die amtierende Ratsvorsitzende spielt eine wichtige Rolle bei der Festlegung der Tagesordnung für die Ratssitzungen. Die Sitzungen werden in der Regel immer vom Minister des amtierenden Ratsvorsitzenden geleitet. Er ist auch für die Verbindung zu den anderen EU-Gremien zuständig.

In der Regel spiegeln die Strategien nationale Prioritäten wider. Die EU bietet dafür auch eine Gelegenheit. Ungarns Justizministerin Judit Varga erklärte, dass eine der Hauptprioritäten des ungarischen Ratsvorsitzes die Überwachung der Rechtsstaatlichkeit und der rechtsstaatlichen Grundsätze in der Arbeit der EU-Institutionen sein wird.

Judit Varga, Justizministerin von Ungarn. Foto: MTI Ungarisches Presse- und Informationsamt

Laut Varga „ist das etwas, wovor das Europäische Parlament wirklich Angst haben kann: Wir wollen das System der Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Institutionen stärken. Die Rechtsstaatlichkeitsklauseln der Verträge gelten auch für die EU und ihre Institutionen“, schreibt die Ministerin auf ihrer Facebook-Seite.

Darüber hinaus zielt die Strategie der ungarischen Regierung darauf ab, den Frieden in der Ukraine und die Erweiterung der EU auf dem Balkan zu fördern. Nach den Worten der Justizministerin hat die ungarische EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2011 noch heute Auswirkungen und wird in der EU als Erfolg gewertet. Dazu erklärte sie noch, dass „Ungarn in der Lage ist, den Ratsvorsitz 2024 organisatorisch und professionell zu führen“, berichtet „euronews“.

Könnte das Szenario realistisch sein?

Die Position der ungarischen Regierung ist: Das Europäische Parlament hat nicht das Recht, sich in die Frage des rotierenden Ratsvorsitzes einzumischen.

Wenn das Europäische Parlament für den Entschließungsentwurf stimmt, „hat das keine rechtliche Bedeutung“, sagt Ákos Bence Gát, Leiter der Abteilung Kommunikation und Außenbeziehungen des Donau-Instituts und Forscher an der Nationalen Universität für den öffentlichen Dienst Ungarns, in einer vom ungarischen Portal „Index“ veröffentlichten Analyse.

Vielmehr handle es sich Gát zufolge um die politische Meinung des Europäischen Parlaments. Tatsächlich handelt es sich nur um eine Stellungnahme, die nicht bindend sei, weder für die Mitgliedstaaten noch für die anderen Mitglieder des institutionellen Systems – einschließlich der Europäischen Kommission und des Rates der Europäischen Union.

Norbert Tóth, ein internationaler Jurist, sagte in einer anderen ungarischen Analyse der „Infostart“, dass das Europäische Parlament zwar nicht in der Lage sei, die Entscheidung zu beeinflussen, dass es aber im Prinzip immer noch Änderungen geben könne.

Ihm zufolge könnte der Europäische Rat die Reihenfolge der Ratspräsidentschaften mit qualifizierter Mehrheit ändern. In dem Fall würde der Ministerrat die Durchführungsbestimmungen erlassen. Das sei jedoch nicht realistisch, da für dieses Verfahren nur ein Monat zur Verfügung stehen würde. Die andere Lösung, so der Experte, wäre ein „Rote-Karte-Schritt“ im Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 gegen Ungarn. Dazu wäre ein einstimmiges Votum im Europäischen Rat erforderlich, doch auch hierzu sieht der Jurist keine realistische Chance.



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