Ukraine: Selenskyj warnt Belarus vor neuem Maidan – Atlantiker befürchten Europa-Müdigkeit in Kyjiw

Im Interview mit der „Wiener Zeitung“ mahnt der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, seinen Amtskollegen Alexander Lukaschenko vor einem Maidan in Belarus, komme es zu keinem Dialog mit der Opposition. Unterdessen verändert sich das politische Klima in Kyjiw.
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Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, hatte 2019 die Wahl mit seinen "Dienern des Volkes"gewonnen.Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa
Von 15. September 2020

Am gestrigen Dienstag (14.9.) besuchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Einladung von Bundespräsident Alexander van der Bellen erstmals Österreich. Dabei traf er unter anderem mit Bundeskanzler Sebastian Kurz und Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka zusammen, zudem gab es ein österreichisch-ukrainisches Roundtable-Gespräch.

In einem Vorab-Interview mit dem Osteuropa-Redakteur der „Wiener Zeitung“, Gerhard Lechner, nahm Selenskyj zur Situation in der Ukraine und im benachbarten Weißrussland (Belarus) Stellung.

Selenskyj: „Keine Führungsfigur der Opposition in Belarus in Sicht“

Auf die Frage, ob die derzeitigen Massendemonstrationen gegen das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko mit der Orangenen Revolution von 2004 oder dem Maidan von 2013/14 verglichen werden könne, erklärte Selenskyj:

„Das weiß ich nicht. Aber ich unterstütze das weißrussische Volk auf jeden Fall. Die Menschen kämpfen für die Freiheit und für Demokratie, und zwar ohne Aggression und Gewalt. Niemand wirft Steine, niemand setzt Gebäude in Brand. Viele Demonstranten werden von der Staatsmacht brutal behandelt. Mir ist wichtig, dass es kein Blutbad gibt.“

Allerdings läge es nun in der Verantwortung des Staates, mit den Demonstranten einen Dialog zu führen. Andernfalls könne die Lage tatsächlich in einer Weise eskalieren, die in eine Entwicklung wie auf dem Maidan münden könnte.

„Was ich freilich noch nicht sehe – aber ich bin kein Belarus-Experte -, ist eine symbolträchtige Führungsfigur, um die sich die Menschen scharen können“, erläutert Selenskyj weiter. „Wichtig ist in jedem Fall, dass die Weißrussen selbst über ihre Zukunft entscheiden. Kein Land darf sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen.“

Ukraine hält an Zielen im Donbass fest

Ob die Lage in Belarus auch die Vermittlungsgespräche zwischen Kyjiw und Moskau beeinträchtigen werde, bei denen Weißrussland als Gastgeber und Vermittler stets eine bedeutende Rolle gespielt hatte, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen, meint der ukrainische Präsident. Unabhängig davon, dass Lukaschenko in den vergangenen Wochen einen erheblichen Ruck in Richtung Kreml vollzogen habe, könne man Einschätzungen erst treffen, sobald sich die Situation beruhigt habe.

„Die Minsker Verhandlungen haben wir auch während der Corona-Krise fortgesetzt, im Online-Format“, betont Selenskyj. „Und auch die trilaterale Kontaktgruppe trifft sich online, was gut ist. Mit dem weißrussischen Volk haben wir jedenfalls immer freundschaftliche Beziehungen gepflegt. Und das Volk wird es in jedem Fall länger geben als die Politiker an der Spitze des Staates.“

Selenskyj sieht sich auf einem guten Weg, wenn es darum geht, seine Wahlversprechen zu erfüllen: den Krieg im Donbass zu beenden und die volle Souveränität über die Territorien zurückzubekommen, in denen die ukrainische Staatsmacht die Kontrolle an von Russland unterstützte Separatisten verloren hatte.

Viele Donbass-Bewohner „im Herzen ukrainisch“

„Das sind keine romantischen Versprechungen. Einfach ist das natürlich nicht“, erklärt der Präsident. „Aber wir haben schon einiges erreicht. Wir haben 140 Menschen aus der Gefangenschaft zurückbekommen. Wir haben Truppenentflechtungen durchgesetzt. Es gibt dort jetzt keine Schießereien mehr, kaum jemand kommt ums Leben. Bis auf einen Todesfall gibt es seit sieben Wochen keine Verluste. Das sehen alle, das sieht auch Europa. Es gibt zwar manchmal Beschüsse von Seiten der Separatisten. Aber wir antworten nicht darauf, und das ist gut so.“

Den Konflikt einfrieren zu lassen, wäre zwar der einfachere Weg, aber nicht der besser. Die drei Millionen Ukrainer in den betroffenen Gebieten, von denen viele „im Herzen ukrainisch“ seien, litten unter den Zuständen unter der Besatzung.

Es gebe eine humanitäre Katastrophe, viele seien an Corona erkrankt, die Bergleute erhielten keine menschenwürdigen Löhne, Wasser und Strom seien teuer – gleichzeitig spreche sich herum, dass es den Ukrainern auf der anderen Seite besser gehe.

Umfragen sehen Ende der Euphorie für Selenskyj

„Wenn die Geduld der Menschen dort irgendwann aufgebraucht sein wird, kann es auch zu Aufständen kommen“, schildert Selenskyj. Die Regierung in Kyjiw werde darauf aber nicht spekulieren oder gar versuchen, diese anzustacheln. Man wolle nicht, dass Menschen sterben. Man werde aber sein Möglichstes tun, um das Schicksal ukrainischer Patrioten in den betroffenen Gebieten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen:

„Diese Menschen haben es nicht leicht, viele verschwinden in Gefängnissen, weil sie etwa Feiertage wie den Unabhängigkeitstag der Ukraine begehen. Unsere Soldaten, die wir befreit haben, haben erzählt, dass sie gemeinsam mit proukrainischen Bürgern im Gefängnis saßen. Es gibt viele Menschen dort, die proukrainisch denken.“

Bei den bevorstehenden Kommunalwahlen im Oktober ist jüngsten Umfragen zufolge damit zu rechnen, dass die Selenskyj-Partei „Diener des Volkes“ deutliche Verluste erleiden wird. Die Euphorie des Vorjahres ist verflogen, dennoch hält eine relative Mehrheit der Bürger dem Präsidenten die Treue.

Mit leichten Gewinnen auf Kosten des „Dieners des Volkes“ können demnach Parteien aller politischen Lager rechnen: von den russlandfreundlichen Kräften des „Oppositionsblocks“ über neue proeuropäische Kräfte bis hin zu den Nationalisten von der „Radikalen Partei“ oder „Swoboda“. Allerdings habe es sich Selenskyjs Partei auch selbst die eigene Ausgangsposition nicht erleichtert.

„Diener des Volkes“ zieht unbekannte Kandidaten Langzeit-Bürgermeistern vor

„Die meisten Bürgermeister haben uns kontaktiert und haben uns gebeten, als Kandidaten von ‚Diener des Volkes‘ aufgestellt zu werden. Wir haben das abgelehnt. Viele dieser Bürgermeister waren zehn bis 20 Jahre an der Macht. Und was haben sie getan? Parks und Brunnen angelegt, statt Probleme zu lösen. Viele haben auch die Corona-Maßnahmen des Staates wie etwa die Maskenpflicht sabotiert und Massenveranstaltungen zugelassen, weil das Popularität bringt. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, dass wir lieber unsere Kandidaten vorschlagen, auch wenn sie nicht so bekannt sind.“

Um der Krise gegenzusteuern, setzt Selenskyj auf Kreditprogramme für Unternehmen und Landwirte. Es sei gelungen, die extrem hohen Raten von einst 20 bis 25 Prozent auf fünf bis neun Prozent zu drücken. Deshalb seien bislang Kredite im Gegenwert von sechs Milliarden Hrywnja (= fast 180 Millionen Euro) in Anspruch genommen worden.

Der „Atlantic Council“ diagnostiziert hingegen in der Ukraine ein politisches Klima, das sich von der euro-atlantischen Integration wegbewege. Ein Beispiel dafür sei die Bildungspolitik, heißt es in einer Analyse auf dessen Portal. Dass im März 2020 im Schatten der Corona-Krise das Reformkabinett des Premier Oleksij Hontscharuk entlassen wurde, habe dem Land geschadet, meint man dort.

Atlantic Council: „Reformen im Schulsystem in Gefahr“

Nachfolger Denys Schmyhal habe fast fünf Milliarden Hrywnja, was 65 Prozent des veranschlagten Etats entsprach, vom Bildungsressort in den Anti-COVID-Fonds der Regierung umgeleitet, ohne den Verlust zu ersetzen. Dies habe dazu geführt, dass es nicht möglich gewesen sei, alle Schüler in der Lockdown-Phase mit Endgeräten für das Homeschooling auszustatten. Zudem habe die Regierung Anstrengungen unternommen, wieder mehr direkte Kontrolle über das Schulsystem zu erlangen, was ebenfalls Vorgaben europäischer und internationaler Institutionen zuwiderlaufe.

Diese Entwicklung erinnere an jene von 2010, als der Kreml-treue Wiktor Janukowytsch ins Amt gekommen und Reformen im Bildungswesen rückgängig gemacht habe. Lehrer, die ohnehin den Umgestaltungen nach dem Maidan skeptisch gegenübergestanden wären, könnten, so befürchtet das Portal, durch die Entwicklung weiter demoralisiert werden.



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