In Kürze:
- Friedrich Merz besucht die Türkei – Gespräche mit Präsident Erdoğan über EU-Beziehungen, Migration und Verteidigung
- Ankara betont Entschlossenheit zur EU-Vollmitgliedschaft, Merz bietet strategischen Dialog an
- Gaza-Krieg sorgt für Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Regierungschefs
- Besuch fällt auf den Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von 1961
Am Donnerstag, 30.10., ist der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz zu einem zweitägigen Besuch in der Türkei eingetroffen. Nach seiner Ankunft hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Kanzler in Ankara mit militärischen Ehren empfangen. Erster Termin war eine gemeinsame Kranzniederlegung am Anıtkabir, dem Mausoleum von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.
Der Besuch findet einen Tag nach der Feierlichkeit zum Gründungstag der Republik im Jahr 1923 statt. Zudem hat das Datum 30.10. für das deutsch-türkische Verhältnis eine besondere Bedeutung: An diesem Tag des Jahres 1961 unterzeichneten beide Länder das deutsch-türkische Anwerbeabkommen. Dieses war der offizielle Beginn der türkischen Arbeitsmigration nach Deutschland – nachdem in den 1950er Jahren bereits große deutsche Unternehmen über sogenannte Übersetzungsbüros türkische Arbeitskräfte angeworben hatten.
Wadephul hatte Ankara bereits vor zwei Wochen besucht
Bereits vor zwei Wochen hatte Bundesaußenminister Johann Wadephul bei seinem Besuch in der Türkei den Beitrag türkischer Einwanderer zum Wohlstand in Deutschland gewürdigt. Zudem hat er sich für Fortschritte in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU starkgemacht.
In diesem Kontext hatte der Minister ein Update der Zollunion und eine Visaliberalisierung für türkische Staatsangehörige in Aussicht gestellt. Beides fordert die Regierung in Ankara im Rahmen des Flüchtlingsdeals vom März 2016 ein. Wadephul sprach sogar von einer möglichen Wiederbelebung der Beitrittsgespräche. Als Grundlage dafür
nannte er Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und gute Nachbarschaft.
Ganz so weit ging Friedrich Merz am Donnerstag nicht. Er sprach nicht von einer Wiederbelebung der bereits seit Jahren stockenden Beitrittsgespräche. Allerdings zeigte er sich an einer Vertiefung der Partnerschaft interessiert. Im Rahmen eines gemeinsamen Pressetermins
erklärte Merz:
„Ich sehe persönlich und die Bundesregierung sieht die Türkei eng an der Seite der Europäischen Union.“
Die deutsche Bundesregierung wolle Ankara den „Weg nach Europa weiter ebnen“. Vor allem wolle er sich auch für einen entsprechenden strategischen Dialog auf europäischer Ebene einsetzen, so Merz. Man habe auch über die Kopenhagener Kriterien gesprochen, die dafür eine Voraussetzung seien, erklärte der Kanzler weiter.
Merz an Türkei als Rüstungspartner interessiert
Schon jetzt habe man entschieden, den strategischen Dialog der Außenminister wieder aufzunehmen. Außerdem wolle man das seit einigen Jahren ausgesetzte Wirtschaftstreffen Jetco zeitnah wiederbeleben. Zudem strebe man schon in absehbarer Zeit ein fünftes Treffen der Verteidigungsindustrie an.
Die Türkei hat auf internationaler Ebene vor allem im Bereich der Drohnenindustrie breites Interesse hervorgerufen. Unter anderem hat die
Aufklärungs- und Kampfdrohne Bayraktar Akıncı in der Fachwelt für Aufsehen gesorgt. In den bewaffneten Konflikten der vergangenen Jahre hat das Gerät vor allem die Kampfkraft der Armeen Aserbaidschans und der Ukraine in erheblichem Maße gesteigert.
Erdoğan selbst hatte zuvor erklärt, die Türkei zeige große Entschlossenheit, die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft zu erfüllen. Würde die EU dies würdigen, könne man „in sehr kurzer Zeit erhebliche Fortschritte erzielen“.
Erdoğan betonte Kopenhagener Kriterien – Menschenrechtslage bleibt schwierig
Die Kopenhagener Kriterien, die von EU-Beitrittskandidaten zu erfüllen seien, umfassen die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. In der Türkei ist diesbezüglich zwar eine leichte Entspannung an einer Front eingetreten: Die terroristische PKK hatte im März nach mehr als 40 Jahren des bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat eine einseitige Waffenruhe verkündet.
In anderen Bereichen hält die Kritik jedoch an. So hatte die Staatsanwaltschaft seit Beginn des Jahres gegen
mehrere Politiker der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) Haftbefehle erwirkt. Der prominenteste Fall ist dabei jener von Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlus. Er war im März wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet und abgesetzt worden. Seitdem sitzt er ohne Anklage in Untersuchungshaft. İmamoğlus Festnahme hatte die größte Protestwelle in der Türkei seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 ausgelöst.
So brachen beim Thema Rechtsstaatlichkeit die Differenzen zwischen Merz und Erdoğan auf. In seinen Gesprächen mit Erdoğan habe der Kanzler Besorgnis über die Unabhängigkeit der Rechtssprechung geäußert, sagte Merz nur kurz. Nach Einschätzungen von Menschenrechtlern hat der Druck auf unabhängige Medien, kritische Stimmen und Oppositionsparteien in der Türkei in den zurückliegenden Monaten einen neuen Höhepunkt erreicht.
Erdoğan ging auf eine Journalistenfrage hin deutlich ausführlicher auf die Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu ein und verteidigte das Vorgehen der Justiz: „Egal welches Amt man innehat, sobald jemand die Justiz mit Füßen tritt, müssen die Justizorgane in einem Rechtsstaat eben das tun, was notwendig ist.“
Misstöne zwischen Erdoğan und Merz gab es in der gemeinsamen Pressekonferenz auch im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg. Während Erdoğan erneut das Narrativ vom „Völkermord“ Israels im Küstenstreifen bemühte, betonte Merz die deutsche Solidarität mit dem jüdischen Staat.
Deutschland hofft auf diplomatischen Einfluss der Türkei
Merz äußerte, Israel habe in Gaza legitimerweise von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch gemacht. Hätte die Hamas früher die Waffen niedergelegt und die Geiseln freigelassen, wäre der Krieg sofort zu Ende gewesen. Erdoğan meinte daraufhin, er könne Merz „leider nicht zustimmen“. Die terroristische Hamas, die der türkische Präsident zuvor mehrfach als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet hatte, besitze weder Atomwaffen noch Bomben.
Israel verfüge jedoch über diese Waffen und habe Gaza trotz eines Waffenstillstands erneut bombardiert. Merz trug an Erdoğan anschließend den Wunsch heran, die Türkei solle ihre diplomatischen Möglichkeiten nutzen. Dies könne sie etwa tun, „indem sie die Hamas dazu veranlasst, nun auch in die zweite Phase dieses Abkommens einzutreten“. Ankara hatte zuletzt in Anspruch genommen, eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der Waffenruhe in Gaza gespielt zu haben. Beobachter wie Analyst David Ignatius von der „Washington Post“
bezweifelten dies und sprachen von einer „symbolischen Präsenz“ am Verhandlungstisch.
Mit Material von Nachrichtenagenturen