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plus-iconGrößte Kernschmelze der Geschichte

Ist die deutsche Angst vor Atomkraft berechtigt? Wie es zu Tschernobyl kam

Die Abschaltung der Kernenergie wird nicht nur in Deutschland mit Sicherheitsbedenken begründet. Dazu geführt hat auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 39 Jahren. Doch was geschah damals genau? Ein Blick auf den Ablauf des tragischen Unglücks.

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Die Überreste des 1986 havarierten Reaktors des Kernkraftwerks Tschernobyl werden inzwischen von einem Sarkophag aus Stahlbeton vor Wind und Wetter geschützt.

Foto: Uncredited/Maxar Technologies via AP/dpa

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Lesedauer: 14 Min.

Deutschland ist vor knapp zwei Jahren aus der Kernkraft ausgestiegen. Der Hauptgrund waren Sicherheitsbedenken dieser Technologie. Es war die Angst vor einem Super-GAU, vor einer Kernschmelze mit unkontrollierbarer, großflächiger, radioaktiver Verseuchung als Folge.
Es war die Angst vor einem Ereignis wie im Jahr 1986, als sich am Kernkraftwerk (KKW) im ukrainischen Tschernobyl der bisher tödlichste Reaktorunfall der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie ereignete. Zahlreiche Menschen starben. In Deutschland bezeichneten mehrere Politiker die Kernenergie deswegen oftmals als eine „Hochrisikotechnologie“.

RBMK-1000-Reaktor

Was aber viele nicht wissen: Der Reaktorunfall in Tschernobyl geschah nicht aus heiterem Himmel. Im Gegensatz zu den letzten deutschen und anderen modernen KKW weisen die Reaktoren des Kraftwerks in Tschernobyl gleich mehrere Nachteile auf, die für die Katastrophe mitverantwortlich waren.
Das KKW in Tschernobyl verwendete damals zur Energiegewinnung vier RBMK-1000-Reaktoren. Das sind in der UdSSR entwickelte, sogenannte graphitmoderierte Druckröhren-Siedewasserreaktoren. Laut dem Portal „Kerntechnik Deutschland“ besaßen diese keine druckfeste und gasdichte Hülle, die das Reaktorgebäude umschloss. Die meisten anderen Reaktorkonzepte und praktisch alle neuen Anlagen haben solch eine schützende Hülle.
Hinzu kamen erhebliche Defizite bei den Sicherheitseinrichtungen und Notkühlsystemen. Diese Schwachstellen waren lange vor dem Unglück bekannt und wurden nicht beseitigt. Ähnliche bauliche Sicherheitslücken trugen im Jahr 2011 im japanischen Fukushima zur Reaktorkatastrophe. Auch hier waren die Mängel zuvor bekannt.
Die Kernschmelze in Tschernobyl ereignete sich zudem nicht im Normalbetrieb, sondern während eines Testszenarios. Die Betreiber wollten herausfinden, ob die Schwungmasse der Turbine ausreicht, um im Falle eines Stromausfalls noch lang genug und ausreichend Strom liefern kann, bis die Notstromaggregate stabil laufen. Doch schon kurz nach Testbeginn kam es zu zwei Explosionen mit Materialauswurf.

Vor 39 Jahren explodierte das Kernkraftwerk in Tschernobyl.

Foto: epa/tass/Archiv/dpa

Mehrere Unfallursachen

Die Katastrophe geschah in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986. Der bereits erwähnte Test sollte in Block 4 stattfinden. Ein Jahr zuvor führten die Betreiber in Block 3 bereits einen gleichen Test durch. Dabei fiel aber die Spannung am Generator zu schnell ab, weshalb der Test mit einem leistungsfähigeren Spannungsregler wiederholt werden sollte.
Der erste große Fehler war, den Test durchzuführen, während der Reaktor in Betrieb war. Damit wollten die Betreiber sicherstellen, dass sie den Test im Falle eines Scheiterns sofort noch einmal durchführen können. Dieses Vorgehen war jedoch ein Verstoß gegen die Betriebsvorschriften.
Dennoch hätte diese Prozedur allein nicht zum Super-GAU geführt. Zum Unglück führten auch ungünstige physikalische sowie sicherheitstechnische Bedingungen der Anlage sowie Bedienungsfehler. Hinzu kam auch, dass durch eine Verzögerung des Tests, dieser in die nächste Schicht mit anderem Personal fiel. Das neue Personal war aber offenbar nicht in den Test eingewiesen.

Der Ablauf der Katastrophe

Freitag, 25. April 1986, 01:00 Uhr:

Im Rahmen einer geplanten Wartung – und für den Test – fahren die Anlagenbetreiber die Leistung des Reaktors von Block 4 systematisch herunter. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Kraftwerk mit 100 Prozent, also 3.200 Megawatt an thermischer Leistung (MWt), voll ausgelastet. Die elektrische Bruttoleistung von Reaktor 4 lag bei 1.000 Megawatt (MW).

13:05 Uhr:

Die Kraftwerksleistung erreicht rund 50 Prozent. Zudem schalten die Betreiber eine von zwei dem Reaktor 4 zugeordneten Turbinen ab.

14:00 Uhr:

Die Betreiber isolieren planmäßig das Notkühlsystem. Das Versorgungsunternehmen der rund 130 Kilometer entfernten Hauptstadt Kiew forderte unterdessen den Weiterbetrieb von Reaktor 4 aufgrund höheren Stromverbrauchs im Netz. Bis zum späten Abend bleibt die Leistung bei 50 Prozent, ohne weiter abzusinken.
Derweil geschieht der zweite Fehler: Das Anlagenpersonal vergisst, die Notkühlsysteme wieder zu aktivieren.

23:10 Uhr:

Der Stromverbrauch sinkt, sodass die Kraftwerksleistung weiter gedrosselt werden kann. Die Betreiber wollen sie auf bis zu 25 Prozent, also rund 800 MWt, absenken.

Samstag, 26. April 1986, 00:28 Uhr:

Während der Leistungsreduzierung kam es zu einer Störung im Regelsystem oder einer Fehlhandlung. Das führt dazu, dass die Reaktorleistung auf nur noch 30 MWt und damit auf unter 1 Prozent der Kraftwerksleistung fällt. Normalerweise darf der Leistungsbetrieb niemals unter 20 Prozent fallen. Die Betreiber hätten den Test an dieser Stelle sofort abbrechen und den Reaktor abschalten müssen.
Auf chemischer Ebene bildete sich durch den Leistungsabfall im Reaktor unverhältnismäßig viel Xenon – auch Xenon-Senke genannt. In der Kerntechnik gilt folgende Regel: Einen Xenon-vergifteten Reaktor darf man niemals direkt wieder hochfahren, denn er ist hochgradig instabil.
Diese elementare Regel ignorierten die Betreiber und machten damit den nächsten Fehler: Sie entschieden sich dazu, die Leistung wieder anzuheben, um den Test durchzuführen. Womöglich, um angesetzte Erwartungen erfüllen und Ergebnisse präsentieren zu können.
So fuhren sie die Regelstäbe aus – mehr als für den sicheren Betrieb zulässig – und erhöhten die thermische Reaktorleistung auf rund 7 Prozent. Das ist immer noch deutlich unter der erforderlichen thermischen Mindestleistung.

00:43 Uhr:

Noch rund 40 Minuten bis Testbeginn. Die Betreiber machen ein wichtiges Signal unwirksam. Dieses hätte den Reaktor unter den gegebenen Bedingungen bei Testbeginn automatisch abgeschaltet. So sollte sichergestellt werden, den Test bei misslungenem Erstversuch sofort wiederholen zu können.

01:00 Uhr:

Die thermische Reaktorleistung ist zu diesem Zeitpunkt auf rund 7 Prozent stabilisiert.

01:03 Uhr:

Planmäßig schaltet der Operateur jedem Kühlkreislauf die vier zugehörigen Pumpen zu. Damit fahren die Betreiber die Regelstäbe weiter aus, um die Leistung zu stabilisieren. Das führt dazu, dass der Druck sowie der Wasserspiegel im Reaktor enorm schwanken. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Anlage in einem äußerst kritischen Zustand.
Der Reaktor hatte mehr als 200 Regelstäbe. Fast alle wurden herausgefahren. Das war ein klarer Verstoß gegen die geltenden Vorschriften.

01:19 Uhr:

Als Nächstes führt der Operateur dem Reaktor mehr Wasser zu. Ebenso setzt er Warnsignale zum Stand von Wasserspiegel und Druck außer Kraft, die zu einer Notausschaltung der Anlage geführt hätten. Das war laut Betriebsanleitung nicht verboten.

01:22 Uhr:

Dem Operateur gelingt es, die Wasserzufuhr auf zwei Drittel des erforderlichen Wertes zu erhöhen und zu stabilisieren. Allerdings ist die Regelung äußerst schwierig, weil das System für solch ein Vorgehen nicht konzipiert wurde.

01:23:00 Uhr – Der Test beginnt:

Der Schichtleiter Alexander Akimow will den Test an dieser Stelle nicht starten. Doch dazu kommt es nicht. Anatolij Djatlow, stellvertretender Chefingenieur des Kraftwerks, gibt die Anweisung, den Testlauf zu starten.
Somit beginnt der eigentliche Test. Die Turbinenschnellschlussventile schließen sich. Der Druck in der Anlage steigt. Daraufhin fährt eine Gruppe der automatischen Regelstäbe aus. Das Wasser erhitzt sich, was zu einer positiven Reaktivitätszufuhr führt. Der Operateur versucht dies durch Einfahren mehrerer Regelstäbe wieder zu kompensieren.
Allerdings enthalten die Regelstäbe am unteren Ende einen Bereich aus Graphit. Dadurch können sie die Leistung in diesem Bereich nicht reduzieren. Das Einfahren der Stäbe verdrängt somit erst das Wasser, wodurch sich die Leistung zunächst weiter erhöht, bis die Steuerstäbe tief genug eingefahren sind.

01:23:30 Uhr – Test gerät außer Kontrolle:

Rund 30 Sekunden nach Testbeginn nimmt die Reaktorleistung weiter zu. Die Leistungssteigerung scheint nun außer Kontrolle, das Regelsystem hat darauf keinen Einfluss mehr. Nach weiteren 6 Sekunden befiehlt der Schichtleiter, den Reaktor abzuschalten. Sofort wird der Notschalter betätigt.

01:23:36 Uhr – Super-GAU:

Kurz darauf ertönen Alarmmeldungen: Die thermische Leistung des Reaktors schnellt extrem in die Höhe. Wenige Sekunden später eskaliert die Energieabgabe für einen kurzen Moment auf rund 300.000 MWt (oder 300 Gigawatt thermischer Leistung) – dem 300-fachen der Nennleistung von Reaktor 4.
Tschernobyl

Zeitlicher Verlauf der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anhand der thermischen Leistung von Block 4 (schematischer Ablauf).

Foto: mf/Epoch Times

Später berichteten Augenzeugen, die sich in diesem Moment außerhalb der Anlage befanden, von zwei Explosionen mit Materialauswurf. Dabei wurden die Materialien Jod, Cäsium, Strontium und Plutonium von dem Reaktor in die Atmosphäre geschleudert. Ebenso flogen die Graphitblöcke und weitere Brennstoffpartikel aus dem Reaktorkern. Der Zeitabstand der Explosionen habe bei 2 bis 3 Sekunden gelegen. Aus dem stark beschädigten Gebäude entwichen größere Mengen radioaktiver Materialien.
Mangels Erfahrung mit solch einem Unglück gelang es den Einsatzkräften vor Ort erst nach zehn Tagen, den radioaktiven Austritt aus dem Reaktor einzudämmen. In den umliegenden Regionen wurden insgesamt 330.000 Einwohner evakuiert. Die ersten 160.000 Menschen in den Tagen danach, die restlichen teils erst Jahre später.

Unklare Anzahl an Todesopfern

Wie viele Todesfälle es durch den Super-GAU von Tschernobyl gab, ist schwer zu sagen. Denn die Auswirkungen sind teils erst mehrere Jahre später aufgetreten.
Entscheidend war zudem die Strahlungsdosis, die ein Mensch in der Region abbekommen hat. Die Schätzungen gehen je nach Methodik weit auseinander. Als Mindestzahl an Strahlentoten nennt die Statistikerin Katharina Schüller in einem Radiointerview unter Berufung auf das Tschernobyl-Forum, zu dem die IAEA und WHO gehören, 56 Menschen. Darunter 47 Aufräumarbeiter und 9 Kinder aus der unmittelbaren Kraftwerksumgebung. Letztere sind durch Schilddrüsenkrebs gestorben – eine mögliche Strahlenerkrankung.
Laut der Internationalen Nuklearenergiebehörde (IAEA) beziffert das Tschernobyl-Forum, eine internationale Arbeitsgruppe, im Jahr 2005 die Zahl der Tschernobyl-Todesopfer auf 4.000.
Greenpeace-Experte Thomas Breuer teilte im darauffolgenden Jahr mit, dass es in Weißrussland, Ukraine und Russland 270.000 zusätzliche Krebserkrankungen gebe, von denen voraussichtlich 93.000 tödlich enden. Er berief sich dabei auf Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Die höchste Schätzung zu den Strahlentoten präsentierte jedoch Alexej Yablokow von der Russischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2011 in Berlin. Seinen Berechnungen zufolge gehen ganze 1,44 Millionen Todesopfer auf das Konto der Reaktorkatastrophe. So viele Menschen sollen in 25 Jahren nach dem Super-GAU an Folgeerkrankungen durch die hohe Radioaktivität gestorben sein.

„Es gibt keine offizielle Statistik“

Im Rahmen derselben Tagung sagte Sebastian Pflugbeil, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz:
„Es gibt keine offizielle Statistik. Das ist das Problem. Die offiziellen Stellen haben auch kein Interesse daran, die zu machen. Und die internationalen Stellen haben schon gar kein Interesse, solche Zahlen zu ermitteln. Also muss man sich Hilfskonstruktionen überlegen, um solche Schätzungen machen zu können.“
Wie groß die gesundheitlichen Schäden durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wirklich sind, bleibt in wissenschaftlichen Kreisen jedoch umstritten. Ein Grund ist, dass – gemäß der dahinterstehenden Rechnung – der Flugverkehr aufgrund intensiverer Strahlung in der Flughöhe 5.000 bis 10.000 Strahlentote pro Jahr verursachen müsste.
Das Wissenschaftliche Komitee der UNO kam zwei Jahrzehnte nach dem Unfall zu dem Ergebnis, dass es „keine Beweise für schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit [gibt], die auf die Strahlenbelastung zurückzuführen wären.“

Restrisiko und Chancen der Kernenergie

Der Ablauf der Katastrophe sowie die Vorbedingungen des eingesetzten Reaktorkonzepts führen zu dem Schluss, dass hier gleich mehrere unglückliche Umstände und Fehlentscheidungen zusammenkamen. Doch längst haben Ingenieure und Fachleute aus der Katastrophe gelernt.
Heute sehen etliche Staaten und Wissenschaftler mehr das mögliche große Potenzial als das Risiko in der Kernenergie. So sagte kürzlich der ehemalige Strahlenschutzbeauftragte Dieter Böhme: „Die in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke waren Siedewasser- und Druckwasserreaktoren. Mit diesen hätte es ein ‚Tschernobyl‘ nicht geben können. Deutschland hatte die sichersten Kernkraftwerke der Welt.“
Ähnliches sagte auch Manfred Haferburg, der selbst Oberschichtleiter eines deutschen Kernkraftwerkes war.
Das Fachgebiet von Maurice Forgeng beinhaltet Themen rund um die Energiewende. Er hat sich im Bereich der erneuerbaren Energien und Klima spezialisiert. Er verfügt über einen Hintergrund im Bereich der Energie- und Gebäudetechnik.

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