In Kürze:
- Nach dem begleiteten Suizid der Kessler-Zwillinge: Debatte um Rechtslage neu entbrannt
- Bundesverfassungsgericht hatte 2020 „Beihilfe zur Selbsttötung“ unter bestimmten Umständen zugelassen
- Kritiker fürchten Druck durch Dritte, Missbrauch bei psychischen Erkrankungen und gesellschaftliche Verwerfungen
- Kriterien für freiverantwortliches Handeln nicht klar definiert
Am vergangenen Montag haben die Kessler-Zwillinge in ihrer Villa in Grünwald ihrem Leben gemeinsam ein freiwilliges Ende bereitet. Sie wurden 89 Jahre alt. Unterstützt wurden die internationalen Stars von einer Sterbehilfeorganisation. Die „Beihilfe zur Selbsttötung“ ist in Deutschland erst seit 2020 unter bestimmten Umständen erlaubt und bleibt umstritten.
Inwiefern sollte es einem Menschen auf dessen eigenen Wunsch hin ermöglicht werden, freiwillig aus dem Leben zu scheiden? Diese Frage ist nach dem Freitod des prominenten Zwillingspaars Alice und Ellen Kessler wieder aktuell.
Die Kessler-Zwillinge hatten sich nach einer jahrzehntelangen internationalen Karriere als Bühnen- und Filmstars entschieden, ihrem Leben im Alter von 89 Jahren gemeinsam ein Ende zu setzen. Dazu nahmen sie am Mittag des 17. November 2025 die Unterstützung einer Ärztin und eines Juristen der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) in ihrer Villa in Grünwald bei München in Anspruch. Die Münchener Zeitung
tz hatte als eins der ersten Medien darüber berichtet.
Hilfe-Hotlines: Bei Suizidgedanken oder Depressionen ist es ratsam, sich Hilfe zu suchen. Als erste Anlaufstelle kann die rund um die Uhr mit geschulten Beratern besetzte Telefonseelsorge dienen: Sie ist gratis unter den Rufnummern 0800-1110111 und 0800-1110222 erreichbar. Auch die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet an Werktagen tagsüber Unterstützung unter 0800-3344533.
Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben
Das Bundesverfassungsgericht hatte zuletzt am 26. Februar 2020 entschieden, dass die „Beihilfe zur Selbsttötung“ – so der juristische Terminus für das begleitete Sterben – nicht grundsätzlich strafbar ist.
„Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen“, heißt es im ersten Leitsatz zum
Urteil des Zweiten Senats. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Artikel 2 in Verbindung mit Artikel 1 des Grundgesetzes lasse ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ ohnehin „als Ausdruck persönlicher Autonomie“ zu – und zwar unabhängig von Alter oder Krankheit in „jeder Phase menschlicher Existenz“ (Randnummer 210).
Damit hoben die Karlsruher Verfassungsrichter ein 2015 vom Gesetzgeber eingeführtes Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ gemäß
Paragraf 217 des Strafgesetzbuches (StGB) auf. Der Paragraf regelte bis dahin, dass Menschen, die mehrfach anderen bei der Durchführung ihres Suizidwunsches halfen, eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bekommen konnten.
Nicht alles ist erlaubt
Nach
Paragraf 216 StGB bleiben die aktive Tötung eines Menschen auf sein Verlangen hin und auch der Versuch dazu in Deutschland strafbar. Bei Zuwiderhandlung droht eine Haftstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren Dauer.
Doch ein Arzt darf lebenserhaltende Maßnahmen beenden, wenn ein Patient dies wünscht – beispielsweise per Patientenverfügung. Auch die „indirekte Sterbehilfe“ sei unter Umständen straffrei: Gemeint ist die Verabreichung starker Medikamente, auch wenn die Gefahr droht, damit Leben zu verkürzen.
Eine Sterbebegleitung im Rahmen eines „assistierten Suizids“ wie im Fall der Kessler-Zwillinge bleibt ebenfalls in der Regel straffrei, wenn der Mensch mit Sterbewunsch im Besitz seiner geistigen Kräfte eigenhändig für sein Ableben sorgt. Laut
DGHS zählt die „Freiverantwortlichkeit“.
Die hier gemachten Angaben gelten allerdings unter Vorbehalt: Da die Debatte um Sterbehilfe in Deutschland auch juristisch nicht final und eindeutig entschieden ist, kann sich die Rechtsprechung von Fall zu Fall ändern.
Kritik an großzügiger Auslegung der Rechtslage
Nach Meinung des früheren Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) etwa sollte es zwar grundsätzlich „nicht verboten sein“, Menschen „selbstbestimmt aus einer Situation zu befreien“, in der sie nicht weiter leben wollten. Auf seinem
X-Kanal forderte er aber, zu verhindern, dass dabei „Geld oder psychische Krankheiten die freie Entscheidung beeinflussen“.
Eugen Brysch, der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, fürchtet nach Angaben von
„Euronews“ die Entsolidarisierung der Gesellschaft, wenn Suizide jederzeit in organisierter Form „verfügbar“ seien. Dabei lasse es sich seiner Meinung nach nämlich nicht ausschließen, dass Dritte Druck ausübten. Zudem existierten derzeit keine verlässlichen Kriterien, anhand derer die Autonomie einer Entscheidung zweifelsfrei festgestellt werden könne. Er habe deshalb gefordert, aus strafrechtlicher Perspektive genau hinzuschauen, wie Sterbehelfer agierten.
Mehrere Sterbehilfevereine in Deutschland aktiv
Die DGHS, denen sich die Kessler-Zwillinge
anvertraut hatten, ist die Größte und Älteste von mehreren Sterbehilfevereinen in Deutschland. Weitere Anlaufstellen finden sich auf der Website
„Infopunkt-Sterbehilfe“, die von zwei Mitgliedern der DGHS ins Leben gerufen worden war.
Die Sterbehilfeorganisationen knüpfen ihre „Vermittlung“ in der Regel an eine Reihe von Voraussetzungen. Ein „Antrag auf Vermittlung von Freitodbegleitung“ bei der DGHS etwa hat nach Eigenauskunft dann Aussicht auf Bewilligung, wenn „die freitodwillige Person weiß, was sie tut, nicht aus einem Affekt heraus handelt und mögliche Alternativen kennt“. „Darüber hinaus ist es wichtig, dass der Freitodwunsch dauerhaft ist, von Dritten nicht beeinflusst wird und die freitodwillige Person sich dessen bewusst ist, dass sie den Freitod eigenhändig ausführen muss“, heißt es in den FAQs der
DGHS.
Laut „Euronews“ arbeitet der Verein bei der Betreuung seiner Mitglieder eigenen Angaben zufolge stets mit Juristen und Ärzten zusammen. Sie besprächen in zwei Vorab-Gesprächen mit den Sterbewilligen deren Motivation, Lebensumstände, Krankheitsgeschichte und ihre Freiverantwortlichkeit. Dabei würden auch medizinische und pflegerische Alternativen, insbesondere palliativmedizinische Optionen, erörtert und dokumentiert.
In der Regel muss ein Vereinsmitglied bei der DGHS eine
sechsmonatige Wartefrist verstreichen lassen, bevor es einen schriftlichen Antrag auf Vermittlung von Sterbebegleitern stellen kann. „In medizinisch dringenden Fällen“ könne von dieser Sperrfrist allerdings abgewichen werden.
Fehler bei Suizid des DGHS-Mitglieds W.: Staatsanwaltschaft ermittelt
Eine halbjährliche Wartefrist wurde laut „Spiegel“ (
Bezahlschranke) im Fall des DGHS-Mitglieds und selbst Sterbehilfeaktivisten Florian W. nicht eingehalten. Der damals 47-Jährige habe im Mai 2025 mithilfe zweier von der DGHS vermittelten Sterbebegleiter seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, obwohl er dem Verein erst zwei Monate vorher beigetreten sei. Als Begleiter hätten DGHS-Vereinsschatzmeisterin Ursula Bonnekoh und ein Kölner Radiologe fungiert. Das erste Vorabgespräch habe Bonnekoh zudem nicht persönlich, sondern nur per Videoanruf geführt. Später habe sich herausgestellt, dass W. unter ernsten psychischen Problemen gelitten habe. So erklärt W. in seinem Begründungsschreiben an die DGHS, das dem „Spiegel“ (
Bezahlschranke) vorliegt: „Ich habe die meisten Geheimnisse des Menschseins erfahren“, alles sei ihm langweilig geworden, die „wunderschöne erste Lebenshälfte“ reiche ihm, eine zweite brauche er nicht und könne sich für nichts mehr begeistern. Die DGHS hat dennoch keinen unabhängigen Psychiater eingeschaltet.
Vereinspräsident Prof. Robert Roßbruch erklärte im Interview mit dem „Spiegel“, dass er sich über die frühe Terminzusage zum begleiteten Suizid von W. geärgert habe. Der Jura-Professor habe Besserung versprochen: Die DGHS werde einen Rechtswissenschaftler bitten, die bisherigen Sicherheitsstandards des Vereins zu überprüfen. Kurz darauf sei das Interview mit Roßbruch von der Website der DGHS verschwunden – nach Angaben einer DGHS-Sprecherin, weil das Gespräch „potenziell missverständliche“ Passagen enthalten habe. Nach „Spiegel“-Informationen ermittelt die Staatsanwaltschaft immer noch die Hintergründe.
In allen Fällen gilt die Unschuldsvermutung.
4000 Euro für assistierten Suizid
Die DGHS verlangt neben dem Mitgliedsbeitrag eine
Pauschale in Höhe von 4.000 Euro für die Vorbereitung und Durchführung eines assistierten Suizids. Im Fall einer „Doppel-Sterbebegleitung“ wie etwa bei den Kessler-Zwillingen werden 6.000 Euro fällig.
Nach Informationen der tz nutzten die Schwestern eine hohe Dosis des Narkosemittels Thiopental, um ihr Leben schmerzfrei zu beenden. Das Mittel sei per Infusion in ihre Körper gelangt, nachdem sie die Sperre selbst gelöst hätten.
Erbe der Kesslers geht an Hilfsorganisationen
Ihren Nachlass hätten die beiden freiwillig kinderlos gebliebenen Künstlerinnen schon vor 20 Jahren per Testament geregelt: Bedacht werden die karitativen Organisationen „Ärzte ohne Grenzen, die Christoffel-Blindenmission, Gut Aiderbichl, UNICEF und die Malteser“, wie die Kessler-Zwillinge in dem Buch
„Goldene Jahre“ mitgeteilt hatten – ein Sammelband prominenter Senioren über „die neue Lust am Altern“ (Herder Verlag 2025).
Nach Informationen des
„Münchener Merkur“ waren die prominenten Zwillinge zuletzt gesundheitlich angeschlagen. Beide hätten unter Herzproblemen und dem Verlust ihres Geschmacks- und Geruchssinns gelitten. Ellen Kessler habe zudem erst vor wenigen Wochen einen Hirnstamminfarkt erlitten.
Alice und Ellen Kessler waren am 20. August 1936 im sächsischen Nerchau zur Welt gekommen. Ihr tänzerisches, stimmliches und schauspielerisches Talent führte sie schon als Kinder an die Leipziger Oper. Nach ihrer Flucht in den Westen im
Teenager-Alter starteten sie in Düsseldorf ihre Weltkarriere. Besonders gefeiert wurden sie in den folgenden Dekaden in Frankreich, Italien und in den Vereinigten Staaten. Neben der Bühne waren sie auch in Film, Funk, Fernsehen und auf dem Schallplattenmarkt dies- und jenseits des großen Teichs erfolgreich.