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3. Adventssonntag

„Morgen ist morgen“ - zwei Märchen zum Vorlesen

Schon kann die dritte Kerze entzündet werden. Die Zeit scheint zu rasen. Gerade dann ist es Zeit, sich hinzusetzen, in den Lichtglanz zu schauen und dieses Märchen oder auch jenes Märchen zu lesen.

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Foto: diamant24/iStock

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Lesedauer: 10 Min.

Morgen ist morgen

Es war einmal ein guter und gerechter König, der ging oft verkleidet und unerkannt durch die Straßen seiner Stadt. Er wollte wissen, was die Leute allgemein und im Besonderen über ihn dachten.
So war er einmal bis vor die Tore der Stadt gekommen und es war schon dunkel geworden, da sah er noch Licht in einer armen Hütte. Er schaute durchs Fenster und erblickte einen Juden, der sprach gerade einen Segen über sein kärgliches Abendbrot. Der König klopfte an die Tür: „Ist es gestattet, einzutreten?“ – „Nur herein“, sagte der Jude, „setz dich zu mir, was für einen reicht, reicht auch für zwei.“
Als sie so beieinandersaßen und miteinander aßen, fragte der unerkannte König: „Wovon lebst du?“ – „Ich bin Flickschuster“, sagte der Jude. „Jeden Morgen gehe ich mit meinem Werkzeugkasten durch die Stadt und die Leute bringen mir ihre Schuhe auf die Straße.“ „Und was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“, fragte der König. „Morgen?“, sagte der Schuster. „Morgen ist morgen. Gott segnet Tag um Tag.“
Doch als der Flickschuster am nächsten Tag in die Stadt kam, da standen an allen Ecken und auf allen Plätzen Soldaten, die riefen: „Befehl des Königs! Befehl des Königs! In dieser Woche ist es verboten, Schuhe zu flicken auf den Straßen der Stadt!“ „Seltsam“, murmelte der Schuster, „seit wann machen sich Könige Gedanken über Flickschuster? Aber gut, dann werde ich Wasser in die Häuser tragen. Wasser brauchen die Menschen jeden Tag.“
Und am Abend hatte er so viel verdient, dass es für eine Mahlzeit reichte. Ja, sogar für eine Mahlzeit zu zweit, denn am Abend kam wieder – unerkannt – der König zu ihm. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, sagte er, „wie hast du denn heute dein Brot verdient trotz des königlichen Verbots?“ Der Schuster erzählte es ihm. „Und was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“ „Morgen ist morgen. Gott segnet Tag um Tag.“
Doch am nächsten Morgen hörte er schon vor dem Stadttor die Soldaten rufen: „Befehl des Königs! Befehl des Königs! In dieser Woche ist es verboten, Wasser zu tragen durch die Stadt, ohne königliche Sondererlaubnis!“ – „Seltsam“, seufzte der Schuster, „was doch die Könige für Einfälle haben. Gut, dann werde ich Holz hacken und in die Häuser tragen. Brennholz brauchen die Menschen immer.“
Er holte seine Axt und hackte Holz und brachte es in die Häuser, und er verdiente genug für sich und seinen seltsamen Gast, der am Abend wiederkam. „Womit hast du denn heute dein Brot verdient?“, fragte dieser und gab abermals zu bedenken: „Was ist, wenn du morgen keine Arbeit findest?“ Doch der Schuster antwortete wie immer: „Morgen ist morgen. Gott segnet Tag um Tag.“
Als der Schuster am nächsten Morgen mit der Axt durchs Stadttor trat, herrschte ihn der Hauptmann an: „Jeder, der heute mit einer Axt in die Stadt kommt, wird eingezogen und muss Wache stehen. Befehl des Königs! Bring deine Axt heim und komm zum Palast. Dort bekommst du ein Schwert geliehen, um den König zu beschützen.“
So musste nun der Schuster den ganzen Tag Wache stehen und bekam am Abend keinen Dinar. Hungrig ging er den Weg nach Hause. Als er beim Krämer vorbeikam, trat er ein und bat diesen, ihm Essen für sich und seinen Gast zu leihen. „Als Pfand lasse ich dir dieses Schwert hier“, sagte er, und der Krämer war mit dem Handel einverstanden. Zu Hause ging er gleich in seine kleine Werkstatt, schnitzte sich ein Schwert aus Holz zurecht und steckte dieses in die Scheide.
Als der König kam und den gedeckten Tisch sah, wunderte er sich sehr. Da zeigte ihm der Schuster sein Holzschwert und erzählte seine Tagesgeschichte. „Und was tust du, wenn der Hauptmann sich morgen das Schwert zeigen lässt?“ „Morgen? Morgen ist morgen. Gott segnet Tag um Tag!“
Als der Schuster am Morgen zum Palast kam, wartete der Hauptmann schon auf ihn. Er zog einen Mann in Ketten hinter sich her und schrie: „He du da, komm her und zieh dein Schwert! Dieser Mann ist ein Mörder. Schlag ihm den Kopf ab. Befehl des Königs!“ Der Schuster erschrak: „Das kann ich nicht und will ich nicht! Das kannst du nicht von mir verlangen!“ „Oh doch, das kann ich“, sagte der Hauptmann, „denn es ist ein Befehl des Königs!“
Angelockt durch den Streit, kamen viele Neugierige herbei und umringten den Platz. Der Schuster schaute in die Augen des Gefangenen. Es war ein gutes Herz, das da durch die Augen leuchtete. Das war kein Mörder! Er schaute zum Himmel und rief mit lauter Stimme: „Gott des Himmels und der Erde. Du Herr über Leben und Tod. Wenn dieser Mann ein Mörder ist, so soll ihm mein Schwert den Kopf abschlagen. Doch wenn er unschuldig ist, so verwandle du den scharfen Stahl meiner Klinge in Holz.“
Und er zog sein Schwert aus der Scheide, reckte es in den Himmel und alle sahen: Es war zu Holz geworden.
Da brach ein unbeschreiblicher Jubel aus und die Menge lobte Gott. Im selben Augenblick kam der König aus dem Palast in den Hof, ging auf den Schuster zu und gab sich ihm zu erkennen. Dann umarmte er ihn und bat ihn: „Werde du mein erster Ratgeber.“ Ja, und so wird er es wohl geworden sein.
Jüdisches Märchen aus Afghanistan
 

Das Lämmchen vor dem Throne Gottes

Am Schlusse der sechs Schöpfungstage saß Gott auf seinem heiligen Weltenthrone, um die Erhabenheit und Pracht seines vollendeten Meisterwerks mit Wohlgefallen zu überblicken.
Jegliches Wesen hatte seine eigene Bestimmung, jegliches Geschöpf freute sich mit seinem Dasein. Nur ein Wesen war schweigsam, traurig und lag vor den Stufen des ewigen Thrones wehmutsvoll hingesunken.
Das unschuldige Lämmchen war es, das die allgemeine Freude der neu geschaffenen Wesen nicht teilen konnte.
Der allliebende Vater, dessen unendliche Barmherzigkeit sich über jedes seiner Werke erstreckt, bemerkte das Leiden des niedergeschlagenen Lammes und fragte: „Was fehlt dir, armes Lämmchen? Warum bist du so traurig und niedergebeugt, während meine übrigen Geschöpfe alle so fröhlich und vergnügt mit dankbarem Gemüte lobpreisend zu mir emporschauen?“
„Ach, mein Gott und Vater!“, erwiderte das Lämmchen seufzend, „wie soll, wie kann ich vergnügt und heiter gleich den anderen Geschöpfen mich meines Daseins freuen, wenn ich schwach und hilflos ewig den Misshandlungen der anderen Tiere ausgesetzt bin? Warum bin ich eine Ausnahme unter den Tausenden? Warum gabst du mir nicht Schild und Waffe zur Verteidigung wie den übrigen Tieren?
Hat doch dieses seine spitzen Hörner, jenes seine scharfen Klauen, dieses seinen kräftigen Rüssel, jenes seinen gefährlichen Zahn. Während so viele Tiere durch Klettern, Schnelllauf, durch Fliegen in die freie Luft, durch Tauchen in die Tiefe des Gewässers ihrem gefährlichen Feinde zu entkommen imstande sind, stehe ich verlassen, vereinzelt, ohne Schutz und Waffen, ohne Aussicht auf Hilfe in der großen Welt da und bin der Willkür meiner Feinde völlig preisgegeben.“
Gott hörte die Klagen des hilflosen Lammes wohlwollend an und sprach: „Dein Ansuchen sei dir gestattet, und es sei dir außerdem die Wahl überlassen: Verlangst du Krallen, Nägel, scharfe Zähne, einen Rüssel, womit du alles, was dir nahekommt, zerfleischen, töten und vernichten kannst?“
„Ach, nein, mein Herr und Vater! Fern sei dies von mir. Nicht eine dieser gefährlichen Waffen wünsche ich – nicht eine, durch die ich einem anderen Schaden zufügen oder gefährlich werden könnte. Ich liebe den harmlosen Frieden und will mit meiner Umgebung auch nie in Feindschaft geraten. Nur bitte ich, mein Gott, um solche Waffen, die mich so manches zugefügte Übel vergessen oder nur meine Leiden erträglich machen könnten.“
„Deine Bitte ist zu gerecht, armes Geschöpf, als dass ich sie dir nicht gewähren sollte. Ich gebe dir hiermit drei der kräftigsten Waffen, mittels derer du im Unglück nicht elend sein wirst. Mit ihrer Hilfe wirst du imstande sein, das größte Übel zu besiegen. Sie heißen: Sanftmut, Hingebung und Geduld.“
Jüdisches Schöpfungsmärchen
Für Silke Ohlert stehen Geschichten im Mittelpunkt. Geschichten, die unterhalten und dabei vom Guten im Leben erzählen. Von dem, was den Menschen Kraft und Hoffnung gibt. Dafür schöpft sie aus ihrem Erfahrungsschatz von über 20 Jahren Theaterarbeit, vielen Reisen und einem naturverbundenen Leben.

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