Leben oder Tod? BGH-Urteil wirft Fragen zur Suizidhilfe auf

Der Patientenschützer Eugen Brysch sieht eine „Unschärfe“ bei der Tatherrschaft in der Sterbehilfe-Debatte, die durch ein BGH-Urteil geschaffen wurde. Er fordert den Bundesjustizminister auf, Klarheit zu schaffen.
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Eine Frau leistet Sterbehilfe.Foto: iStock
Von 6. Oktober 2022

Nach dem veröffentlichten Bundesgerichtshof-Urteil im August 2022 (BGH, Beschluss v. 28.6.2022, 6 StR 68/21), sieht der Vorstandsvorsitzende Eugen Brysch der Deutschen Stiftung Patientenschutz beim Gesetzgeber dringend Handlungsbedarf.

Der Bundesgerichtshof (BGH) sprach eine Ehefrau vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen frei, die ihrem Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Dosis Insulin injiziert hatte. Jetzt ist laut den Ausführungen des BGH auch die aktive Form der Sterbehilfe nicht länger per se strafbar.

In seiner Urteilsbegründung erklärte der BGH: Auf Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – im Februar 2020 – zur geschäftsmäßigen Sterbehilfe (2 BvR 2347/15) halte man es für naheliegend, dass der § 216 Abs. 1 StGB „Töten auf Verlangen“ einer verfassungskonformen Auslegung bedarf. Es müssten jedenfalls diejenigen Fälle ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung zu sterben, selbst umsetzen zu können. Also wenn sie darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt.

Brysch: BGH schafft „Unschärfe“ bei Tatherrschaft

Diese durch den BGH geschaffene „Unschärfe“ bei der Tatherrschaft in der Sterbehilfe-Debatte weiter zu ignorieren, hält der Patientenschützer Brysch für brandgefährlich. „Der Bundesjustizminister ist gefordert, hier Klarheit zu schaffen.“

Dazu führt Brysch weiter aus: Der Suizid sei straffrei, weil die Tatherrschaft beim Sterbewilligen läge. Auch die Beihilfe zum Suizid sei straffrei, wenn die Tatherrschaft beim Suizidwilligen läge. „Der Sterbewillige muss sein Leben in beiden Fällen selbst beenden.“ Während bei der Suizidbeihilfe – also der Sterbewillige die Tatherrschaft bis zuletzt behält – gehe bei der Tötung auf Verlangen die Tat von einer anderen Person aus. „Diese Grenze verschwimmt nun.“

Denn der BGH habe mit seiner Entscheidung das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen de facto aufgehoben. „Überraschend unterstellt der BGH einer einwilligungs- und handlungsfähigen Person, dass sie ihren Willen selbst nicht umsetzen könne. Damit wird die Tötungshandlung durch eine andere Person gebilligt.“

„Heute machen wir’s“

Bei dem BGH-Urteil geht es um eine ehemalige Krankenschwester, die wegen Tötung auf Verlangen vom Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurde. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Sie pflegte ihren schwer kranken Ehemann seit 2016. Er äußerte bereits wiederholt den Wunsch, „gehen zu wollen“. Unter starken Schmerzzuständen bat er im Frühjahr 2019 seine Frau, nachdem selbst hoch dosierte Medikamente die Schmerzen nicht mehr lindern konnten, um Erlösung. Am 7.8.2019 sagte er seiner Ehefrau nach starken Schmerzen: „Heute machen wir’s“. Er wolle nun endgültig „gehen“.

Dann forderte er seine Ehefrau auf, den von ihm selbst angesammelten Vorrat an Tabletten zu holen. Diese Tabletten nahm er vollständig selbstständig ein. Ebenfalls forderte er seine Ehefrau auf, ihm die noch vorhandenen sechs Insulinspritzen zu injizieren. Sie tat dies üblicherweise, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel.

Auf Wunsch der Ehefrau schrieb er darauf mit zitternden Händen in ein Notizbuch, dass er nicht weiterleben wolle und seiner Frau untersagt habe, ärztliche Hilfe zu holen. Daraufhin schlief er ein und verstarb in derselben Nacht an Unterzuckerung – wobei die Tabletten vermutlich alleine den Tod herbeigeführt hätten, nur später.

Das Landgericht sah den Straftatbestand der Tötung auf Verlangen gemäß § 216 Abs. 1 StGB als verwirklicht an. Die angeklagte Ehefrau habe nicht lediglich straffreie Beihilfe zum Suizid geleistet. Denn sie habe das zum Tode ihres Ehemannes führende Geschehen maßgeblich in ihren Händen gehabt. Obwohl ihr Ehemann seinen Tod aktiv gewünscht habe, habe er nicht bis zum Eintritt seines Todes die Option gehabt, den zum Tode führenden Kausalverlauf abzubrechen. Diese Möglichkeit und damit die Tatherrschaft habe allein die Angeklagte gehabt.

BGH sieht Tatherrschaft bei Suizidenten

Der BGH sah dies anders. Für ihn hat die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen nicht tatsächlich beherrscht. Eine solche Tatherrschaft habe der Täter dann, wenn sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen begebe, um von ihm den Tod duldend entgegenzunehmen. Soweit nach Vollzug des Tatbeitrags des „Sterbehelfers“ dem Sterbewilligen noch die Freiheit verbleibe, sich den Auswirkungen des in Gang gesetzten Geschehens zu entziehen, liege nur Beihilfe zur Selbsttötung vor.

Für den BGH überlagerte der unbedingte Sterbewille des Ehemanns das Gesamtgeschehen. Es ginge dabei nicht alleine darum, dass eine naturalistische Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln vorgenommen werde, geboten sei vielmehr eine normativ wertende Betrachtung des Gesamtgeschehens.

Diese wertende Betrachtungsweise führt nach Auffassung des BGH im konkreten Fall dazu, dass nicht die Angeklagte, sondern ihr Ehemann das zum Tode führende Geschehen beherrschte. Dem stehe nicht entgegen, dass die Angeklagte ihrem Ehemann das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreicht habe.

Eine isolierte Betrachtung alleine dieser zum Tode führenden Injektionen werde dem von der Angeklagten und ihrem Ehemann auf dessen mehrfachen Wunsch beschlossenen Gesamtplan nicht gerecht. Der Ehemann selbst habe durch Einnahme der Schmerzmittel das zum Tode führende Geschehen aktiv in Gang gesetzt. Die zusätzliche Injektion des Insulins sei Teil des einheitlichen, das Leben beendenden, maßgeblich vom Ehemann selbstbestimmten Gesamtakts gewesen.

Auch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Tötung durch Unterlassen verneinte der Senat. Als Ehefrau habe sie zwar gemäß § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB eine Garantenstellung gegenüber ihrem Ehemann innegehabt. Hieraus sei für das konkrete Geschehen aber keine Pflicht abzuleiten, den Tod ihres Mannes im letzten Moment noch abzuwenden. Die Garantenpflicht der Angeklagten sei durch den unbedingten Willen ihres Mannes, zu sterben, suspendiert. Der freie Sterbeentschluss des Ehemannes habe auch insoweit die Gesamtsituation komplett überlagert.

Brysch: „Suizidprävention bleibt viel zu häufig auf der Strecke“

Für den Patientenschützer Brysch gibt es nicht nur im häuslichen Bereich rechtlich gesehen nach dem Urteil des BGH und des Bundesverfassungsgerichts Defizite. Er sieht grundsätzliche Probleme sowohl in den Einrichtungen als auch in der häuslichen Pflege: „Die medizinisch-pflegerischen Angebote aktuell sind nicht in der Lage, Selbstbestimmung zu stärken und Fremdbestimmung auszuschließen.“ Für ihn bleibt die Suizidprävention viel zu häufig auf der Strecke.

„Ärzte und Therapeuten interpretieren Wesensveränderungen bei Senioren häufig als altersbedingt. Depressionen werden im Alltag viel zu oft nicht vermutet und so gar nicht erkannt“, so Brysch. Obwohl alleine in Pflegeeinrichtungen schätzungsweise 30 Prozent der Bewohner an Depressionen leiden würden, erhalte die Hälfte von ihnen nicht mal eine Therapie.

Zudem erhöhe sich der Leidensdruck, weil steigende Löhne, explodierende Energiekosten und die voranschreitende Inflation weiterhin zulasten von Pflegeheimbewohner gingen. „Würde wahrende Pflege sieht anders aus.“ Für ihn ist bezeichnend, dass sich 30 Prozent der Deutschen nach einer repräsentativen Umfrage eher für die Suizidbeihilfe entscheiden würden, als in ein Heim zu ziehen.

Doch auch die Situation bei betagten Menschen daheim sei keinesfalls besser. „Zwei Millionen Senioren leiden still vor sich hin. So ist es nicht verwunderlich, dass die Suizidrate im Vergleich zu anderen Altersgruppen deutlich erhöht ist.“ Auch fehle es schlichtweg an aufsuchender Therapie. Während der Erstkontakt mit einem Therapeuten zeitnah erfolgen könne, würden die Betroffenen auf begleitende Therapien jedoch monatelang warten.

„Die Kassenärztlichen Vereinigungen kommen ihrem Versorgungsauftrag bei der Zulassung von Neurologen, Psychiatern und Psychotherapeuten nicht nach. Deshalb braucht es für die Betroffenen aufsuchende, rehabilitativ ausgerichtete, multiprofessionelle ambulante Therapiemöglichkeiten“, erklärt Brysch.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 64, vom 01. Oktober 2022.



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