May muss nach Brexit-Niederlage auf Entgegenkommen der EU hoffen – Henkel fordert „New Deal“ für London

Das britische Unterhaus hat Theresa Mays Brexit-Vertrag mit noch deutlicherer Mehrheit abgelehnt als erwartet. Auch wenn sie das Misstrauensvotum am Mittwochabend überstehen dürfte, geht sie als Regierungschefin auf Abruf in eine unsichere Zukunft.
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"Wir wollen eine Volksabstimmung" steht auf Plakaten von Demonstranten vor dem Parlament in London.Foto: Leon Neal/Getty Images
Von 16. Januar 2019

Mit einer für eine amtierende Regierungschefin mageren Mehrheit von 200 der 317 Abgeordneten der Fraktion der Konservativen im britischen Unterhaus hatte Großbritanniens Premierministerin Theresa May im Dezember des Vorjahres ein Misstrauensvotum überstanden. Um dieses mit hinreichender Sicherheit abwenden zu können, musste sie sich sogar ein Beispiel an Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel nehmen und einen klaren Zeitplan für ihren Rückzug aus den politischen Ämtern vorgeben.

Bereits dieses Votum wurde vielfach als Pyrrhussieg gesehen. Die Abstimmung über den von ihr mit der EU ausgehandelten Brexit-Vertrag am Dienstag (15.1.) im Unterhaus hinterlässt sie noch deutlicher geschwächt – und Großbritannien noch ratloser über die weiteren Modalitäten im Zusammenhang mit dem EU-Austritt. Nur 205 Abgeordnete haben dem Brexit-Deal der Premierministerin zugestimmt. Demgegenüber haben ihn 432 Abgeordnete verworfen, unter ihnen auch 118 Abgeordnete der eigenen Fraktion.

Publizist und Medienmanager Gabor Steingart kommentiert dazu in seinem Morning Briefing:

„Großbritannien präsentiert sich uns als eine verwirrte Nation. Unklar ist, was eine Frau politisch überhaupt noch am Leben hält, der verweigert wird, jenen Brexit, den sie gar nicht wollte, zu exekutieren. Im Leben eines jeden Politikers gibt es Phasen des Auf und Ab. Im Leben der Theresa May aber fehlt das Auf.“

„Dialog gilt als Verrat“

Er selbst macht einen Verfall der politischen Kultur für die Entwicklung verantwortlich, die sich auch ins Unterhaus fortgepflanzt habe. Die politische Klasse im Großbritannien der Gegenwart, so Steingart, verweigere sich dem Austausch der Argumente.

„Der andere wird nicht erhört, sondern ignoriert. Die abweichende Meinung wird nicht als bereichernd, sondern als störend empfunden. Dialog gilt im britischen Unterhaus nicht als Methode der Wahrheitsfindung, sondern als Verrat. Wie in einer großen Kostümklamotte spreizten sich die Abgeordneten gestern wieder, palaverten und johlten, grantelten und gifteten, als wollten sie die Demokratie in einer furiosen Schlussszene der Lächerlichkeit preisgeben.“

Theresa May ist damit künftig de facto Premierministerin auf Abruf. Möglicherweise ist sie schon heute Abend Geschichte. Der Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, hat jedenfalls einen Misstrauensantrag angekündigt.

Die Erfolgsaussichten des Antrags sind aber gering. Zwar haben zahlreiche Abgeordnete der Konservativen und der nordirischen DUP, die Mays Regierung toleriert, ihre Ablehnung des Brexit-Vertrages, den die Premierministerin ausgehandelt hatte, gestern unmissverständlich deutlich gemacht. Ein möglicherweise noch größerer Teil der Fraktion als im Dezember würde May lieber heute als morgen aus dem Amt jagen. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass die konservativen May-Gegner dem radikalen Marxisten Corbyn einen Triumph gönnen würden, der ihn nach Neuwahlen selbst zum neuen Regierungschef machen könnte.

Die „Welt“ fasst im Wesentlichen fünf mögliche Szenarien zusammen, die sich aus dem Votum ergeben könnten, das vor allem in seiner Deutlichkeit für May einer Katastrophe gleichkommt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht die Premierministerin schon jetzt als „Musterleiche im Innenhof des europäischen Hauses“ hängen.

Zweites Referendum in der knappen Zeit unwahrscheinlich

Einen Erfolg des Misstrauensvotums und damit unausweichliche Neuwahlen hält auch die „Welt“ nicht für wahrscheinlich. Es sei nicht davon auszugehen, dass aus den Reihen der Konservativen und der DUP – die eine Zustimmung zum Sturz der Regierungschefin bereits ausgeschlossen hatte – ausreichend Abgeordnete mitziehen würden, um eine Mehrheit zu bewirken. Im Fall von Neuwahlen sei ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Labour zu erwarten und Konservative, die jetzt gegen May stimmen, würden sich damit selbst einem erhöhten Abwahlrisiko aussetzen.

Das zweite Szenario wäre jenes, das sich EU-Befürworter wünschen, nämlich ein zweites Referendum. Scheitert Corbyn wie erwartet heute Abend mit seinem Misstrauensvotum, könnte es für ihn ein taktisch naheliegender Zug sein, ein solches Vorgehen zu befürworten. Andererseits kann auch dieses Ansinnen nicht auf eine Mehrheit im Parlament hoffen und die Zeit wäre zu knapp, um ein solches noch vor dem anvisierten Austrittstermin Ende März organisieren zu können.

„Einziger Joker wäre May selbst, die im Parlament keinen Ausweg mehr findet und deshalb die Nation entscheiden lässt: mein Deal oder in der EU bleiben“, meint die „Welt“.

Das dritte Szenario, das vor allem die entschiedensten Brexit-Befürworter favorisieren, ist der „harte Brexit“ – ohne Vereinbarung. Die Regierung und ein erheblicher Teil der Parlamentarier wollen eine solche Option um jeden Preis verhindern, weil die Folgen als unabsehbar erscheinen. Andererseits findet sich aber auch keine Mehrheit für einen Brexit-Deal, wie ihn die Premierministerin anstrebt.

Das vierte Szenario, nämlich dass Brüssel die Unsicherheit nach dem Scheitern ihres Deals mit May nützen könnte, um ein Exempel zu statuieren, hält Gabor Steingart für denkbar. Er schreibt:

„Damit liegt das Schicksal der britischen Nation da, wo es nach Meinung der Brexit-Befürworter genau nicht liegen sollte: in der Hand der Brüsseler EU-Kommission. Sie könnte nachbessern. Sie könnte noch einmal die Hand in Richtung London ausstrecken. Aber das wird sie wahrscheinlich nicht tun. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, aber auch Angela Merkel, Sebastian Kurz und all die anderen Regierungschefs, wollen keine ‚incentives‘ für Querulanten ausloben. Für sie ist der notfalls ungeordnete Brexit das ‚example‘, das statuiert werden muss.“

Macron schließt weitere Zugeständnisse aus

Die EU müsste sich dafür nur gegenüber einer möglichen Forderung der Regierung in London querstellen, die Austrittsfrist zu verlängern und bis Anfang Juli, wo das neu gewählte EU-Parlament zusammentritt, weiterzuverhandeln. Eine Verlängerung der Austrittsfrist müsste von allen 27 übrigen Mitgliedstaaten abgesegnet werden. Es sei jedoch unklar, was in nur drei Monaten an wesentlichen neuen Einigungen erzielt werden könne, was zuvor in eineinhalb Jahren nicht zustande kam.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron meinte angesichts des gescheiterten Votums im Unterhaus bereits, die EU sei gegenüber den Briten „so weit gegangen, wie wir konnten“. Weitere Zugeständnisse etwa in Fragen wie der inneririschen Grenze oder den Handelsbeziehungen wären demnach ausgeschlossen. Allerdings würde Brüssel damit die Befürworter eines „harten Brexit“ unfreiwillig selbst stärken.

Vor diesem Hintergrund gewinnt das fünfte Szenario, nämlich dass Brüssel weitere Zugeständnisse machen muss, um den ungeregelten Brexit zu verhindern, an Bedeutung. Der „Welt“ zufolge hätten Diplomaten in Brüssel jetzt schon Gesprächsbereitschaft erkennen lassen. Allerdings sei nicht absehbar, welche Forderungen May erfüllt bekommen müsste, um doch noch eine parlamentarische Mehrheit für ihren Austrittsvertrag sicherstellen zu können.

Die Backstop-Lösung, die vorsieht, dass Großbritannien ohne neuen Handelsvertrag Mitglied der Zollunion bleiben müsste, ist für viele Konservative nicht akzeptabel. Die Befürworter eines ungeregelten Brexits meinen, dass offene Handelsfragen eben notfalls über die WTO geklärt werden müssten. Labour hingegen befürwortet den Verbleib in der Zollunion. Ob eine Befristung der Backstop-Lösung bis 2025 oder 2027, wie sie der „Welt“ zufolge Diplomaten ins Spiel bringen, der parlamentarische Game Changer wäre, bleibt ungewiss.

Ein anderes mögliches Zugeständnis wäre ein neuer Konsultationsmechanismus bezüglich der künftigen Beziehungen, wie sie in der bestehenden Austrittserklärung bereits angesprochen seien. Dieser solle den Briten Handlungsspielräume eröffnen, so die „Welt“ unter Berufung auf Diplomaten.

May muss bis Montag „Plan B” vorlegen

Die NZZ sieht eine Phase der Instabilität und Unsicherheit an der Spitze der britischen Regierung auf Großbritannien zukommen. Sie verweist auf die Frist, die das Unterhaus May gesetzt hat, um bis spätestens nächsten Montag einen „Plan B“ vorzulegen. Noch wisse niemand, wie dieser aussehen könnte:

„Aus den Reihen der Abgeordneten können dann Zusatzanträge eingebracht werden, welche dem Ganzen eine neue Wendung geben könnten. Im Extremfall könnte das Parlament der Regierung das Heft weitgehend aus der Hand nehmen.“

Ob auf diese Weise ein Ausweg gefunden werden könne, sei aber fraglich. Denn die Parlamentarier schienen unfähig, sich auf mehr zu verständigen, als dass ein EU-Austritt ohne Abkommen verhindert werden solle.

EU-Kritiker wie der EKR-Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel sehen den Ball bei der EU selbst. Diese solle das Chaos um den Brexit zum Anlass nehmen, sich selbst zu reformieren – und auf dieser Basis den Briten einen „Neuen Deal“ anzubieten. Auf Facebook schreibt Henkel:

„Die letzte Möglichkeit die Katastrophe abzuwenden, liegt dann auf der Seite der Union. Diese muss sich bewusst werden, dass sie über den Weg des ‚zu viel Europa# die Briten geradezu aus der europäischen Familie getrieben hat. Es ist Zeit, den Briten ein neues Mitgliedsangebot zu unterbreiten, welches mehr Freiheit beinhaltet – ausdrücklich auch mit voller staatlicher Souveränität in Fragen der Zuwanderung und somit einer Ausnahme von der Unteilbarkeit der vier Grundfreiheiten. […] So ein „New Deal“ könnte zugleich einen für die EU wichtigen Lernprozess einleiten, da sie beginnen sollten zu akzeptieren, dass viele Staaten den Weg der Vertiefung der Union nicht weiter gehen wollen und es europaweit gar keine Mehrheit in der Bevölkerung für dieses Vorhaben gibt. Wir sollten zurückkehren zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Eine EU der Freiwilligkeit, des freien Marktes, des Wettbewerbs und somit auch der Wettbewerbsfähigkeit, der Unterschiedlichkeit, Toleranz und des gegenseitigen Respektes. Vor allem letzteren haben die Verhandlungsführer der EU, Barnier und Verhofstadt, offenbar nicht ausreichend verinnerlicht – waren sie es doch, die mit ihrem Verhalten aus so manchem überzeugten ‚Remainer‘ einen glühenden ‚Brexiteer‘ gemacht haben.“

 



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