Vermutlich ukrainische Rakete trifft Dorf in Polen – zwei Tote

Die Rakete des Typs S-300, deren Einschlag in Polen zwei Todesopfer forderte, hat offenbar nicht Russland abgefeuert. Dies bestätigte US-Präsident Biden.
Nach dem Einschlag einer Rakete in Polens Grenzgebiet zur Ukraine findet am Rande des G20-Gipfels auf Bali ein Krisentreffen statt. US-Präsident Joe Biden (l) versammelt dazu mehrere Staats- und Regierungschefs, darunter auch Bundeskanzler Olaf Scholz (2.v.l.).
Nach dem Einschlag einer Rakete in Polens Grenzgebiet zur Ukraine findet am Rande des G20-Gipfels auf Bali ein Krisentreffen statt. US-Präsident Joe Biden (l) versammelt dazu mehrere Staats- und Regierungschefs, darunter auch Bundeskanzler Olaf Scholz (2.v.l.).Foto: Steffen Hebestre/Bundesregierung/dpa
Von 16. November 2022

Am Tag nach dem Einschlag einer Rakete des Typs S-300 am Dienstag (15.11.) im polnischen Przewodow hat die NATO eine Dringlichkeitssitzung anberaumt. Polen hatte Beratungen auf der Basis von Artikel 4 des NATO-Vertrages erbeten.

Im Unterschied zu Artikel 5, der eine Beistandspflicht im Fall eines vorsätzlichen Angriffs auf einen Mitgliedstaat vorsieht, bezieht sich Artikel 4 auf die Vorstufe eines möglichen Ernstfalls. Die Bestimmung greift, wenn ein NATO-Mitglied die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht.

Ein klassischer Anwendungsfall des Artikel 4 sind Situationen, in denen bewaffnete Konflikte in einem Nachbarland auf NATO-Territorium überzugreifen drohen. Dies war beispielsweise 2012 der Fall, als am Rande des syrischen Bürgerkrieges Granaten im türkischen Grenzdorf Akçakale einschlugen. Die Türkei beantragte damals Konsultationen und die Bereitstellung von Patriot-Abwehrsystemen.

Rakete offenbar aus Bestand der ukrainischen Luftabwehr

Der Vorfall hatte am Dienstag in ganz Europa Sorge um eine mögliche Eskalation des Ukraine-Krieges hervorgerufen. Aus Polen hieß es bereits kurz nach dem Einschlag, der zwei Menschen das Leben kostete, die Rakete stamme „aus russischer Produktion“. Die Regierung in der Ukraine und Politiker der baltischen Staaten machten schnell Russland für die Verletzung der territorialen Unversehrtheit eines NATO-Mitgliedslandes verantwortlich.

Polen bestellte den russischen Botschafter in Warschau ein, um „sofort detaillierte Erklärungen“ für den Vorfall zu liefern. Zudem versetzte Warschau mehrere Kampfeinheiten der polnischen Armee und „andere uniformierte Truppen“ in erhöhte Bereitschaft.

In sozialen Medien mehrten sich ebenfalls die Spekulationen über die Herkunft der Geschosse und den Hintergrund des Vorfalls. Der Ökonom Marc Friedrich präsentierte auf Twitter Aufnahmen der eingeschlagenen Raketenteile und erklärte dazu:

Alle Fotos und Videos bisher sprechen dafür das es sich um eine ukrainische Luftabwehrrakete S-300 handelt.“

Unter dem Hashtag #SenderGleiwitz beschuldigten Nutzer unter Bezugnahme auf eine nationalsozialistische Inszenierung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Ukraine einer False-Flag-Aktion. Diese solle eine Eskalation herbeiführen, um die NATO in den Krieg zu ziehen.

Biden: „Unwahrscheinlich“, dass Rakete aus Russland kam

Tatsächlich beschuldigte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj Russland am Dienstag direkt, Raketen auf Polen abgefeuert und damit eine „sehr erhebliche Eskalation“ herbeigeführt zu haben. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wies Mutmaßungen zurück, dass eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr versehentlich das Nachbarland getroffen habe.

Wie bereits zu Beginn des Krieges verstärkten Unterstützer der Ukraine anlässlich des Vorfalls ihre Kampagne #closethesky. Diese fordert den Westen dazu auf, eine Flugverbotszone über der Ukraine auszurufen – was eine direkte bewaffnete Konfrontation mit Russland unausweichlich machen würde. Auch aus der ukrainischen Regierung kamen erneut Forderungen dieser Art.

Allerdings bestätigten sich schnell die Hinweise, wonach die S-300-Rakete, die das 8,44 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernte polnische Dorf traf, aus der Ukraine selbst stammt. Die polnische Regierung, die eine Untersuchung zu dem Vorfall eingeleitet hatte, erklärte schon bald, es sei unklar, wer die Rakete abgefeuert habe. Präsident Andrzej Duda geht zudem von einem „isolierten“ Vorfall aus. Es deute nichts darauf hin, dass mit weiteren Raketeneinschlägen in Polen zu rechnen sei.

Später bezeichnete es auch US-Präsident Joe Biden als „unwahrscheinlich“, dass die Rakete aus Russland abgeschossen worden sei. Es habe zwar über den gesamten Tag russische Angriffe auf Ziele in der Ukraine gegeben, die sich vor allem gegen die Infrastruktur richteten. Auch das 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernte westukrainische Lwiw sei Ziel der russischen Offensive gewesen.

Allerdings, so erklärte Biden vom G20-Treffen auf Bali aus, gebe es entsprechende Informationen über die Flugbahn, die gegen die Annahme einer russischen Rakete sprächen. S-300-Raketen stellen auch ein wesentliches Element der ukrainischen Luftabwehr dar. Biden betonte jedoch, die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlossen.

Polens Regierung ruft zu „Zurückhaltung und Umsicht“ auf

Biden hatte am Rande des G20-Gipfels zu einem Krisentreffen der Staats- und Regierungschefs der sieben großen westlichen Wirtschaftsmächte (G7) geladen. Neben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz waren die Regierungschefs aus Großbritannien, Italien, Kanada und Japan anwesend.

Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte in einem Telefonat mit Präsident Duda, dass Deutschland „eng an der Seite unseres NATO-Partners Polen“ stehe. Dies erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Auch Frankreich und Großbritannien sicherten Polen ihre Solidarität zu. Frankreich warnt allerdings vor vorschnellen Schuldzuweisungen und der Gefahr einer Eskalation. Aus Paris hieß es:

Viele Länder verfügen über die gleiche Art von Waffen, sodass die Identifizierung des Raketentyps nicht unbedingt Aufschluss darüber gibt, wer dahintersteckt.“

UN-Generalsekretär António Guterres äußerte sich „sehr besorgt“ und warnte vor einer weiteren Ausweitung des Ukraine-Kriegs. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki mahnte ebenfalls zur Besonnenheit. Nach einer Krisensitzung des Kabinetts in Warschau äußerte er:

Ich rufe alle Polen auf, angesichts dieser Tragödie ruhig zu bleiben. Wir müssen Zurückhaltung und Umsicht walten lassen.“

Der Kreml wies jegliche Verantwortung für den Raketeneinschlag zurück. In Russland spricht man von einer gezielten „Provokation“, deren Ziel es sei, eine Eskalation herbeizuführen.

Westliche Länder sichern Ukraine weiter „volle Unterstützung“ zu

Obwohl die westlichen G20-Teilnehmer nicht von einer russischen Urheberschaft des Raketeneinschlags in Polen ausgehen, übten sie Kritik an der Offensive gegen die ukrainische Infrastruktur. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, die Reaktoren in zwei ukrainischen Kernkraftwerken seien infolge der russischen Angriffe automatisch abgeschaltet worden. Etwa zehn Millionen Ukrainer seien derzeit ohne Strom.

Laut „Zeit“ bezeichnete Bundeskanzler Scholz die Zerstörung von Infrastruktur als „keine akzeptable Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg“. Auch US-Präsident Biden sicherte der Ukraine weiterhin seine „volle Unterstützung“ zu. Er richtete im Zusammenhang mit der derzeitigen Offensive Vorwürfe an Russland:

In dem Moment, als die Welt beim G20 zusammenkam, um eine Deeskalation anzumahnen, entschied Russland, in der Ukraine weiter zu eskalieren.“

(Mit Material von dpa und AFP)



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