In Kürze:
- Rückgang unerlaubter Grenzübertritte laut EU-Bericht um 35 Prozent
- Asylanträge in Europa erstmals rückläufig – Deutschland verliert Spitzenplatz
- EU-Solidaritätsmechanismus: Deutschland soll bis 2026 entlastet werden
- Dobrindt hofft auf bessere Migrationskontrolle durch GEAS
- Steuerung der Migrationsbewegungen scheitert häufig an komplexen Realitäten
Die EU hat in den vergangenen Tagen ihren ersten jährlichen Asyl- und Migrationsbericht vorgelegt. Dieser soll den Prozess zur Umsetzung des im Dezember beschlossenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) begleiten, der ab Juni 2026 in der gesamten EU abgeschlossen sein soll. Der
Bericht bezieht sich auf den Zeitraum vom 1. Juli 2024 bis 30. Juni 2025 – und weist für diese Zeit unter anderem einen Rückgang unerlaubter Grenzübertritte um 35 Prozent aus.
Als Grund für diesen Rückgang nennt der GEAS-Bericht vor allem die verstärkte Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten außerhalb der EU. Auf diese wollen europäische Staaten auch künftig vermehrt setzen – zumindest, soweit die Gerichte mitspielen. Dies ist nicht immer gewährleistet: So haben italienische Richter das Abkommen der Regierung in Rom mit Albanien zur Unterbringung Geflüchteter
in mehreren Urteilen für unzulässig erklärt.
Deutschland nicht mehr primäres Zielland Asylsuchender
Bereits im September hatte die EU-Asylagentur
ihre aktuellen Zahlen verkündet. Im ersten Halbjahr 2025 zählten diese etwa 400.000 neue Erstanträge, was gegenüber dem Vergleichszeitraum 2024 ein Minus von 23 Prozent darstellt. Die Zahlen beziehen sich dabei auf die 27 EU-Mitgliedstaaten, sowie Norwegen und die Schweiz.
Etwa 70.000 Anträge entfielen dabei auf Deutschland, wodurch das Land nicht mehr Anlaufstelle Nummer eins für Schutzsuchende war. Die meisten Asylanträge entfielen mit 78.000 auf Frankreich, gefolgt von Spanien mit 77.000. Italien landete mit 64.000 Anträgen auf Platz vier.
Was die Herkunftsländer anbelangt, ist die Zahl der syrischen Asylsuchenden nach dem Machtwechsel in Damaskus europaweit um zwei Drittel auf 25.000 zurückgegangen. Mit 49.000 Anträgen ist Venezuela nun das Hauptherkunftsland von Asylsuchenden vor Afghanistan mit 42.000. Mit einem Rückgang von 43 Prozent ist die Zahl der Anträge in Deutschland am stärksten gesunken.
Die Bundesregierung setzt große Hoffnungen auf Entlastung durch GEAS
Obwohl Länder wie Italien, Griechenland, Zypern oder Malta nach wie vor die höchste Zahl an Antragstellern pro Kopf aufweisen, gehört Deutschland nach wie vor zu den EU-Ländern mit den größten Herausforderungen bei der Bewältigung des Zustroms an Geflüchteten. Neben der Fluchtmigration aus Drittstaaten kommt die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zum Tragen.
Deshalb hofft die deutsche Bundesregierung nun, dass das GEAS zu einer deutlichen Entlastung führen wird. Tatsächlich weist auch der Asyl- und Migrationsbericht Deutschland als Land „unter Migrationsdruck“ aus. Dabei wird die hohe Sekundärmigration im Vorjahr als wesentlicher Faktor genannt – also die Zuwanderung von Geflüchteten, die sich zuvor in einem Mitgliedstaat aufgehalten hatten.
Zur großen Freude von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt schlägt die EU-Kommission deshalb vor, Deutschland bis auf Weiteres über den sogenannten Solidaritätsmechanismus des GEAS
zu entlasten. Deutschland soll zumindest bis Ende 2026 sogar gänzlich aus der Verpflichtung entlassen werden, über den Verteilungsmechanismus der EU weitere Geflüchtete aufzunehmen.
Staaten in Osteuropa stemmen sich gegen den Solidaritätsmechanismus
Zwar gehört Deutschland nach Einschätzung der EU nicht zu den am stärksten belasteten Ländern – was sich vor allem an den
Pro-Kopf-Aufnahmen und dem Bruttoinlandsprodukt bemisst. Allerdings habe das Land einen angemessenen Beitrag geleistet, um zumindest auf dem Papier selbst Solidarität von anderen einfordern zu können.
Sozialrechtler Constantin Hruschka von der Evangelischen Hochschule in Freiburg rechnet allerdings nicht damit, dass sich die Erwartungen Dobrindts vollständig erfüllen werden. So gibt es noch keine exakten Festlegungen über Größe und Ausgestaltung des sogenannten Solidaritätspools. Am Ende muss der Rat zustimmen, doch es gibt eine Reihe von Staaten, die wenig Interesse zeigen, selbst größere Verpflichtungen im Bereich der EU-Asylpolitik zu übernehmen.
Mehrere
Staaten in Osteuropa – allen voran Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien – wollen weder Kontingentumsiedlungen auf ihrem Territorium zulassen noch 20.000 Euro pro nicht aufgenommener Person an Brüssel bezahlen. Die dritte Option laut GEAS wäre die operative Hilfe in belasteten Staaten. Regierungschefs wie Ungarns Viktor Orbán haben jedoch bereits deutlich gemacht, dass sie diese
nicht in jeder beliebigen Form leisten wollen.
Wenn alle entlastet werden, stößt der GEAS-Solidaritätspool an seine Grenzen
Das GEAS stellt einen Kompromiss zwischen EU-Staaten dar, die Asyl grundsätzlich gewähren wollen, aber auf europäische Solidarität hoffen, und solchen, die auf mehr oder weniger rigorose Abschottung setzen. Der Pakt soll durch die alternativen Möglichkeiten, Solidarität zu üben, Flexibilität bewahren.
Allerdings wird die Zahl der Verweigerer größer und große Player wie Polen pochen bereits auf Ausnahmegenehmigungen. Wie sich die Niederlande nach der Abwahl der Rechtsregierung positionieren werden, ist noch unklar. Allerdings hatten auch hier große Parteien bis zu den Sozialdemokraten eine Obergrenze bei der Nettozuwanderung gefordert.
Je mehr Länder jedoch Abstriche bezüglich ihrer Rolle im Verteilungsmechanismus machen wollen, desto weniger gelingt die Entlastung der am stärksten betroffenen Länder in Südeuropa. Für Deutschland bedeutet dies voraussichtlich, dass das Land weiterhin eine tragende Rolle bei der Bewältigung von Fluchtmigration in Europa spielen wird. Mit einer finanziellen oder operativen Beteiligung wird weiterhin zu rechnen sein, denn je mehr Länder gleichzeitig nach Entlastung rufen, desto weniger funktionsfähig wird der Solidaritätspool.
Migrationsforscher warnen vor Illusionen über Steuerbarkeit durch harte Linie
Der Asyl- und Migrationsbericht der EU ruft ebenfalls in Erinnerung, dass sich Migration perspektivisch nur bedingt steuern lässt. Auch Migrationsforscher wie Hein de Haas
warnen Politiker vor Illusionen und machen deutlich, dass restriktive Maßnahmen Migrationsbewegungen allenfalls kurzfristig drosseln können. Die Ursachen sind vielschichtig und variabel, Dynamiken verlaufen wellenförmig und neue Zäune führen dazu, dass Schleusernetzwerke nach Ausweichrouten suchen.
Entsprechend ist man sich auch innerhalb der EU bewusst, dass ein signifikanter Teil der Migrationsbewegungen zunächst einmal gar nicht über den EU-Verteilungsmechanismus, sondern in Form „spontaner“ Migration stattfindet.
Hein de Haas nennt mehrere Gründe dafür, dass die von den Staaten versprochene scharfe Kontrolle der Migration „Illusionspolitik“ bleibe. Neben dem Katz-und-Maus-Effekt von geschlossenen Routen und Ausweichrouten beeinflussen auch noch weitere Umstände das Migrationsgeschehen.
Warum Deutschland weiterhin beliebtes Zielland bleiben wird
So verhindere die Schließung legaler Migrationswege zyklische Migration und damit auch Rückwanderungen. Wo diese unterblieben, wachse die Zahl der Eingewanderten jedoch auch bei geringem Neuzuzug. In Aussicht gestellte neue Kontrollen könnten hingegen präventive Migrationsschübe auslösen. Abschreckung funktioniert nur begrenzt, da die Ursachen der Migration bestehen blieben. In Mittel- und Nordeuropa bleibe der Arbeitskräftebedarf ein starker Sogfaktor. Hinzu komme der Effekt, dass soziale Netzwerke Wanderungsbewegungen verstärkten.
Was Deutschland voraussichtlich weiter zum Zielland von Migrationsbewegungen machen dürfte, sind mehrere Faktoren. Das Land ist nach wie vor wirtschaftlich stärker als viele andere EU-Länder und hat zudem eine sehr ungünstige demografische Lage. Diese schafft einen hohen strukturellen Bedarf an Arbeitskräften in den Bereichen Pflege, Dienstleistungen und Handwerk.
Die Stabilität, die Deutschland aufgrund seiner als verlässlich angesehenen Verwaltungsstrukturen aufweist, sowie die soziale Sicherung gehören zu den weiteren Aspekten, die das Land als Zielland attraktiv erhalten. Außerdem haben sich bereits zahlreiche Communities aus bestimmten Herkunftsländern etabliert. Diese verstärken Migrationsbewegungen über Familiennachzug, Arbeitsmigration und soziale Kontakte. All diese Faktoren sprechen nicht dafür, dass die Bemühungen um eine europäisch koordinierte Asylpolitik eine vollständige Trendwende bei der Fluchtmigration nach Deutschland auslösen werden.