Volksverdummung oder „Nachhilfe in Diskussionskultur“?
Die erste Live-Ausgabe der ARD-Mitmachsendung „Die 100 – was Deutschland bewegt“ hat viel Resonanz erfahren: Die Reaktionen reichten von Lob über Spott bis hin zur Fassungslosigkeit. Besonders der regierungstreue Part von Anna Planken und eine Karte zum Hautfarbenabgleich erregten die Gemüter.
0
Link kopieren
Anlässlich der ersten Live-Ausgabe der ARD-Sendung „Die 100 – was Deutschland bewegt“ feierten „Deutschlandmaskottchen“ Schlandi, Friedrich Merz als Pappfigur und Moderatorin Anna Planken die Erfolge Deutschlands.
Die ARD-Sendung zum Thema „Werden wir gut regiert?“ löst teils heftige Reaktionen aus
Social-Media-Nutzer betrachten besonders Anna Plankens Auftritt als Fürsprecherin der Regierungspolitik als „Propaganda“
Schweizer „Weltwoche“ fühlt sich an „Wahlkampfveranstaltung der Koalitionsregierung“ erinnert
Redaktion wählt Publikum aus dem Bewerberkreis nach „unterschiedlichen Ansichten“ aus
Das ARD-Mitmachformat „Die 100 – was Deutschland bewegt“ wurde am 8. Dezember 2025 zum ersten Mal live ausgestrahlt. Ort der 60-minütigen Meinungsshow war die Göttinger Lokhalle. Anna Planken, Till Nassif und Ingo Zamperoni führten durch die Sendung. Zwischendurch wurde das 100-köpfige Saalpublikum befragt und durfte über aktuelle politische Themen abstimmen.
Während Till Nassif für den vorwiegend kritischen Part der Themenaufbereitung zuständig war, bemühte sich Anna Planken, den Gästen vor Ort und den Fernsehzuschauern zur Titelfrage „Werden wir gut regiert?“ ein überzeugtes „Ja!“ zu entlocken.
„Die Autoren dieser Ausgabe dürfen stündlich mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes rechnen“, witzelte im Anschluss die Schweizer „Weltwoche“, denn:
„Nicht einmal im Fernsehen der einstigen DDR wäre eine so unkritische Lobhudelei auf eine Regierung durchgegangen“.
Unterm Strich sei die ganze Sendung aufgezogen worden „wie eine Wahlkampfveranstaltung der Koalitionsregierung“, so „Weltwoche“-Autor Stefan Millius.
Milliardenschulden? – „Investitionspaket!“
Kurz nach der Anmoderation hatte Anna Planken eine „Deutschlandparty“ ausgerufen, um unter den Klängen von Stimmungshits die Politik der schwarz-roten Bundesregierung in ein positives Licht zu rücken.
Einige Auszüge aus ihrer Liste von „Super Facts“: Die Bundesrepublik sei trotz aller Krisen immer noch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, liege bei der Anzahl der Patentanmeldungen auf Rang fünf, und wegen des 500 Milliarden Euro schweren „Investitionspakets“ könnten sich die Deutschen – dank „Macher“ Merz – spätestens 2026 auf eine bessere Infrastruktur freuen. Das Wort Schulden blieb unerwähnt. Stattdessen hieß es: „Party on! Deutschland hat Grund zum Feiern!“
Das „500 Milliarden Investitionspaket!“ der Bundesregierung sollte nach Meinung von WDR-Moderatorin Anna Planken für gute Laune und Zuversicht unter den Deutschen sorgen.
Auch um das Know-how bei der Weltraumtechnologie werde man international beneidet, so Planken, und überhaupt seien zwei Drittel der Menschen mit ihrem Wohlstand zufrieden.
Im Hinblick auf die Migrationswende habe Merz „geliefert wie bestellt“. Das zeige sich schon daran, dass die Zahl der Ankommenden sinke und viele „Flüchtlingsbetten“ mittlerweile abgebaut würden. Das bedeute „weniger Stress“ an den Schulen und auf dem Wohnungsmarkt.
Eine mit schwarz-rot-goldener Perücke ausgestattete Pappfigur in Gestalt des Bundeskanzlers und ein „Deutschlandmaskottchen“ namens „Schlandi“ im Adlerkostüm feierten dazu auf der Bühne mit, La-Ola-Rumpfbeugen inklusive.
Hautfarbe als Kern der Stadtbild-Debatte
Nassif verwies in seiner Rolle als Regierungskritiker auf die steigenden Kosten für Lebensmittel, Energie, Krankenversicherungen, auf die steigenden Insolvenzen und Arbeitslosenzahlen und das schwächelnde Wirtschaftswachstum.
Besonders viel Zeit nahm er sich allerdings für die Frage, welches Fass Friedrich Merz mit seiner „Stadtbild“-Aussage aufgemacht hatte. Ein grundsätzliches Problem mit der Migration sah er – wie Planken – allerdings nicht.
Um seinen Standpunkt zu veranschaulichen, griff Nassif auf eine Taschenlampe und eine Farbskala aus der satirischen US-Zeichentrickserie „Family Guy“ zurück: Ein Mensch mit dunkler Hautfarbe wäre demnach „nicht okay“. Ein junger Mann mit dunklem Teint nahm’s mit Humor, beklagte aber auch den „Populismus“ im Internet. Deshalb sei es „in letzter Zeit irgendwie schlimmer“ geworden.
„Wie fühlt sich das an?“ Moderator Till Nassif hielt einem stark pigmentierten jungen Mann eine Hautfarbenskala entgegen: Wäre er im Sinne der Merzschen „Stadtbild“-Debatte noch „ok“?
Foto: Bildschirmfoto/ARD-„Mediathek“
Per Videoeinspieler teilte gleich im Anschluss ein türkeistämmiger Facharzt mit, wie sehr ihn die Worte des Kanzlers verletzt hätten. Tosender Applaus aus dem Publikum erschallte. Nach mahnenden Worten Nassifs, der Bundeskanzler dürfe nicht „mit einem Geraune von einem ‚Stadtbild‘ Millionen Bürger vor den Kopf stoßen“, denn sonst regiere er „nicht gut“, entschieden sich schließlich 79 Prozent des Saalpublikums für die Aussage „Merz spaltet die Gesellschaft“.
Direkt vor der Sendung hatte sich der Kanzler im Ersten Fragen der Bürger gestellt. Sein Auftritt hatte 3,25 Millionen Zuschauer vor die Bildschirme gelockt, bei der nachfolgenden „Die 100“-Ausgabe sahen 2,43 Millionen zu.
Dann war wieder Planken dran. Sie sei froh, dass Merz nicht wie US-Präsident Donald Trump mit Fäkal-Videofilmchen „gegen Andersdenkende“ vorgehe oder wie Javier Milei mit der Kettensäge hantiere, erklärte die Moderatorin. Es sei eben „ein mühseliger Weg, demokratisch zu sein“, sagte Planken, während im Hintergrund Bilder vom nordkoreanischen Parlament zu sehen waren.
Der deutsche Kanzler hingegen sei „nicht nur bei uns im Sinne des Kompromisses unterwegs“, sondern setze sich auch international für eine „Friedenslösung“ und für „gemeinsame europäische Wege“ ein. Dass Merz beim Rentenpaket mit der Opposition kooperiert habe, sei „lebendige Demokratie“, lobte Planken, ohne den Unvereinbarkeitsbeschluss der Union zu den Linken zu erwähnen.
Am Ende entschieden sich trotzdem 74 Prozent des Publikums für die Aussage, dass Deutschland derzeit nicht gut regiert werde. Lediglich 17 Prozent hielten das Gegenteil für richtig. Zu Beginn der Sendung hatte es 76:15 gestanden.
Trotz der überwiegenden Skepsis im Publikum zur Qualität der Regierungsleistung wurden während der Sendung „Die 100“ eine „Deutschlandparty“ gefeiert.
Foto: Bildschirmfoto/ARD-„Mediathek“
Reaktionen: Von Lob bis Häme
Der „Focus“ wertete die Sendung als „60 Minuten geballte Nachhilfe in Diskussionskultur“, mit der die ARD endlich ihrem Bildungsauftrag nachkomme. Dass es während der Debatten im Publikum keine Meinungen gegeben habe, die stark vom Mainstream abgewichen wären, sei lediglich ein „kleiner Makel“.
„Selbst bei der Volksverdummung gibt sich die ARD keine Mühe mehr“, titelte dagegen die „Berliner Zeitung“. Das Format habe so gewirkt, als ob „sich eine Social-Media-Abteilung, eine Eventagentur und die PR-Agentur der Bundesregierung in einem Studio eingeschlossen und ausbaldowert“ hätten, „wie sich aus der Krise dieses Landes eine Motto-Party machen lässt“. Es sei „absurd“, die „politisch hochkomplexen Entwicklungen auf zwei Sätze“ zu schrumpfen. Der „Hautfarben-Check“ sei der „Tiefpunkt des Abends“ gewesen, meint Kommentatorin Sophie-Marie Schulz:
„Die ARD […] reproduziert rassistische Stereotype, verkauft diese als pädagogisches Experiment und garniert sie mit Betroffenheitsmiene.“
Insgesamt sei die Sendung ein weiterer Beleg dafür, „dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk längst zur Karikatur seiner selbst verkommen“ sei.
Auch bei der Nachbetrachtung von „NiUS“ überwogen spöttische Töne (Video auf „YouTube“). Studiogast Gerald Grosz verglich den Auftritt von Planken mit dem einer nordkoreanischen Nachrichtenmoderatorin. „Genau so minimalisiert sich mittlerweile in Deutschland der Öffentlich-Rechtliche als reines Propagandainstrument“, so Grosz.
„Apollo News“-Chefredakteur Max Mannhart wies darauf hin, dass der Rückgang der Asylantragszahlen fast ausschließlich auf externe Faktoren zurückzuführen sei und „gar nichts“ mit der deutschen Politik zu tun habe. Zudem sei die Behauptung, die Migrationswende sei gelungen, „einfach lächerlich“.
Social Media: Gehirnwäsche?
Der X-Nutzer „horizont“ postete ein Foto des lächelnden Publikums und schrieb in Anspielung auf George Orwells Roman „1984“ dazu: „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. UNWISSENHEIT IST STÄRKE. #Die100“.
Dr. David Lütke nannte die Sendung auf seinem X-Kanal „die schlimmste Propaganda seit 1989“.
Der Diplom-Betriebswirt und ehemalige Berufssoldat Georg Pazderski twitterte von „ÖRR-Schwachsinn“:
„Mit der armseligen, an DDR-Zeiten erinnernden ARD-Propagandashow ‚Die 100‘ will man zeigen, wie toll es Deutschland geht und wie supertoll MERZ ist. UND DAS GEHT VOLL IN DIE HOSE. Bauer sucht Frau auf RTL hatte zur selben Zeit 50.000 mehr Zuschauer.“
Der YouTuber „Andi in Deutschland“, TV-Talkshowkommentator mit 87.000 Abonnenten, sprach angesichts von Plankens „Deutschlandparty“ von der „billigsten Form der Propaganda“. Viele Wirtschaftsexperten und Journalisten sähen angesichts des Umgangs mit den Sonderschulden längst einen „Verschiebebahnhof“, der für konsumptive Ausgaben verwendet würde. Trotzdem besitze die ARD die „Dreistigkeit“, ein „500-Milliarden-Investitionspaket“ zu feiern.
„Es ist beschämend, es ist peinlich, es ist Gehirnwäsche für 18,36“, so Andi in Deutschland unter Anspielung auf die monatlich zu entrichtende Rundfunkgebühr (Video auf „YouTube“).
NDR: Menschen „mit unterschiedlichen Ansichten“ als Teilnehmer ausgewählt
Der NDR als koproduzierende Anstalt ließ die Frage nach dem Ausmaß der negativen oder positiven Reaktionen auf die Sendung unbeantwortet. „Eine Sendung wie ‚Die 100‘ ist darauf ausgelegt, vielfältige Meinungen abzubilden und eine Debatte anzustoßen“, hieß es vonseiten des NDR-Presseteams.
Bei der Auswahl der 100 Studiogäste achte die Redaktion darauf, dass es eine Mischung gebe. Man frage „im Vorfeld auch nach allgemeinen Ansichten, um sicherzustellen, dass möglichst Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen“. Repräsentativ sei die Auswahl nicht.
Patrick Reitler, geboren in den späten Sechzigerjahren am Rande der Republik. Studium der Komparatistik, Informationswissenschaft und Sozialpsychologie. Seit der Jahrtausendwende als Journalist hauptsächlich in Online-Redaktionen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und als Fußballkommentator unterwegs. Seit Ende 2022 freier Autor. Bei Epoch Times vorwiegend für deutsche Politik zuständig.