Lauterbach unter Druck: Gerichte, Politik und Bürger drängen auf lückenlose Corona-Aufarbeitung

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat eine Corona-Aufarbeitung noch vor der Bundestagswahl 2025 gefordert. Doch nach Auffassung von FDP und Grünen wird die Zeit allmählich knapp. Der BSW-Europaabgeordnete Dr. Friedrich Pürner fordert Lauterbachs sofortigen Rücktritt.
Der Bundesminister für Gesundheit und SPD-Politiker: Karl Lauterbach.
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) will nicht den Eindruck erwecken, in Sachen Corona-Politik gebe es etwas zu verbergen (Archivbild).Foto: Britta Pedersen/dpa
Von 17. September 2024

Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) hat sich erneut für eine Aufarbeitung der Corona-Politik ausgesprochen.

„Ich fordere, dass es eine Aufklärung in dieser Legislaturperiode noch gibt“, erklärte der Chef des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) am 15. September 2024 in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, etwas zu verbergen zu haben:

Wir brauchen auf jeden Fall ein klares Signal, wir haben die Zeit noch das aufzuarbeiten. Es sollte kommen, sonst entsteht ein falscher Eindruck.“

In Deutschland sei man mit dem „vorsichtigen“ Kurs im Vergleich zu anderen Ländern „eigentlich gut durch die Pandemie gekommen“, was Todesfälle, schwere Verläufe oder „Long COVID“ anbelange, meinte Lauterbach (Kurzvideo auf X). Ähnlich hatte er sich seit der Ankündigung seiner Transparenzoffensive am 28. März dieses Jahres immer wieder geäußert.

Während der Krise habe man vieles, aber eben nicht alles richtig gemacht – etwa beim Umgang mit den Kindern, wie der BMG-Chef nicht zum ersten Mal betonte. Er glaube trotzdem nicht, dass die Beobachtung aus den jüngsten Wahlanalysen, nach denen Jugendliche neuerdings „stärker rechts“ wählten, allein mit einem Vertrauensverlust aus der Corona-Zeit zusammenhänge. Vielmehr seien soziale Medien wie „TikTok“ hier „wichtige Faktoren“, meinte Lauterbach (Video ab circa 6:22 Minuten in der ARD-Mediathek).

Persönliche Konsequenzen zu ziehen, wie es etwa der FDP-Parteivize und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki gefordert hatte, lehnt Lauterbach bis heute ab.

FDP und Grüne mahnen zur Eile

Bei Konstantin Kuhle, dem stellvertretenden FDP-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, rennt der Gesundheitsminister mit seiner Forderung nach Aufklärung offene Türen ein: Kuhle plädierte im „Bericht aus Berlin“ ebenfalls für eine schnelle Corona-Aufarbeitung innerhalb eines Jahres. Die „Verletzungen und Bürgerrechtseinschränkungen der Coronapandemie“ müssten „endlich aufgearbeitet werden“, „schnell und gerne“ noch in der laufenden Legislatur.

Britta Haßelmann, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, mahnte ebenfalls zur Eile:

Das Zeitfenster, das jetzt zu entscheiden, ist ganz eng. Es muss in den nächsten zwei Wochen entschieden sein, sonst bringen wir das nicht mehr auf den Weg, um damit dann auch ganze Kommissionen oder Bürgerräte zu befassen.“

Bürgerräte – dieses nicht im Grundgesetz legitimierte Gremium scheint in der Ampelregierung derzeit in Mode zu sein. Gerade erst ließ Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen Bürgerrat Ideen gegen „Desinformation“ formulieren, und auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte im ARD-Sommerinterview im Juni einen Bürgerrat als „sympathischsten Vorschlag“ für eine Corona-Aufarbeitung bejaht.

„Nicht falsch“ findet das nach eigener Aussage auch Lauterbach, ohne sich allerdings „einmischen“ zu wollen, welches Gremium es denn nun machen solle. Vorschläge, nach denen es eine Enquete-Kommission (FDP) oder einen Untersuchungsausschuss im Bundestag (AfD, BSW) geben sollte, waren bis dato im Sande verlaufen.

Bricht ein Gerichtsbeschluss den Bann?

Ein aktuelles Gerichtsurteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück könnte einen Beitrag speziell zur Aufarbeitung der Impfpflicht im Gesundheitswesen voranbringen. Das Gericht hatte am 3. September die entsprechende Corona-Verordnung zur Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit an das Bundesverfassungsgericht überwiesen.

Die Rechtswissenschaftlerin und Ethikrat-Angehörige Frauke Rostalski erklärte gegenüber der „Tagesschau“, dass der Beschluss, der sich auch auf die Erkenntnisse aus den RKI-Files stützte, „juristisch alles“ ändere: „Wenn es nämlich keinen Fremdschutz gibt, der gegenüber Ungeimpften signifikant erhöht ist, dann dient die Impfung dem Selbstschutz.“ Das vom Gesetzgeber stets vorgebrachte Argument des Fremdschutzes fiele weg.

Dr. Friedrich Pürner fordert Lauterbachs Rücktritt

Der Epidemiologe Dr. Friedrich Pürner, seit der EU-Wahl für das BSW im EU-Parlament aktiv, kam auf seinem X-Kanal auf das von Lauterbach geforderte „klare Signal“ zu sprechen: „Karl Lauterbach muss sofort sein Amt verlieren. Er darf an einer Aufarbeitung nicht beteiligt sein und nie wieder Verantwortung tragen. Nie wieder“, twitterte der während der Corona-Zeit politisch in Ungnade gefallene Ex-Gesundheitsamtsleiter von Aichach-Friedberg.

Ähnlich sieht das der X-Kanal „RKI Files Info“: „Herr Lauterbach muss auf der Stelle zurück treten. Dann benötigen wir sofort einen Corona-Untersuchungsausschuss, bei dem alle Beteiligten unter Eid aussagen müssen.“ Immerhin hätten die RKI-Protokolle „schon längst veröffentlicht werden können“, so „RKI Files Info“, „es ist eine staatliche Behörde und Menschen in diesem Land haben und hatten ein Anrecht auf Transparenz“.

Der Finanzprofessor Stefan Homburg bemängelte auf X, dass die ARD nicht auch Kritiker wie Dr. Wolfgang Wodarg hatte zu Wort kommen lassen oder die Herkunft der RKI-Files nicht erwähnte: „Die Journalisten vom ÖRR haben nicht ordentlich recherchiert und nichts aufgedeckt. Sie sitzen in ihren Büros und plappern nach, was die Regierung vorgibt“, so seine Einschätzung.

Prof. Streeck für „große wissenschaftliche Konferenz“ und „politische Aufarbeitung“

Auch der prominente Virologe Prof. Hendrik Streeck (CDU), früher selbst Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung und heute einer von vier Sachverständigen der nordrhein-westfälischen Enquete-Kommission zur Corona-Aufarbeitung, kam am 15. September in einem „Bericht aus Berlin Extra“ zu Wort (Video auf YouTube).

Für Streeck steht bereits fest, dass man „das nächste Mal“ nicht nur Virologen, sondern viel früher auch Hygienikern, Soziologen, Wirtschaftsweisen, Juristen, Kinderärzten und Psychologen Gehör schenken sollte. Streeck betonte, dass sich im Spannungsfeld zwischen dem „Wunsch nach Nähe und Liebe“ und dem Schutz vor Infektionen teilweise „grausame Szenen“ abgespielt hätten.

Zur „primären Aufarbeitung“ wäre für ihn „eine große wissenschaftliche Konferenz“ mit vielen thematisch unterschiedlich ausgerichteten Arbeitsgruppen der richtige Weg. Gleichzeitig, aber getrennt davon, müsse eine „politische Aufarbeitung“ stattfinden, so Streeck. Auch die Erfahrungen und das Wissen der Bürger müssten angehört werden.

Nutzwertanalyse der Maßnahmen fehlt

Der bisherige „gute“ Corona-Impfstoff schütze zwar nicht vor einer Infektion, räumte Streeck ein, aber vor einem „schweren Verlauf“. Durch die „aufgebaute Immunität“ lege mittlerweile ohnehin ein „milderer Verlauf“ vor. Da das Coronavirus in Deutschland „heimisch“ geworden sei, müsse man „vor allem im Herbst und Winter“ aber immer wieder mit „Wellen von neuen Infektionen“ rechnen:

Bis man einen Impfstoff entwickelt hat, der wirklich schützt vor einer Infektion, was nicht leicht ist bei so ’nem Virus, werden wir auch das Coronavirus weiter auch mit Infektionen haben.“

Die ersten mRNA-Corona-Impfstoffe waren nach wenigen Monaten Pharmaforschung im Dezember 2020 für die breitflächige Verabreichung freigegeben worden. Mit Impfbeginn war die Zahl der Todesfälle und Nebenwirkungen deutlich angestiegen. Die Frage, ob es sich bloß um Korrelation oder um Kausalität handelte, ist stark umstritten.

Eine wissenschaftliche Nutzwertanalyse der Maßnahmen fehlt nach Angaben von Streeck bis heute. „Man hat das im Grunde durch Modellierung versucht zu verstehen“, sagte der Virologe, „auf der anderen Seite können da auch leichte Drehungen an den Stellschrauben dazu führen, dass die Modelle nicht ganz so gut vorhersagen.“ Es existiere jedenfalls kein „paralleles Universum, keine parallelen Modelle“, auf deren Grundlage man sagen könne, dass strengere oder lockerere Maßnahmen auf jeden Fall geholfen hätten oder nicht.

Lockdown mancherorts kontraproduktiv

Streeck selbst erklärte, dass er selbst auch in der Rückschau in den meisten Fällen wieder so handeln würde. Ein zentraler Fehler in der ganzen Betrachtung der Corona-Krise sei allerdings, dass „immer nur auf die Infektionszahlen geschaut“ werde.

„Das größte Problem“ sei, andere Folgen wie Depressionen, Essstörungen oder Existenzverluste nicht genügend beachtet zu haben. Der Lockdown etwa habe die Infektionszahlen in einigen Stadtteilen und Regionen, in denen „ärmere Menschen“ wohnten, die sich nicht hätten aus dem Weg gehen können, sogar „nach oben getrieben“ (Kurzvideo auf X).

Lauterbach plädiert schon länger für mehr Transparenz

Am 28. März 2024 hatte Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD) unter dem Druck einer ersten Charge vom „Multipolar-Magazin“ freigeklagter, noch teilgeschwärzter Protokolle RKI erstmals eine Transparenzoffensive für die Maßnahmenpolitik angekündigt: Die Papiere sollten in einer „weitestgehend entschwärzten“ Fassung in „vielleicht vier Wochen“ veröffentlicht werden, so der BMG-Chef damals. Es dauerte dann doch zwei Monate, bis eine noch immer in Teilen unkenntliche Version vorlag.

Schließlich war es ein Team um die freie Journalistin Aya Velázquez, das am 23. Juli 2024 sämtliche „RKI-Files“ in einer vollständig lesbaren Fassung inklusive aller Namen und mit bislang unbekanntem Zusatzmaterial präsentierte. Als Quelle nannte Velázquez eine oder einen anonymen „Whistleblower/in“ aus dem RKI.

Spätestens seitdem steht fest: Die Politik folgte in den Jahren 2020 bis 2023 nicht immer der RKI-Fachexpertise. Vielmehr hatte das RKI als nachgeordnete Bundesbehörde zumindest nach außen den politischen Anordnungen der Bundesregierung zu entsprechen.

Der Soziologe Prof. Heinz Bude, der im März 2020 selbst Teil der COVID-19-Task-Force des Bundesinnenministeriums gewesen war, hatte im Januar 2024 zugegeben, dass es bei seinem Auftrag auch darum gegangen sei, „Folgebereitschaft“ in der Bevölkerung herzustellen.



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