Die verborgene Rolle der Milchstraße in der altägyptischen Mythologie

Gibt es eine Verbindung zwischen der altägyptischen Himmelsgöttin Nut und der Milchstraße? Forscher der Universität Portsmouth, England, sagen Ja – und sie passt zu den multikulturellen Mythen über unsere Heimatgalaxie.
Die verborgene Rolle der Milchstraße in der altägyptischen Mythologie
Noch heute sind die alten Ägypter für ihren tiefen religiösen Glauben und ihr fortgeschrittenes astronomisches Wissen bekannt.Foto: iStock
Von 8. Mai 2024

Das breite Band aus schillerndem Licht und dunklen Schatten, das den Nachthimmel durchzieht, fasziniert die Menschheit schon lange. Heute ist es unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt: Milchstraße, Silberfluss oder Vogelweg. Menschen sahen in ihr das himmlische Gegenstück zu den großen Flüssen, einen Weg für verstorbene Geister oder den Geburtsort von Engeln. Aber wie die Alten Ägypter die Milchstraße sahen, ist ein Rätsel geblieben.

Die Hochkultur am Nil ist heute für ihren tiefen religiösen Glauben und ihr fortgeschrittenes Wissen bekannt. Neben der Medizin, der Architektur und dem Handwerk besaßen die Alten Ägypter zudem ein enormes astronomisches Wissen. Sonne, Mond und Planeten waren ihnen daher nicht unbekannt. Sie ließen ihre astronomischen Beobachtungen in ihre Religion, Mythologie und Zeitrechnung einfließen – erfanden Konzepte wie das 365-Tage-Jahr und den 24-Stunden-Tag. Aber wussten sie auch von unserer Heimatgalaxie?

Dr. Or Graur, ein Astrophysiker der University Portsmouth in England, ist sich sicher, dass die Alten Ägypter die Milchstraße bereits kannten. Doch das ist noch nicht alles. Zudem scheint unsere Galaxie eine wichtige Rolle in der ägyptischen Religion und Kultur zu spielen – und diese himmlische Verbindung ist einer Frau zu verdanken.

Darstellung von Nut als Himmel bzw. Milchstraße und Geb als Erde

Die sternenübersäte Himmelsgöttin Nut beugt sich schützend und mit ausgestreckten Armen über ihren Gemahl, den Erdgott Geb. Foto: Gemeinfrei

Göttliche Verbindungen

Bei dieser Frau handelt es sich um Nut, die altägyptische Göttin des Himmels und eine der Urgötter nach dem Schöpfungsmythos „Neunheit von Heliopolis“. Sie wird oft sternenübersät, mit ausgestreckten Armen und über ihren Gemahl und Bruder, den Erdgott Geb, gebeugt dargestellt. Diese Haltung symbolisiert gleichzeitig ihre göttliche Aufgabe: Sie schützt die Erde vor der sogenannten Urflut, dem Wasser der Leere.

Außerdem spielt die Himmelsgöttin eine zentrale Rolle im Lauf der Gestirne. Als Tochter des Schu, des Gottes der Luft, und der Tefnut, der Göttin des Feuers, ist sie eng mit der Sonne verbunden. So verschlingt sie diese in der Abenddämmerung und gebärt sie neu, wenn sie am Morgen wieder aufgeht.

Milchstraße oder Himmel – Göttin Nut könnte beides darstellen

Diese Grabmalerei zeigt Göttin Nut, wie sie am Ende des Tages die Sonne verschluckt. Foto: Hans Bernhard, Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 DEED

Wenn es nach Dr. Or Graur geht, stellt Nut indes nicht nur den irdischen Himmel dar, sondern auch unsere gesamte Galaxie. „Ich bin auf die Himmelsgöttin Nut gestoßen, als ich ein Buch über Galaxien schrieb und mich mit der Mythologie der Milchstraße beschäftigte. Ich nahm meine Töchter in ein Museum mit, und sie waren von diesem Bild einer gewölbten Frau verzaubert und wollten immer wieder Geschichten über sie hören“, sagt Graur.

Bereits früher stellten Ägyptologen wie Kurt Sethe anhand des Spruchs 176 des ägyptischen Totenbuchs die Theorie auf, dass Nut als Himmelsband die Milchstraße symbolisiere. Diese Idee stieß jedoch auf starke Kritik und viele Historiker lehnten sie ab. Dr. Graur ging dieser Spur nun aus astrophysikalischer Sicht nach.

Ausschnitt aus dem ägyptischen Totenbuch. Foto: Gemeinfrei

„Mein Interesse war geweckt und ich beschloss, Astronomie und Ägyptologie zu kombinieren. Ich wollte somit eine doppelte Analyse – astronomisch und kulturell – der Himmelsgöttin durchführen, um zu prüfen, ob sie wirklich mit der Milchstraße in Verbindung gebracht werden kann“, so der Astrophysiker.

Die Milchstraße ist eine Frau

Bei seiner Forschung stützte sich Dr. Graur auf eine umfangreiche Sammlung antiker Quellen, darunter Pyramiden- und Sargtexte sowie das Buch der Nut. Danach verglich er diese mit modernsten Simulationen des ägyptischen Nachthimmels, wie er vor 3.000 bis 4.000 Jahren ausgesehen hat. Dabei fand der Astrophysiker eindeutige Beweise für eine Verbindung zwischen Himmelsgöttin Nut und der Milchstraße.

Damals wie heute änderte sich die Erscheinung der Milchstraße mit ihrem Auftauchen und Verschwinden im Laufe einer Nacht und von einer Jahreszeit zur nächsten. Im Winter überquerte sie den Himmel diagonal von Südosten nach Nordwesten, während sie sich im Sommer in einem Bogen von Nordosten nach Südwesten bewegte. Eben jene Position scheint auch in den Schriften wiedergegeben zu sein.

So werden darin der Kopf und das Gesäß von Nut mit dem westlichen beziehungsweise dem östlichen Horizont gleichgesetzt. Ihre Arme sind ausgestreckt, wobei ihr rechter im Nordwesten und ihr linker Arm im Südosten liegt. Diese sehr spezifische Ausrichtung entspricht genau dem Verlauf der Milchstraße am Winterhimmel. Im Sommer folgt sie dagegen Nuts Rückgrat.

Himmelsgöttin Nut symbolisiert die Milchstraße

Die Himmelsgöttin Nut wird in Zeichnungen immer mit einem Wasserkrug auf dem Kopf dargestellt. Foto: A. Parrot, Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0 DEED

Außerdem könnte die Himmelsgöttin nicht nur die Sonne verschluckt haben, sondern auch eine Reihe wichtiger Sterne. Diese bestimmten Sterne und ihre Gruppierungen dienten nach Ansicht von Ägyptologen als Sternenuhr, um die Zeit während der Nacht zu messen.

Milchstraße in verschiedenen Kulturen

Darüber hinaus verknüpfte Dr. Graur den ägyptischen Glauben mit dem anderer Kulturen und zeigte Ähnlichkeiten in der Interpretation der Milchstraße durch verschiedene Gesellschaften auf.

Anklänge an Nut beziehungsweise die Milchstraße könnten sogar in zeitgenössischen Mythen überdauert haben. So betrachten mehrere afrikanische Völker die Milchstraße noch heute als das „Rückgrat der Nacht“. Eine weitere Ähnlichkeit gibt es in Botswana beim Volksstamm „G/wi“, dessen Gott „N!adima“ die Sonne bei ihrem Untergang einfängt und verzehrt.

Doch auch in Südamerika und Europa gebe es Analogien. „Meine Studie zeigt auch, dass die Rolle von Nut beim Übergang der Verstorbenen ins Jenseits und ihre Verbindung zum jährlichen Vogelzug mit dem Verständnis der Milchstraße in anderen Kulturen übereinstimmt, zum Beispiel als Geisterstraße bei verschiedenen Völkern in Nord- und Mittelamerika oder als Zug der Vögel in Finnland und im Baltikum“, erklärt Graur.

„Meine Forschung hat gezeigt, wie die Kombination von Wissenschaftsbereichen neue Einblicke in alte Glaubensvorstellungen bieten kann und wie Astronomie die Menschheit über Kulturen, Geografie und Zeit hinweg verbindet“, so der Astrophysiker abschließend.

Die Studie erschien am 2. April 2024 im Fachmagazin „Journal of Astronomical History and Heritage“.



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