In Stein gemeißelt: Paradiesgärten auf Erden

Eine augenöffnende Publikation führt durch die sprießenden und blühenden Gärten gotischer Baukunst.
Titelbild
Vierungspfeiler in der Kathedrale von Toul, mit Weinlaub und kleiner Blattmaske auf der linken Seite, aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen",Foto: Frank Richter
Von 4. März 2024

„Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“ – bereits der Titel des Kunstbandes macht aufmerksam.
 Auf den ersten Blick begeistert auch sein Titelbild, das den Schlussstein einer gotischen Gewölbeverzierung zeigt. In Stein gemeißelt und farbig gefasst, wachsen und ranken auf ihm Weintrauben und -blätter.

Reise in eine faszinierende Welt

Schlägt man das Buch auf, beginnt eine wunderbare Reise in eine einzigartige Welt. In eine Welt, die scheinbar vergangen und doch bis heute kraftvoll präsent ist – in ihren Werken und ihrer tiefgreifenden Wirkung.

Kaum sattsehen kann man sich an den Fotografien von steinernen Zeugen gotischer Bau- und Steinmetzkunst. Gleichzeitig schärfen sie und ihre begleitenden Texte die Wahrnehmung. 
Dieses Buch verändert den Blick auf gotische Kathedralen und unsere Sicht auf die Natur um uns herum.

Mit ihm rücken Pflanzen und ihre gotischen Abbilder in den Fokus, die bisher meist nur als Beiwerk der gen Himmel strebenden Architektur betrachtet wurden – auch in der kunstgeschichtlichen Forschung.

Einzigartiger Bauboom, große Blüte

Dabei zeigt dieses Buch, welch künstlerischer Reichtum in den Ranken, Blumen und Früchten der gotischen Kathedralen schlummert.

Im 13. Jahrhundert, während eines Zeitraums von wenigen Jahrzehnten, entstehen die meisten steinernen Säulenkapitelle, Arkaden und Portale mit vegetabilen Elementen. Es ist die Zeit ihrer größten Blüte.

Ein schier unglaubliches, historisch einmaliges Baugeschehen ging ihr voraus.
Im 12. Jahrhundert waren in der Region der Îl de France um Paris herum und im gesamten sogenannten französischen Kronland, begünstigt durch die wachsende Bedeutung des Königtums und seiner Bistümer, fast 80 Kathedralen emporgewachsen.

Die Kathedrale Notre-Dame in Reims, Foto: Zinneke, CC BY-SA 3.0

Gesamtkunstwerke auf festem Grund

Die im christlichen Glauben fest verankerte Liturgie, ihr Wunsch, der Verehrung Gottes zu dienen und ihre Hoffnung, die Seelen der Menschen durch Schönheit zu erheben, bilden ihr kraftvolles Fundament. Diese stabile spirituelle Basis erklärt, warum das geradezu organische Wachstum der Kathedralen zu wahren Gesamtkunstwerken gelang. Und das, obwohl sich ihre Bauzeit über Jahrzehnte, oft sogar Jahrhunderte erstreckte.

Formal wiederum reichen die gestalterischen Wurzeln der gotischen Kathedralen auf die antike und romanische Baukunst zurück und greifen das Urbild des Baumes und seiner Zweige auf. Als steinerne Stämme ragen die Säulen nun immer höher empor. Gewölbestreben verästeln sich immer feiner.

Blick in das südliche Seitenschiff des Doms zu Meißen, aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“, Foto: Frank Richter

Beseelte Pflanzenwelt

Hundert Jahre nach dem Baubeginn der Kathedralen leuchtet jetzt schließlich die Blattornamentik aus romanischer und antiker Tradition auf.

Nicht von ungefähr, denn die aufstrebenden geistigen Zentren der Kathedralschulen, allen voran Reims, Paris und Chartres, beschäftigen sich neben christlicher Theologie auch intensiv mit antiker Philosophie.

Unter dem Einfluss der Schriften von Autoren wie Platon und Aristoteles wird das Nachdenken über die Natur und ihrer Beseeltheit immer mehr zum wichtigen Teil der mittelalterlichen Gedankenwelt.
So geht insbesondere Aristoteles in seiner bis heute faszinierenden Abhandlung „Über die Pflanzen“ der Frage nach, ob auch sie eine Seele besitzen.

Er beantwortet die Frage mit einem Ja, verortet die Pflanzenseele jedoch klar auf einer sanft schlummernden, dem Menschen dienenden Ebene.

Pflanzensymbolik und Beseeltheit der Pflanzen in der Marienkirche Gelnhausen, Lettnerkapitell mit Lilienstängeln und einer Blattmaske. Aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“, Foto: Frank Richter

Christliche Symbolik

Beseelt und verwoben mit ihrer christlichen Symbolik breitet sich die sprießende und gedeihende Natur in den Kathedralen aus. Nachdem bis zum 13. Jahrhundert figürliche Darstellungen vorgeherrscht hatten, übernimmt nun die Botanik das Zepter und holt so den Garten Eden zurück auf die Erde – in die Mauern geweihter Orte.

Der sehr beliebte Topos des eingefriedeten, friedlichen Paradiesgartens scheint hier auf. Doch anders als die innigen Tafelbilder der Gotik kann die Kathedrale auch physisch durchwandert und erlebt werden: als heilsamer Raum, in dem die Seele Ruhe und Kraft zu schöpfen vermag.

Über 50 verschiedene Pflanzen- und Baumarten werden für diesen friedvollen Ort von unterschiedlichen, fast immer namenlosen Meistern aus Stein gehauen.

Pfade der Inspiration

Die Männer wanderten von Bauhütte zu Bauhütte, erweiterten so ihr Können und brachten ihr neues Wissen und ihre Erfahrungen nach Lothringen, Deutschland und in weitere europäische Länder.

So muss der sogenannte Naumburger Meister als junger Steinmetz zumindest für einige Jahre unter anderem auch in Reims gearbeitet und dort wichtige Einblicke in das Baugeschehen erhalten haben. Das gilt auch für die Arbeit der sogenannten Laubhauer.

Darstellung eines Laubhauers beim Meißeln von Blättern im Dom zu Xanten, aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“, Foto: Frank Richter

In der Kathedrale von Reims erreicht die Kunst dieser spezialisierten Steinmetze die größte Perfektion. Die Kapitellen des Langhauses und die innere Westwand zählen nicht weniger als 90 Ornamentblöcke, auf denen 21 Pflanzenarten dargestellt sind.

Naturnahe Darstellung, vielschichtige Bedeutung

Musterbücher für die Umsetzung der spezifischen Pflanzen gab es allem Anschein nach kaum. Als Menschen der vorindustriellen Epoche waren die kunstfertigen Steinmetze jedoch von Kindheit an mit der sie umgebenden Natur vertraut. Mit großer Sicherheit war ihnen auch die vielschichtige Natursymbolik ihrer Epoche bekannt.

Langhauskapitell in der Kathedrale von Reims mit Wildrose, Eiche mit Gallapfel und Wein, aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“, Foto: Frank Richter

Damals wie heute sind immergrüne Pflanzen wie der Efeu Symbole ewigen Lebens; Weinblätter und -reben weisen auf die Gleichnisse und das Leben Jesu hin.

Blumen wie Lilie und Rose stehen für die Schönheit und Reinheit Mariens. Hopfen, Weißdorn und Beifuß wiederum gehören zu den heilenden, Hahnenfuß, Wermut und Farne zu den schützenden Pflanzen.

Mehr als 50 Pflanzenarten hat der Autor dieses prächtigen Standardwerks zur Gotik ebenso akribisch wie liebevoll abgelichtet. 
Im Zusammenspiel mit seinen atemberaubenden Fotografien aus ausgewählten Kathedralen Frankreichs und Deutschlands entsteht ein Buch, in dem gebauter Glaube, europäische Geschichte und Natur eine unvergleichliche Symbiose eingehen.

Wildrose, Eiche mit Gallapfel und Wein, aus „Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen“, Fotos: Frank Richter

 

Die Pflanzenwelt der gotischen Kathedralen von Frank Richter, erschienen beim Michael Imhof Verlag, 352 Seiten, reich bebildert, ISBN 978-3-7319-0853-1



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