Hildegard von Bingen: Die große Frau des Glaubens

925 Jahre ist es her, dass Hildegard von Bingen im Rheinland geboren wurde. Seither hat ihre Popularität nicht nachgelassen: Es gibt Hildegard-Pilgerwege, Hildegard-Kräuter, ein Hildegard-Museum. Doch wer war diese Frau des Mittelalters, die sogar einen Kaiser Barbarossa erinnern konnte, dass sein Urteil nicht über dem Gottes liege.
Titelbild
Bingen am Rhein. Auf dem dortigen Rupertsberg gründete Hildegard ihr erstes Kloster. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite später das zweite, für nichtadlige Frauen.Foto: iStock
Von 18. April 2023

Der genaue Tag ihrer Geburt ist nicht vermerkt, aber das Jahr: 1098. Das Mädchen Hildegard wird in eine Familie des Hochadels geboren. Schon im Alter von drei Jahren ist sie mit spirituellen Visionen vertraut. Da die Umwelt kaum etwas damit anfangen kann, lernte sie, diese künftig zu verschweigen.

Für ihre Eltern, den Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seine Frau Mechthild, ist sie das zehnte Kind – und damit ein Zehnter an Gott. Nicht zuletzt auch wegen ihrer spirituellen Gabe geben sie Hildegard im Alter von acht Jahren in geistliche Erziehung, zusammen mit der sechs Jahre älteren und mit ihr verwandten Jutta von Sponheim. Beide Frauen wird zeitlebens eine enge Freundschaft verbinden.

Keine Kompromisse

Dass sich Hildegard ihrem spirituellen Leben ohne Wenn und Aber hingibt, zeigt ihre Entscheidung, sich mit 14 unter der Leitung von Jutta von Sponheim mit ein oder zwei anderen adligen Mädchen – hier gibt es unterschiedliche Quellen – in eine Klausnerei zu begeben. Diese ist an das Kloster Disibodenberg angeschlossen. Ob sie sich wirklich einmauern ließen, ist nicht belegt.

Als Jutta von Sponheim mit 44 Jahren 1136 stirbt, wird Hildegard einhellig als ihre Nachfolgerin berufen und Meisterin der Frauenklause, die inzwischen auf zehn Frauen gewachsen ist.

Vor ihr liegt ein Leben, das für eine Frau des Mittelalters nicht außergewöhnlicher sein kann. An seiner Bedeutung hat es bis heute nichts eingebüßt.

Prof. Dr. Michael Embach, Leiter der wissenschaftlichen Bibliothek der Stadt Trier, sagt rund 880 Jahre später in dem Dokumentarfilm „Divine Messengers“: „Es gibt Menschen, die sind Genies. Bei Hildegard würde ich sagen, das geht noch darüber hinaus. Sie ist eine gottbegnadete Persönlichkeit.“

Einmaliges Universalwissen

Sie war vieles: Poetin, Schriftstellerin, Linguistin, Künstlerin, Komponistin, Wissenschaftlerin, Philosophin, Ärztin, Naturforscherin, Prophetin, Theologin, Universalgelehrte, Kosmologin. Schon 500 Jahre vor Galileo Galilei beschreibt sie die Erde als einen rotierenden Ball und berichtet von magnetischen Feldern.

Sie gründete zwei Klöster trotz des entschiedenen Widerstands durch den Abt ihres Klosters. Zudem war sie moralische, geistliche und politische Beraterin von Fürsten- und Königshäusern aus halb Europa und besuchte diese sowie andere Klöster in mehreren ausgedehnten Reisen.

Dabei wagte sie durchaus zu kritisieren und gemahnte auch gerade den Klerus, ein wahrhaft gottgefälliges Leben ohne Mätressen und Ausschweifungen zu führen. Gleichzeitig nimmt sie sich in dem bis heute beliebten medizinischen Buch „Causae et Curae“ auch sexueller Themen an wie „Von der Empfängnis“ oder „Von der geschlechtlichen Begierde“.

Prof. Dr. Embach weiß: „Sie war Sprachrohr, eine Stimme im Dienste höherer Wahrheit und nicht irgendwelche[r] Eigeninteressen.“ So wird das Kloster Disibodenberg und später Kloster Rupertsberg zum Ziel vieler Rat- und Heilsuchender aller Gesellschaftsschichten. Das schloss finanzielle Einnahmen jedoch nicht aus.

„Von Gott bekomme ich Klugheit und Weisheit“

Die Grundlage dieser Präsenz in der Öffentlichkeit sind ihre Visionen. Lange zögert sie, ihre göttlichen Offenbarungen kundzutun. Auch als sie einen eindeutigen göttlichen Ruf bekommt, das Gesehene und Gehörte aufzuschreiben, zwingt sie erst eine ernsthafte Krankheit, diesen Schritt zu tun.

Dabei steht nichts Geringeres als ihr Leben auf dem Spiel. Sollte die Kirchenobrigkeit ihre Erscheinungen nicht anerkennen, wäre sie als Hexe gebrandmarkt. Dr. Eberhard J. Nikitsch von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz: „Wenn eine Nonne begonnen hätte, Visionen zu erzählen – laut –, dann wäre sie sofort irgendwo verschwunden.“

Als sie sich 1141 entschließt, mit Unterstützung von Propst und Klosterbruder Volmar und ihrer Vertrauten Richardis von Stade ihre Visionen schriftlich niederzulegen, wird sie umgehend gesund. 1147 erteilt ihr der Papst Eugen III persönlich die Erlaubnis, diese zu veröffentlichen. Er war mit weiteren hochrangigen Theologen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Visionen echt sind.

Infolgedessen entstehen drei Bücher, alle in Lateinisch. Das erste und bekannteste trägt den Titel Scivias – übersetzt: „Wisse die Wege“ und ist neben den Texten mit 35 von Hildegard gemalten Miniaturen illustriert.

Weiter teilt sie mit, durch diese Visionen ein unmittelbares Verständnis der Heiligen Schrift erhalten zu haben – ohne dass sie diese Schriften studiert hätte. „Es ist vielmehr Folge ihrer enormen Gottesverbundenheit“, kommentiert es Prof. Dr. Embach.

Nicht Schuld, sondern Verantwortung

Hildegards Focus liegt darauf, die positiven Kräfte im Menschen zu aktivieren. So sei Krankheit auch immer ein Anlass, sich selbst zu hinterfragen und das eigene Verhalten zu ändern. Körperliche Symptome könnten eine Manifestation negativer Gedanken und Gefühle sein. Ein Fehlverhalten des Menschen wirke sich wie ein Spiegelbild auf den gesamten Kosmos aus. Denn der Mikrokosmos des menschlichen Körpers bilde sich im Makrokosmos des Universums ab, dessen Proportionen auch einander entsprechen.

Interessant dabei, dass sich die Eigenschaftspaare heiß/kalt sowie trocken/feucht, die laut Hildegard eine wichtige Rolle im Gleichgewicht der Körpersäfte spielen, auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin wiederfinden. Dort sind sie Teil der sechs Teufel, die im falschen Maß angewendet, Ungleichgewicht in unseren Körper bringen können.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Rolle der Musik in Bezug auf Heilung. 77 geistliche Gesänge hat Hildegard der Menschheit hinterlassen. Für sie erlaubt Musik, die Disharmonie der Sünde zu überwinden, um die Einheit von Gott und Mensch wiederherzustellen. Musik und Kräuter passen auch in China zusammen: Sie ergeben das chinesische Schriftzeichen für Heilung.

35 Laster, 35 Tugenden

Schwester Dr. Maura Zátonyi von der St. Hildegard-Akademie in Eibingen sagt dazu: „Hildegard stellt unsere Realität als einen großen Kampf dar […] und in jeder Situation [können wir] die entsprechende positive Kraft dem Bösen entgegenstellen. Dann gibt es 35 Laster und 35 Tugenden. Was ist die negative Kraft [zu] Liebe? Gar nicht Hass, sondern bei Hildegard ist es der Neid. Der Neid zerstört die Liebe.“

Weitere Laster und Tugenden sind: der Exzess, dem die Discretio (die Mäßigung) gegenübersteht. Der Stolz versus Demut. Die Magie (lat. Maleficium), der die göttliche Verehrung als entgegenwirkende Tugend zugeordnet wird.

Als Hildegard am 17. September 1179 mit 81 Jahren stirbt, sollen zwei Lichtsäulen erschienen sein, aufsteigend von ihrem Leichnam gen Himmel. Schon zu Lebzeiten verehrt, wird die Heiligsprechung 1228 angestoßen. Obwohl sie seither als heilig verehrt wird, setzte diese Würdigung erst Papst Benedikt XVI im Jahr 2012 offiziell um.



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