Warum Geschichten wie „Herr der Ringe“ Hoffnung bringen und die Welt „retten“ können

Warum fesseln uns Märchen und Fantasy-Romane so sehr? Wie schafften sie es, Jahrtausende zu überdauern?
Titelbild
Fantasien und Märchen können uns helfen, über die alltägliche Welt hinauszublicken. Eine Illustration von Warwick Goble für eine Ausgabe von „Die Schöne und das Biest“ aus dem Jahr 1913.Foto: Public Domain
Von 24. November 2023

Wussten Sie, dass Märchen wie „Die Schöne und das Biest“, „Rumpelstilzchen“ und „Der Schmied und der Teufel“ bereits vor 4.000 bis 6.000 Jahren in der Bronzezeit entstanden sein könnten? Das glauben Wissenschaftler mittlerweile.

Märchenforscher Dr. Jamie Tehrani, meint, dass diese Geschichten „schon erzählt wurden, bevor es überhaupt Englisch, Französisch und Italienisch gab. Sie wurden wahrscheinlich in einer ausgestorbenen indoeuropäischen Sprache erzählt“. Und dennoch verzaubern sie auch heute noch Kinder.

Und die moderne Form des Märchens, das Genre der Fantasy-Literatur, hat sich zu einem Riesenmarkt in der zeitgenössischen Literatur für Kinder als auch für Erwachsene entwickelt. Worin liegt das anhaltende Interesse an dieser Art von Literatur? Was ist es, dass die Leser in ihren Bann zieht?

Spiritueller Kampf

Die Fantasy-Literatur nimmt spirituelle Eigenschaften und verleiht ihnen eine körperliche Form. In keiner anderen Literatursparte – zumindest in der traditionellen Fantasy-Literatur – wird der Unterschied zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Ehre und Schande so klar herausgearbeitet.

Die Bösewichte in Fantasy-Romanen, wie ein Drache oder ein dunkler Zauberer, sind Verkörperungen des Bösen selbst. Traditionell gibt es keine komplexen Charaktere mit widersprüchlichen Eigenschaften. Die Bösen sind schlicht und einfach böse, weil sie für Kräfte stehen, die verdorben sind, wie die Sünde, die Versuchung oder das Dämonische. Echte Fantasy-Literatur legt Wert auf Moral.

Das soll nicht heißen, dass Märchen zwangsläufig nur Allegorien sind. Ich glaube sogar, dass die besten Märchen das nicht sind. Die beiden großen Meister der Fantasy-Literatur, C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien, verfolgten in dieser Frage unterschiedliche Ansätze.

Lewis‘ Romane, darunter die „Chroniken von Narnia“, sind von offensichtlichen Parallelen zum Christentum geprägt, während Tolkien in seinen Werken bewusst Allegorien vermied, obwohl er „Der Herr der Ringe“ als ein „grundlegend religiöses und katholisches Werk“ bezeichnete.

Ich denke, ein besserer Begriff als Allegorie ist vielleicht „Echo“. In Fantasy-Romanen werden seelische und moralische Kämpfe, denen wir alle im Leben begegnen, aufgegriffen und thematisiert. Monster und Zaubersprüche, die Suche nach dem Sinn des Lebens und wahre Liebe sind Teil unseres Lebens.

Jeder von uns kämpft gegen Monster

Jeder von uns kämpft gegen Monster wie Depression, Armut, Krankheit, Süchte, Ungerechtigkeit, Verlust, den Alltag, was auch immer es sein mag.

Jeder von uns begegnet in seinem Leben auch Zauber – gutem wie schlechtem. Sei es ein Drogenrausch, der Zauber von Musik, die Stille eines sanften Abends und der Zauber der geheimnisvollen Vorgänge und Kräfte der Natur.

Jeder von uns sucht dringlich und unablässig bei der Jagd nach einer Karriere, nach Menschen, denen wir helfen wollen, nach Selbstverwirklichung – und es gibt unzählige Gefahren, die uns von unserer Suche abbringen können.

Und dann ist da noch die Liebe. Wir können vielleicht keine verzauberte Prinzessin durch einen Kuss zum Leben erwecken. Aber wir können Menschen in Not helfen, indem wir ihnen Güte und Freundlichkeit entgegenbringen. Helden gibt es nicht nur in Fantasy-Romanen.

Fantasy-Literatur zeigt uns das Wunderbare unserer Welt und berührt uns im Inneren sehr real und persönlich. C.S. Lewis drückte es in einem Brief an Miss Matthews so aus:

Ich bin nie Orks oder Ents oder Elben begegnet, aber ich habe ein Gefühl dazu. Ein Gefühl einer großen Vergangenheit sowie sinkender Gefahr – von heldenhaften Aufgaben, die von scheinbar unheldenhaften Menschen vollbracht werden, von Ferne, Weite, Fremdheit, Geborgenheit – genau so (alles auf einmal) fühlt sich das Leben für mich an.“

Die verzauberte Welt

Während ein Märchen moralischen und spirituellen Konflikten Form verleiht, nimmt es – paradoxerweise – Dinge aus der realen Welt und setzt sie in Geistiges und Magie um. Beim Lesen von Fantasy-Romanen geht es nicht darum, vor der Realität in eine Traumwelt zu fliehen.

Vielmehr lesen wir Fantasy-Romane, um mit neuen Einsichten in die Welt zurückzukehren. Sie erlauben uns, das Wunderbare der alltäglichen Dinge zu sehen – Realitäten voller Bedeutung, Schönheit und Magie. J.R.R. Tolkien bringt dies in seinem berühmten Essay „On Fairy Stories“ zum Ausdruck:

Und tatsächlich handeln Märchen größtenteils oder (die besseren) hauptsächlich von einfachen oder grundlegenden Dingen, die von der Fantasie unberührt sind. Aber diese Einfachheit wird durch ihre Umgebung umso leuchtender. […] In Märchen erahnte ich zum ersten Mal die Kraft der Worte und das Wundersame der Dinge von Stein und Holz und Eisen, Baum und Gras, Haus und Feuer, Brot und Wein.“

G.K. Chesterton greift diese Gefühle in seinen Überlegungen zu George MacDonalds Fantasy-Roman „Die Prinzessin und der Kobold“ auf. Dieser habe sein „ganzes Leben verändert“. Er habe „all die gewöhnlichen Treppen, Türen und Fenster als magische Dinge realisiert und [zeigte], wie nahe uns von Anfang an gute als auch schlechte Dinge sind.“ Weiter sagt er, der Roman sei „der realistischste, im genauen Sinne des Wortes der lebensähnlichste.“

Der Schriftsteller Neil Gaiman fasst Chesterton dahin gehend zusammen, dass die märchenhafte Vision der Realität „mehr als wahr“ ist. Wie kann denn etwas noch wahrer als wahr sein? Wenn man genug Fantasy-Literatur liest, werden Hügel zu Schauplätzen von Heldentaten, Wälder zu magischen Unterschlupfen, Berge zu apokalyptischen Prophezeiungen und Flüsse zu Wohnsitzen von Wassergeistern.

Keine bloße Illusion

Und das ist keine bloße Illusion; diese Eindrücke von der Welt haben etwas zutiefst Wahres an sich. Jeder, der viel Zeit in der Natur verbracht hat, weiß das. Ich kann nicht genau erklären, warum. Es ist ein Rätsel. Es gibt eine Energie, die unsere Welt durchzieht. Sie ist so alt wie die Zeit und so geheimnisvoll wie der entlegenste Stern und lässt sich am besten mit „faerie“, Reich der feen, ausdrücken.

Unsere Fantasie hilft uns, über normale Dinge zu staunen. In diesem Punkt ist sie genau das Gegenteil von vielen zeitgenössischen „realistischen Romanen“. Chesterton schreibt in „Die Großmutter des Drachens“: „Folklore bedeutet, dass die Seele gesund und das Universum wild und voller Wunder ist. Realismus bedeutet, dass die Welt langweilig und voller Routine ist. Die Seele ist krank und schreit.“

In vielen modernen Romanen – wenn auch sicherlich nicht in allen – spüren wir eine unterschwellige Ablehnung der Realität und eine daraus resultierende Langeweile, die an Verzweiflung grenzt. „Das Leben ist sinnlos und grausam“, so scheint die Schlussfolgerung vieler moderner Romane zu sein. Wie der Literaturprofessor Dr. John Senior in „Der Tod der christlichen Kultur“ schreibt:

Ohne die Nahrung durch Musik wird die Musik krank und die Liebe stirbt, um Misstrauen und Ekel zu hinterlassen. […] Was alle großen Schriftsteller des [20.] Jahrhunderts krank macht, sind sie selbst.“

Sie würden krank, weil sie in sich selbst gefangen seien und den Sinn für Ehrfurcht nach außen verloren haben. An anderer Stelle des Buches schreibt Senior: „Ennui ist die Hölle der Moderne. Die Ästhetik im Extrem ist unästhetisch: gefühllos, ohne Empfindung, bewusstlos.“

Eine märchenhaft inspirierte Sicht auf die Realität ist sicher alles andere als langweilig. Vielmehr ist sie das Gegenmittel zur Langeweile – wie ein frischer Lufthauch.

Das Happy End

„Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ – dieser Satz ist zum Klischee von allem Märchenhaften geworden. Dieser Gedanke wird oft verspottet. Wenn man jemandem sagt, dass er „in einer Traumwelt lebt“ oder „an Märchen glaubt“, impliziert das, dass er die Realität verleugnet.

Ich glaube jedoch, dass der Grund, warum Märchen einen tiefen Eindruck bei uns hinterlassen und uns über Jahrtausende begleitet haben, an ihrem Happy End liegt – auch in scheinbar hoffnungslosen Situationen. Ein Teil von uns möchte glauben – und ich denke zu Recht –, dass Siegen möglich ist, dass am Ende alles wieder gut wird und das Universum uns etwas Gutes beschert.

Der Schriftsteller K.M. Weiland hat zum Beispiel kürzlich über die Kraft von Tolkiens Epos „Der Herr der Ringe“ nachgedacht, nämlich den Leser „dorthin und wieder zurück“ zu bringen – mit anderen Worten, den Leser an den Rand der Verzweiflung zu bringen und ihm dann wieder Hoffnung zu geben. Die Trilogie ist in der Tat ein Buch über Verzweiflung, und doch geht am Ende alles gut aus und gibt Hoffnung. Das macht die immense Kraft guter Fantasy-Literatur aus.

Genau diesen Punkt beschreibt Tolkien selbst gegen Ende seines Essays „On Fairy Stories“. So lasse ich den Meister für sich selbst sprechen und schließe mit seinen Worten diesen Essay:

„Der Trost der Märchen, die Freude über das glückliche Ende oder richtiger, über die gute Katastrophe, die plötzliche freudige ‚Wendung‘ (denn es gibt kein wahres Ende eines Märchens), diese Freude können Märchen besonders gut hervorbringen. Sie ist nicht im Wesentlichen ‚eskapistisch‘ oder ‚flüchtig‘. In ihrer märchenhaften oder jenseitigen Umgebung ist sie eine plötzliche und wundersame Gnade, mit deren Wiederkehr man nie rechnen kann. Sie leugnet nicht die Existenz von Katastrophen, von Leid und Versagen: Die Existenz all dessen ist die Voraussetzung für die Freude nach der Befreiung. Sie leugnet (angesichts vieler Beweise, wenn man so will) die universelle endgültige Niederlage und ist insofern ein Evangelium, das einen flüchtigen Blick auf die Freude gibt, eine Freude jenseits der Mauern der Welt, so ergreifend wie die Trauer.“

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: Stories Like ‚Lord of the Rings‘ Can Save the World. (deutsche Bearbeitung nh)

 

 

 

 

 



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