Ordnungscoach: „Wir leben in einer Zeit des absoluten Überflusses“

Ein leichtes und glückliches Leben beginnt schon in den eigenen vier Wänden. Aufräumen macht glücklich, aber erst später – und sorgt für Klarheit.
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Anika Schwertfeger ist Expertin, wenn es um Ordnung im Innen und Außen und um „loslassen“ geht.Foto: Anika Schwertfeger
Von 14. März 2023

Sie hilft Menschen dabei, sich von Ballast zu befreien und sich den Traum von einem leichten und entspannten Leben zu erfüllen. Als Deutschlands erste KonMari®-Beraterin und Ordnungscoach bringt Anika Schwertfeger nicht nur Klarheit und Struktur in die eigenen vier Wände, sondern auch in das Seelenleben ihrer Klienten. In einer aufgeräumten Umgebung wohnt schließlich ein aufgeräumter Geist.

Die Kunst eines erfüllten Lebens ist aber auch die Kunst des (Los-)Lassens. Das weiß Anika Schwertfeger nur zu genau. Den Prozess musste sie unzählige Male selbst durchleben. Ein schwerer Schicksalsschlag – der Tod ihres Vaters beim Amoklauf in Erfurt 2002 – stellte ihr Leben auf den Kopf.

Damals war sie erst vierzehn. Später durchlebte sie zerbrochene Freundschaften, Trennungen und über 20 Umzüge. Wir sprachen mit der Wahlberlinerin darüber, wie man dauerhaft Ordnung behält, über den Gewinn, den ein vermeintlicher Verlust mit sich bringt, und warum loslassen so wichtig für uns ist.

Frau Schwertfeger, warum macht Aufräumen und Ordnung schaffen glücklich?

Durch die Gestaltung des eigenen Lebens im Außen und Innen lernen wir, Entscheidungen zu treffen und unsere Eigenverantwortung wahrzunehmen. Das Aufräumen im Außen führt dazu, dass wir über innere Themen reflektieren und viel über uns selbst lernen. Dadurch gewinnen wir an Klarheit, die man auch auf andere Lebensbereiche anwenden kann.

Was lässt einen Menschen unordentlich sein?

Zum Einen ist es unsere Sozialisation und Prägung – wie wurden wir erzogen, was wurde uns vorgelebt? War dies eine Unordentlichkeit, schaut man sich das ab. Andersherum genauso. Menschen, die aus sehr ordentlichen Haushalten kommen, haben meist weniger Probleme mit der Ordnung.

Die andere Ebene ist die Verbindung zum Inneren. Die Wohnung im Außen spiegelt wider, wie wir uns fühlen. Es gibt Menschen, die nur phasenweise oder auch nur einen Bereich betreffend unordentlich sind. Manchmal kommt es zu einer Ansammlung von vielen Dingen.

Ein voller Kleiderschrank oder ein sehr unordentliches Büro – das steht oft im Zusammenhang mit dem seelischen Zustand. Der Kleiderschrank steht für das Gefühl des Selbstausdrucks. Man möchte sich verschönern oder verschlanken oder sich auf bestimmte Weise ausdrücken. Im Büro kommt die Unordnung vielleicht durch ein Gedankenchaos zustande.

Kann man sagen, dass sich Materie und Geist beeinflussen?

Definitiv. Wenn ich im Außen beginne und etwas räume oder aussortiere, passiert in Folge auch etwas im Innen. Andersherum ist es genauso: Man verändert sich im Inneren, was sich daraufhin auch im Außen auswirkt. Alle Menschen, die mit einer Veränderung starten, sei es im Innen oder im Außen, merken, dass sich die andere Ebene auch mit verändert. Für mich ist das der Beweis, dass Geist und Materie zusammenhängen.

Loslassen ist ein Thema, das nicht nur bei materiellen Dingen wie beim Aussortieren und Entrümpeln der Wohnung eine Rolle spielt. Warum tun wir uns grundsätzlich so schwer damit, Gegenstände, aber auch Erwartungen und Wünsche loszulassen?

Loslassen bedeutet im ersten Moment erst mal einen Verlust. Es gibt eine Art „Weniger“. Was der Mensch nicht möchte, ist ein Gefühl des Mangels. Abschiede sind meistens nicht schön. Wir spüren im ersten Moment nicht, dass wir durch das Loslassen aber auch enorm viel gewinnen: einen äußeren Raum, einen inneren Frieden oder auch Platz für neue Dinge oder für innere Themen, die uns besonders wichtig sind und mehr Raum verdient haben.

Weil man diesen Gewinn im ersten Moment nicht spürt, schmerzt das Loslassen. Das schöne Gefühl, das wir danach gewinnen, diese „Entlastung“ im wahrsten Sinne des Wortes, tritt erst später ein. Man kann das ganz gut mit dem Fitnessstudio vergleichen. Sport zu machen, ist auch zunächst anstrengend und tut vielleicht weh. Das Gefühl danach ist aber großartig.

Warum ist das Thema Loslassen für Menschen so wichtig?

Wir leben in einer Zeit des absoluten Überflusses. Sowohl an materiellen Dingen als auch in Form von Informationen, wie zum Beispiel durch Social Media. Wir lassen Informationen durch digitale Medien viel häufiger in unser Leben als früher.

Diesen Überfluss, den wir auf allen Ebenen leben, ist unwahrscheinlich anstrengend. Es führt zu Stress, Überforderung, Überlastung. Menschen, die den Schritt gehen und ihr Leben aufräumen möchten, wünschen sich eine Entlastung, mehr Leichtigkeit und mehr Raum für das Sein.

Welche Stärken gewinnen Menschen, wenn sie Ordnung in ihre Wohnung bringen und das Loslassen praktizieren?

Man gewinnt nicht nur diesen physischen Raum und Luft zum Atmen. Einer der wichtigsten Punkte für mich ist die Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit. Wir merken, wozu wir fähig sind und dass wir vieles selbst entscheiden und verändern können.

Die Selbstwirksamkeit ist ein unglaublich tolles Gefühl. Sie stärkt unser Selbstbewusstsein. Gleichzeitig können wir dadurch klare Entscheidungen treffen und Dinge umsetzen. Unsere Umsetzungsstärke wird größer, die Prokrastination wird weniger. Menschen erleben eine regelrechte Beflügelung, die zu weiteren Erfolgen und Ergebnissen in vielen Lebensbereichen führt.

Gewinnt man auch an Resilienz? Gerade das Loslassen ist ja in gewisser Hinsicht mit Leiden verbunden. Wenn man es oft praktiziert, macht es einen psychisch widerstandsfähiger?

Auf jeden Fall. Im Prozess des Ausmistens und Aufräumens kommen auch Gefühle hoch, die nicht immer angenehm sind. Ich wage gar nicht das Wort „negative Gefühle“ zu sagen, weil alle Gefühle ihre Berechtigung haben. Wir lernen oder wollen oft diese Gefühle unterdrücken oder meiden.

In uns sind viele alte Gedanken, Erinnerungen und Gefühle verborgen. Durch das Aufräumen treten sie wieder in den Vordergrund und wir sehen uns diese verborgenen Stellen bewusst an. Wir richten sozusagen die Taschenlampe auf uns selbst und beleuchten diese Stellen. Das macht definitiv stark.

Auch wenn es im ersten Moment erst mal unangenehm sein kann, führt es im Nachklang zu einer Klarheit und Stärke, die man davor nicht hatte. Das würde ich als Resilienz bezeichnen, da es einen auch für zukünftige Situationen stärkt.

Wie gelingt es besser, sich von Anhaftungen wie Wünschen, Erwartungen, Vorurteilen und Groll zu trennen?

Das beschäftigt viele Menschen. Es ist wichtig, sich alle Gefühle, die hochkommen, erst mal anzuschauen und sie zu akzeptieren. Das ist schon der erste Schritt: zu akzeptieren, dass sie da sind. Meistens löst sich da schon viel. Im zweiten Schritt erlaubt man sich, diese Gefühle einmal in voller Fülle und Stärke zuzulassen.

Gefühle von Trauer, Wut, Enttäuschung können zum Beispiel in Form von musizieren, schreiben oder boxen zugelassen werden. Jeder hat einen anderen Zugang. Aber es ist wichtig, die Gefühle einmal richtig zuzulassen. Erst dadurch erleben die Menschen, dass sie es loslassen können.

Es ist schwierig, es über die kognitive Kraft zu schaffen und einfach zu sagen: „Da stehe ich jetzt und lasse das los“ – das funktioniert nicht. Gefühle wollen gefühlt werden. Man kann sich selbst nicht austricksen.

Haben Sie einen praktischen Tipp, wie es gelingt, dauerhaft Ordnung zu halten? 

Der erste und wichtigste Schritt ist das Aussortieren. Das betone ich, weil die meisten Menschen genau diesen Schritt überspringen möchten. Sie sagen: „Ich möchte Ordnung, habe aber keine Lust auszusortieren.“

Es geht aber darum, dass wir uns auf das reduzieren, was wir im Leben wirklich wollen. Was wir nicht nur brauchen, sondern was uns auch glücklich macht und Freude bringt. Durch diese Reduzierung gewinnen wir einen Überblick über das, was wir haben.

Im zweiten Schritt können wir systematisieren und ein Ordnungssystem schaffen. Die Grundregel dabei ist, dass jeder Gegenstand einen festen Platz bekommt, der ihm zugeordnet wird. Im besten Fall nach Ober- und Unterkategorien. Ich arbeite viel mit Beschriftungen. Das erleichtert, den Ort wiederzufinden, wo der Gegenstand nach der Nutzung zurückgestellt wird – gerade wenn man sich den Haushalt mit anderen Menschen teilt, sei es in der WG oder der Familie.

Zusätzlich geht es auch darum, Routinen zu etablieren und sich daran zu gewöhnen, Dinge nach der Nutzung direkt aufzuräumen. Oder wenn man ein anderer Typ ist, einmal am Abend mit dem Korb durch die Wohnung zu gehen, alle herumligenden Dinge einzusammeln und sie wieder zurück an ihren Platz zu bringen.

Sie haben bei der japanischen Ordnungsberaterin Marie Kondō eine Ausbildung gemacht und sind zertifizierte KonMari-Trainerin. Was ist eines der wichtigsten Dinge, die Sie von ihrer Philosophie gelernt haben?

Ihre Frage „Does it spark joy?“ – übersetzt in etwa: „Empfindest du durch diesen Gegenstand Freude?“ Sie verfolgt den Ansatz, dass ein Gegenstand Freude entfachen kann. Es ist eine wunderbare Frage, wie ich finde, weil viele immer nur an Minimalismus und Funktionalität denken „brauche und benutze ich das“? Sich aber wirklich einmal zu fragen, „was bringt einen Mehrwert für ein freudvolles Leben?“, finde ich einen schönen Ansatz, der sich auch von anderen Ansätzen komplett abhebt.

Sie selbst sind schon über 20 Mal umgezogen. So ein Umzug ist doch ein enormer Aufwand und mit viel Stress und auch mit einem gewissen Leid verbunden. Was ist die wichtigste Lektion, die Sie dabei gelernt haben?

Dieser typische Satz „mit leichtem Gepäck reist es sich besser“, stimmt absolut. Ich habe mich bei jedem Umzug wunderbar gefühlt, weil ich Umzüge liebe. Ich fühle mich dabei immer wie eine Reisende, die nie ankommt. Die Menschen können es nicht verstehen. Auch jetzt suche ich schon wieder nach einer neuen, größeren Wohnung in Berlin.

Dieses Gefühl, noch einmal einen Neustart hinzulegen, finde ich sehr reizvoll. Alles wieder neu zu entscheiden, neu zu organisieren und auszusortieren. Es ist sehr befreiend.

Gibt es etwas, das Sie früher nur schwer loslassen konnten und es nun immer leichter gelingt? 

Emotionale Gegenstände. Das Aussortieren von Kleidung oder anderen Gegenständen fiel mir immer leicht. Mich von Gegenständen zu verabschieden, die einen emotionalen Wert haben, fiel mir hingegen anfangs unglaublich schwer. Mein Aussortiermuskel hat sich mittlerweile sehr gestärkt.

Der physische Gegenstand hat für mich keinen hohen Stellenwert, weil ich fest daran glaube, dass ich alles, was ich im Leben brauche, in mir selbst trage. Dieser Glaube ist fest in mir verankert. Man verliert nicht nur Gegenstände im Leben, sondern auch Menschen.

Es ist der ganz natürliche Verlauf des Lebens, indem wir alle früher oder später lernen loszulassen, weil es gar nicht anders geht. Ich habe meinen Glauben daraus gezogen, dass auch die Menschen, die ich verabschieden musste, immer noch bei mir sind. Ich trage sie in meinem Herzen und werde immer eine Verbindung zu diesen Menschen haben.

Gewinnen Sie im Zuge Ihrer Arbeit und im Austausch mit Ihren Klienten auch Erkenntnisse über sich selbst, die Ihr Leben beeinflussen?

Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ich bei jeder einzelnen Person, mit der ich zusammenarbeiten durfte, etwas für mich mitgenommen habe. Vieles wird uns gespiegelt. Wir treffen oft auf Menschen, die innere Themen haben, die auch bei uns noch im Argen sind. Für sich selbst etwas mitzunehmen durch sein Gegenüber, ist ein großes Geschenk.

Ich hatte einmal eine sehr emotionale Verbindung zu einer Klientin, die ihren Lebenspartner verloren hat. Sie hat sich getraut, sich damit auseinanderzusetzen und Gegenstände auszusortieren. Dadurch konnte sie relativ bald einen neuen Partner finden, weil wieder dieser Raum für eine neue Liebe da war. Sie hat sich erlaubt, wieder lieben zu dürfen.

Das hat mich sehr bewegt. Für mich habe ich daraus mitgenommen, dass man oftmals einen Glaubenssatz in sich trägt, der einem verbietet, glücklich zu sein. Dass man beispielsweise lange trauern muss und nicht glücklich sein darf. Diesen Glaubenssatz hat meine Klientin aussortiert und ist nach dem Schicksalsschlag sehr schnell wieder glücklich geworden.

Was war Ihre bisher größte Herausforderung, die Sie im Zuge Ihrer Arbeit meistern mussten? Und wie sind Sie damit umgegangen?

Ganz zu Beginn, als ich gerade angefangen habe, hatte ich einen sehr emotionalen Fall. Ich musste lernen mit diesen gewaltigen Emotionen, auf die man trifft, umzugehen. Erst nach einer Weile habe ich die Fähigkeit entwickelt, diese Dinge nicht mit nach Hause zu nehmen, sondern sie in den Wohnungen der Klienten zu lassen.

In meinem allerersten Fall ging es um ein Kind, das verstorben war. Dieses Thema nicht mit nach Hause zu nehmen und zu vermeiden, abends noch darüber nachzudenken, war schon sehr schwer.

Das hat sich erst über den Lauf der Zeit verändert. Ich habe gelernt, diese Dinge vor meiner Haustür zu lassen.

Anika Schwertfeger ist Deutschlands Expertin für Ordnung im Innen und Außen. Inspiriert von ihrer eigenen Geschichte ermutigt die studierte Wirtschaftspsychologin Menschen, sich vom Ballast in ihrer Wohnung und Seele zu befreien. Sie ist als selbstständiger Coach, Dozentin und Speakerin tätig. In ihrem Ansatz vereint sie Erfahrungen als eine der ersten von Marie Kondō zertifizierten Ordnungsberaterinnen mit Erkenntnissen aus der Psychologie.

Anika Schwertfeger: Räum dich glücklich! Wie du deine Wohnung und deine Seele von unnötigem Ballast befreist. Gräfe und Unzer Verlag, 17,99 €



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