Mehr rein als raus: 44 Prozent brechen Lehramtsstudium ab

Obwohl über 52.000 Studenten jährlich mit einem Studium auf Lehramt beginnen, reichen die Lehrkräfte vorne und hinten nicht. Warum?
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Eine Lehrerin unterrichtet ihre Klasse (Archivbild).Foto: Martin Bureau/AFP via Getty Images
Von 8. Juli 2023

Dass es zu wenige Lehrkräfte gibt, ist nicht neu. Allerdings hat sich das Problem in den vergangenen Jahren verschärft. Nicht nur die hohe Anzahl von eingewanderten Flüchtlingen aus der Ukraine sorgt für einen erhöhten Lehrerbedarf. Erschwerend kommt hinzu, dass viele potenzielle Lehrkräfte ihre Motivation während des Studiums verlieren. Eine von ihnen ist Lisa.

Wie das „Deutsche Schulportal“ berichtete, hat die 21-Jährige entgegen ihrer Überzeugung die Flinte nach einem Jahr ins Korn geworfen. Eigentlich passe das gar nicht zu ihr. „Ich habe bisher alles zu Ende gebracht, ich gebe nicht so schnell auf“, schilderte sie.

Allerdings hatte das Studium auf Lehramt wenig mit ihrem Traumberuf zu tun. Das ging schon damit los, dass sie sich für zwei Fächer entscheiden musste. Von Anfang an war ihr klar, dass sie Psychologie auf Lehramt studieren wollte. Da sie Englisch als Leistungskurs hatte, wählte sie Englisch als Zweitfach. Doch das Studium war ernüchternd. Es ging fast nur um Fachinhalte und weniger darum, wie man Schülern die Inhalte vermittelt.

Selbst das Fach Bildungswissenschaften fand Lisa viel zu theoretisch. „Ich hätte es schön gefunden, von Anfang an auch Unterrichtsgestaltung zu lernen“, sagte sie. „Schule ist im Lehramtsstudium ganz weit weg.“

Mehr Erfahrungen im Nebenjob als im Praktikum

Im Orientierungspraktikum erging es Lisa nicht besser. Sie saß im Unterricht in der letzten Reihe und musste beobachten. „Da kam ich mir selbst vor wie früher als Schülerin“, kritisierte sie. Nach dem Praktikum wusste sie weder, wie es ist, vor einer Klasse zu stehen, noch wie ihre eigene Stimme in der Klasse wirkt.

Erfahrungen hingegen sammelte sie im Rahmen eines Nebenjobs. Zweimal in der Woche half sie in einer Grundschule aus, wobei sie die Schüler hauptsächlich während der Hausaufgaben betreute. Obwohl ihr das viel Spaß machte, blieben Zweifel. „Bin ich wirklich geeignet? Schaffe ich es, mit der Respektlosigkeit vieler Kinder umzugehen? Will ich das überhaupt?“

Mit diesen Fragen stand Lisa jedoch nicht allein da. Ihren Kommilitonen ging es ähnlich, wie sie aus Gesprächen erfuhr.

Zusätzliche Zweifel brachte die Lehrerlaufbahn mit sich. Drei Jahre Studium zum Bachelor, zwei Jahre bis zum Master, dazu kommen noch ein bis zwei Jahre Referendariat je nach Bundesland sowie zwei bis drei Jahre Probezeit vor der Verbeamtung – insgesamt bis zu zehn Jahre. „Und was ist, wenn man das Ref nicht besteht?“ Horrorgeschichten darüber gebe es genug, so Lisa. Und ohne Referendariat kein Abschluss. Und selbst wenn sie die zehn Jahre durchgestanden hätte, hätte der Lehrermangel wahrscheinlich gerade zu diesem Zeitpunkt seinen Höchststand erreicht – vielleicht auch die Schülerzahl. Keine rosigen Aussichten.

So sicher sich Lisa noch vor einem Jahr war, dass sie Lehrerin werden will, so sicher ist sie sich jetzt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ab Herbst wird sie Psychologie oder Wirtschaftspsychologie studieren. Doch die 21-Jährige ist kein Einzelfall.

Fast die Hälfte der Studenten steigt aus

Der „Lehrkräftetrichter“ – eine aktuelle Analyse des Stifterverbandes – zeigt, wie groß der Schwund potenzieller Lehrkräfte in Deutschland tatsächlich ist. Demnach haben im Schnitt der Studienjahre 2017 bis 2021 rund 52.500 Studenten jährlich ein Lehramtsstudium aufgenommen. Dabei handelt es sich um 36.700 Studienanfänger, 4.800 Studenten, die ihr Studium innerhalb des Lehramtsstudiums wechselten (beispielsweise vom Lehramt Gymnasium zu Grundschule), sowie 11.000 Studenten, die zuvor einen anderen Studiengang absolviert haben.

Ein erheblicher Anteil dieser Studenten (rund 44 Prozent) schließt das Studium jedoch nicht ab. Jährlich beginnen lediglich 29.400 Personen mit vorherigem Lehramtsstudium den Vorbereitungsdienst. Und obwohl zu dieser Anzahl noch 1.200 Quereinsteiger ohne Lehramtsstudium kommen, bleiben am Ende des Referendariats lediglich 28.300 Lehrkräfte übrig – „viel zu wenige, um den Bedarf an Deutschlands Schulen zu decken“, so der Stifterverband.

Deutschland droht ein Bildungsnotstand“, warnt der Stifterverband.

„Selbst bei einer hundertprozentigen Erfolgsquote in der Ausbildung und Übergangsquote in den Beruf kann der derzeit prognostizierte Bedarf an Lehrkräften in einigen Unterrichtsfächern auch in den kommenden zehn Jahren nicht gedeckt werden“, so das Fazit des Verbandes.

Besonders akut sei der Lehrkräftemangel in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, auch als MINT-Fächer bezeichnet. Wo es möglich ist, wird auf Seiteneinsteiger zurückgegriffen, die weder ein Lehramtsstudium noch den Vorbereitungsdienst absolviert haben.

Neue Ansätze gegen den Lehrermangel

Neben dem ohnehin schon bestehenden Lehrermangel kommen weitere Herausforderungen hinzu: die zunehmende Digitalisierung, die es für Lehrer zu meistern gilt, und den Umgang mit der Heterogenität, sprich die Vielfältigkeit der Schüler.

Um den Lehrermangel zu lösen, plädiert der Stifterverband dafür, starre Studienstrukturen aufzubrechen und den Beruf wieder attraktiv zu machen. International sei es ohnehin eher unüblich, dass angehende Lehrer parallel zwei Unterrichtsfächer studieren müssen. Hier könnte die Option, sich nur für ein Fach zu entscheiden, dazu beitragen, neue Lehramtsstudenten zu gewinnen.

Weiter fehle es an einer gezielten Auswahl von Ausbildungsschulen. Anstatt transparente Qualitätsstandards zu gewährleisten, seien alle Schulen – unabhängig von ihrer pädagogischen Qualität – gleichberechtigt an der Ausbildung beteiligt. So könne man nicht garantieren, dass die angehenden Lehrer von einer „Spitzenpädagogik“ während ihrer Ausbildung profitieren.

Der Stifterverband kritisiert zudem, dass der Wissenschaftsrat bereits 1993 empfohlen hat, Fachhochschulen in die Ausbildung von Lehrkräften für berufliche Schulen einzubeziehen. Umgesetzt wurde diese Empfehlung bis heute nicht. Ein Studium ist nur an ausgewählten Hochschulen für angewandte Wissenschaft möglich und auch nur in Kooperation mit einer Universität.

Auch die Bildungsforschung sollte nach Ansicht des Stifterverbandes vorangetrieben werden, um Lösungen für konkrete schulische Qualitätsprobleme zu liefern. Modelle der Lehrerforschung, bei denen die Lehrkräfte selbst zu Forschern werden, seien jedoch nur wenig verbreitet und würden auch kaum gefördert.

Eignungstest vor Lehramtsstudium

Wenn Eignungstests verpflichtend wären, würde es weniger Studienabbrecher geben. Davon ist Professor Norbert Seibert, Lehrstuhlinhaber für Schulpädagogik an der Universität Passau, überzeugt. Schließlich sei bekannt, dass jährlich etwa 40 Prozent das Lehramtsstudium abbrechen. Eine Studie aus Mecklenburg-Vorpommern habe sogar gezeigt, dass 67 Prozent an der Universität Rostock und 83 Prozent an der Universität Greifswald das Lehramtsstudium abbrachen oder wechselten.

„Das können wir uns angesichts des Lehrermangels nicht leisten“, so Seibert. Außerdem sei das „herausgeworfenes Geld“. Das Lehramtsstudium koste pro Semester beispielsweise in Passau pro Studienplatz etwa 5.000 Euro. „Wenn man durch Eignungsverfahren mehr Studienabbrüche vermeiden könnte, würde man viel Geld sparen.“

Pro Jahrgang machen etwa 15 Prozent der angehenden Lehramtsstudenten an der Universität Passau einen freiwilligen Eignungstest. Je nach Stärke sind das 50 bis 80 Studenten. Laut Seibert teilen sich diese in zwei Gruppen: „Die, die sehr gut sind, und diejenigen, die wirklich ungeeignet sind.“ Letztere erkenne man meist sehr schnell. „Sie haben Defizite im Auftreten, in der Reflexion und oft fehlt auch der Bezug zum Kind.“

Wenn der Eignungstest noch Entwicklungspotenzial ausweist, wird den Studenten zu Kursen wie Stimmbildung, Rhetorik oder Konfliktmanagement geraten, die an der Universität Passau im Zentrum für Karriere und Kompetenzen angeboten werden. Eine Teilnahme ist freiwillig, Leistungspunkte gibt es dafür nicht.

Auch Lisa hätte sich einen solchen Eignungstest gewünscht. „Dann hätte ich mich besser einschätzen können“, schildert sie. Vielleicht hätte sie mit einer positiven Einschätzung ihr Studium auch nicht so schnell an den Nagel gehängt. Aber wer weiß, vielleicht kommt sie nach ihrem Psychologiestudium doch noch im Rahmen des Quereinsteigerprogramms als Lehrerin an eine Schule.



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