Wenn der Patient zur Ware wird – Was hinter der Debatte zu Personaluntergrenzen steckt

Volle Krankenhäuser, überlastetes Personal. Die vielerorts von den Medien beschriebenen Probleme im Gesundheitswesen scheinen auf den ersten Blick mit einem erhöhten Aufkommen von COVID-Erkrankungen zusammenzuhängen. Der Grund dafür liegt jedoch vielmehr in einer jahrelangen Misswirtschaft im Gesundheitswesen. Die aktuelle Debatte um Personaluntergrenzen im Pflegepersonal ist ein Aspekt davon.
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Pflege.Foto: iStock
Von 16. November 2021

„Eine Unterbesetzung von pflegesensitiven Bereichen im Krankenhaus kann fatale Folgen für Patientinnen und Patienten haben“, heißt es auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums. Mit dieser Begründung wurden sogenannte Personaluntergrenzen festgelegt, die je nach Pflegebereich und Schichtart variieren. Geregelt sind diese in der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung.

Was sich auf den ersten Blick logisch anhört, hat weitgehende Konsequenzen – spätestens dort, wo es an Fachkräften mangelt. Seit 1. Februar 2021 wurde die Personaluntergrenze im intensivmedizinischen Bereich auf zwei Patienten pro Pflegekraft in der Tagesschicht festgelegt, pro Nacht kam eine Pflegekraft auf drei Patienten. Bis zum 31. Januar 2021 lag der Schlüssel um 0,5 Patienten höher – auf dem Papier. Wie Werner Möller von „Pflege für Aufklärung“ gegenüber der Epoch Times bestätigte, lag der Betreuungsschlüssel mancherorts wesentlich höher.

Die Grundlagen für die Personalberechnungen für Pflegekräfte auf Intensivtherapiestationen beruhen laut Möller auf Empfehlungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft von 1974 sowie der DIVI aus den Jahren 1984 und 1994 und entsprächen schon lange nicht mehr den fachlichen Anforderungen.

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Was eine Intensivpflegekraft täglich leisten muss, würde hier den Rahmen sprengen, erklärt der Intensivpfleger und Beatmungstherapeut weiter. Es gehe darum, mit sensiblen Medikamenten, Therapien (Beatmung, Dialyse usw.) umzugehen und diese selbstständig zu steuern, was hoch konzentriertes Arbeiten voraussetzt. Dazu kommt erschwerend die Versorgung in Isolationszimmern und der seelische Stress, dem die schwerkranken Patienten, aber auch Pflegekräfte ausgesetzt sind. Hier muss das Pflegepersonal professionell und beherzt vorgehen, zumal für manche Patienten die Intensivstation die letzte Station ihres Lebens ist.

Krankenhäuser, die sich nicht an die aktuellen Vorgaben zur Personaluntergrenze halten und ihren Pflegern mehr Patienten zumuten, müssen Vergütungsabschläge hinnehmen. Mit anderen Worten: Muss ein Pfleger mehr Patienten als gesetzlich vorgesehen betreuen, verdient die Klinik zwar an diesem Patienten Geld, muss aber gleichzeitig finanzielle Abstriche machen. Für den Pfleger ändert sich hingegen finanziell nichts. Im Gegenteil. „Der Wegfall der Personaluntergrenzen lastet auf dem Rücken der Angestellten“, so Möller. Sie müssen mehr arbeiten und häufen Überstunden an, die sie letztendlich aber aufgrund von Personalmangel an vielen Orten nicht abgelten können. Eine Auszahlung der Überstunden – wenn sie überhaupt erfolgt – mag da zwar finanziell etwas entschädigen, aber für das erschöpfte, überlastete Personal hat es letztendlich keinen Mehrwert.

Pandemiebeauftragter fordert Aufhebung der Personaluntergrenzen

Am 26. Oktober forderte Dr. Manfred Wagner, medizinischer Direktor der nicht-operativen Bereiche und Pandemiebeauftragter des Klinikums Fürth in einem Aufruf über Instagram eine Aussetzung der Strafzahlungen für die Pflegepersonaluntergrenzen. Natürlich dürfe dies nicht dazu führen, dass die Pflege dies am Schluss wieder ausbade, schrieb der Mediziner auf Instagram. Es brauche bessere und intelligentere Lösungen. Sein Appell an die Politik lautete: „Erstens, schafft endlich Rahmenbedingungen für die Pflege, die diesen wunderschönen Beruf für junge Menschen wieder attraktiv machen. Aber zweitens: Jetzt sofort müssen die Strafzahlungen bezüglich PPUG [Personalpflegeuntergrenzen] für die Krankenhäuser ausgesetzt werden!“

Eine Userin widersprach dieser Forderung: „Pflegepersonaluntergrenzen gibt es aus einem guten Grund. Nämlich um die Versorgung der Patienten sicherzustellen.“ Nicht nur Intensiv-, sondern auch die normalen Stationen seien massiv überbelastet. Wenn eine Pflegeperson statt zehn Patienten in der Untergrenze dann 15 bis 20 Patienten versorge, trage dies nicht zu einer qualitativ guten Versorgung bei. Die Patienten seien dann nicht gut versorgt und betreut. „Wer möchte schon eine halbe Stunde auf die Krankenschwester warten, wenn der Verband gerade durchblutet?“, fragt die Userin. „Die Pflege ist am Ende ihrer Kräfte. Sowohl physisch als auch psychisch.“

Was die Aufhebung der Personaluntergrenzen für Pflegekräfte, Patienten und aus betriebswirtschaftlicher Sicht für ein Krankenhaus bedeutet, dazu wollte sich die Klinik Fürth gegenüber Epoch Times „aus Zeitgründen“ nicht äußern. Kritik an der Forderung nach Aufhebung der Personaluntergrenzen kam ebenso von „Pflege für Aufklärung“, auch weil Dr. Wagner mit seinem Auftritt den Eindruck erweckte, er gehöre zum Pflegepersonal. „Damit bettelt er bei der Regierung eigentlich um eine Mehrbelastung seines Pflegepersonals, denn das ist am Ende die Konsequenz daraus“, so Möller. Unter der „Agenda Corona“ sei der Patient inzwischen zur Ware mutiert, wobei das Pflegepersonal als „lästiges und vor allem teures Beiwerk“ gesehen werde, schildert er weiter. Heutzutage sei ein Chefarzt nach Auffassung des Intensivpflegers nicht mehr das, was er früher einmal war. Statt das Patientenwohl und die Situation des Personals müsse ein ärztlicher Direktor vor allem die finanziellen Gewinne im Blick haben. So sei es kein Wunder, dass vielerorts Big Pharma oder Krankenkassen die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser ausnutzen.

Personaluntergrenzen sind kein Mittel zur Verbesserung der Pflegequalität per se. Sie sind eher eine Notbremse, wenn es soweit kommt, dass wir Pfleger Gefahr laufen, durch Überlastung Menschen zu töten statt adäquat zu versorgen“,  erklärt Möller.

Die Ursache liege vielmehr in der „desaströsen Personal- und Gewinnpolitik der Krankenhäuser“. So gebe es kein funktionierendes Risikomanagement und keine Erfassung von Komplikationen bei Auftreten eines Personalmangels. In einem 2014 im „Ärzteblatt“ erschienenen Beitrag unter Bezug auf eine internationale Studie heißt es hierzu: „Mit der Arbeitslast der Pfleger und Pflegerinnen steigt die Mortalität der Patienten: Mit jedem zusätzlichen Patienten, den eine Schwester versorgen muss, nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass ein chirurgischer Patient binnen 30 Tagen nach der Aufnahme stirbt, um sieben Prozent zu.“  Bei höherer Qualifikation des Pflegepersonals, beispielsweise einem Bachelor-Abschluss, nimmt die Sterblichkeit hingegen ab.

DKG befürwortet Aussetzung der Personaluntergrenzen an Hotspots

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG) sieht in den Pflegepersonaluntergrenzen kein geeignetes Mittel, um den Bedarf an Pflege abzubilden. „Sie sind ein statisches Maß, das aus der durchschnittlichen Ist-Besetzung aller Kliniken abgeleitet wurde, aber keinen auf den Patienten bezogenen Pflegebedarf ermittelt“, teilte Pressesprecher Joachim Odenbach gegenüber Epoch Times mit. Deshalb hätten Verdi, der deutsche Pflegerat und die DKG ein Instrument zur Pflegepersonalbedarfsbemessung entwickelt, das seit nunmehr fast zwei Jahren vorliege. Der bestehende Mangel an Pflegepersonal sei dem aktuellen Fachkräftemangel und dem finanziellen Druck geschuldet, der bis zur jüngsten Reform der Pflegefinanzierung auf den Kliniken lastete.

„Kein Krankenhaus hat aktuell aufgrund des Pflegebudgets ein Interesse daran, weniger Personal einzustellen als benötigt“, so das klare Fazit der DKG. „Aktuell können und müssen in bestimmten Hotspots die Pflegepersonaluntergrenzen ausgesetzt werden, wenn ansonsten eine dringende medizinische Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet wäre.“ Dafür sehe die entsprechende Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums Ausnahmeregelungen vor. Die DKG ist sich bewusst, dass in diesen Ausnahmefällen die Arbeitsbelastung für die betroffenen Pflegekräfte nochmals ansteigt. Man versuche alles, um diese hohe Belastung durch ein Zurückfahren planbarer Leistungen zu vermeiden.

Überlastungsanzeige – nur Mittel zum Zweck?

Wer sich als Pfleger überlastet fühlt, sollte eine Überlastungsanzeige an seinen Vorgesetzten stellen, empfiehlt Möller. Im Arbeitsschutzgesetz gebe es im Paragrafen 15 einschlägige Regelungen, dass Beschäftigte Sorge für die Sicherheit und Gesundheit ihres Personals zu tragen haben.  „Leider werden Mitarbeiter, wenn sie Überlastungsanzeigen schreiben, oft unter Druck gesetzt oder sogar bedroht“, schildert Möller. Es erfordere daher immer noch Mut und Kraft, damit sich Kollegen hier Respekt und Gehör verschaffen. Aber auch Überlastungsanzeigen bieten keine Lösung des Problems. Sie dienen lediglich dem Zugzwang und Rechtsdruck, damit der Arbeitgeber seine Organisationsverantwortung wahrnimmt.

Was es wirklich braucht, um eine patientenwürdige Pflege zu schaffen, ist laut Möller eine gesellschaftliche Anerkennung der größten Gruppe von Experten in Deutschland, den Pflegekräften. „Diese werden von inkompetenten Führungskräften kleingehalten und von den Lobbyisten der Regierung und Geschäftsführung nicht gefördert“, so Möller. „Wenn jemand über unseren Beruf redet, sind es oft Ärzte oder Geschäftsführer, die aber nicht uns und unsere Belange im Interesse haben. Pflege muss lernen, sich selbst zu emanzipieren und zu behaupten. Dabei müssen wir bei uns selber anfangen – denn sonst wird es keiner tun.“

Auch wenn vielerorts Medien und Krankenhäuser melden, dass Intensivbetten knapp werden, so hängt dies nur in den seltensten Fällen unmittelbar mit einem vermehrten Auftreten von COVID-Patienten zusammen.  Ein Blick in das DIVI-Intensivregister für Deutschland zeigt, dass der Anteil der als COVID-19-Fälle gemeldeten Intensivpatienten am 3. Januar 2021 mit insgesamt 5.745 von insgesamt 20.057 belegten Betten seinen Höchststand erreicht hatte. Mit Stand 9. November wurden auf den Intensivstationen 2.673 COVID-Patienten auf 19.576 belegte Betten gemeldet. Wie viele davon lediglich positiv getestet wurden oder tatsächlich an COVID erkrankt sind, darüber gibt es keine offizielle Statistik.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 18, vom 13. November 2021



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