General Kujat: „Nur ein Verhandlungsfrieden kann die Ukraine retten“

NATO-General a. D. Harald Kujat sprach im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz mit Epoch Times über den Krieg in der Ukraine, über das umstrittene Putin-Interview und über wehrfähige Ukrainer, die nicht in den Krieg ziehen wollen.
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Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat.Foto: Wolf von Dewitz/dpa
Von 19. Februar 2024

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General Kujat gehört zu den meinungsstärksten Militärs in Deutschland, seine Expertise findet über die Grenzen hinaus Beachtung. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr gilt vor allem als unbestechlicher Analyst der weltpolitischen Lage. Sahra Wagenknecht etwa bewertete einen Vortrag von Kujat jüngst als „ausgezeichnet“.

Wie beurteilen Sie die Lage in der Ukraine aktuell?

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach der – auch vom Westen mit großen Hoffnungen verbundenen Offensive – die Fähigkeit zu einer offensiven Landkriegsführung weitgehend verloren. Seit Anfang Oktober letzten Jahres haben die russischen Streitkräfte die Initiative übernommen. Sie haben lokale Angriffsschwerpunkte mit dem Ziel gesetzt, die bisherigen Eroberungen zu konsolidieren und größere Verluste zu vermeiden. Einer der Schwerpunkte war Awdijiwka. Der Ort ist jetzt vollständig in russischer Hand, wodurch sie in der Lage sind, ihren Angriff im östlichen Donbass auszuweiten. Im Raum Kupjansk hat eine große russische Truppenkonzentration stattgefunden, deren Stoßrichtung offenbar die Region Charkiw ist. Ich gehe davon aus, dass die Russen auch Odessa erobern wollen.

Angesichts der Unsicherheit, ob und in welchem Umfang die Vereinigten Staaten weiter finanzielle und militärische Unterstützung leisten werden, sollte die Ukraine nach amerikanischer Auffassung in die strategische Defensive gehen, um die von ihnen gehaltenen Gebiete zu verteidigen und die hohen personellen Verluste zu reduzieren. Das Einfrieren des Frontverlaufs bedeutet allerdings, dass die Krim und die vier von Russland annektierten Regionen aufgegeben werden, obwohl deren Rückeroberung das strategische Ziel der Ukraine war. Die europäischen Verbündeten sollen sich in bilateralen Verträgen mit der Ukraine verpflichten, für die nächsten zehn Jahre die finanzielle und militärische Unterstützung zu übernehmen. Nach Großbritannien haben auch Deutschland und Frankreich entsprechende Vereinbarungen abgeschlossen.

Wie beurteilen Sie das Putin-Interview des US-Journalisten Tucker Carlson? Haben Sie bei Putin eine Chance herausgehört, dass Verhandlungen möglich sind?

Putin hat mehrfach gesagt, dass er bereit ist, zu verhandeln. Das hat er in diesem Interview noch einmal bestätigt. Er hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass der ukrainische Präsident Anfang Oktober 2022 in einem Dekret Verhandlungen untersagt hat, was zunächst korrigiert werden müsste. Und der Westen müsste bereit sein, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen.

Im Übrigen haben Russland und die Ukraine bereits verhandelt. Das Ergebnis war für die Ukraine sehr positiv. Russland hatte sogar seine Streitkräfte als Zeichen des guten Willens aus dem Raum Kiew abgezogen. Auch daran hat Putin in dem Interview erinnert. Der Krieg wäre nach sechs Wochen beendet gewesen, wenn die Ukraine vom Westen nicht daran gehindert worden wäre, den Vertrag zu unterschreiben.

Was könnte gewonnen werden, wenn die Ukrainer ihrerseits russisches Territorium angreifen?

Die Ukraine versucht seit einiger Zeit, militärische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, indem sie Angriffe auf Ziele in Russland durchführt. Selenskyj hatte bereits vor einiger Zeit nach einem Drohnenangriff auf Moskau erklärt: „Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück, in seine symbolischen Zentren und Militärstützpunkte.“

Für Angriffe auf russische strategische Ziele, wie Kommandozentralen, Raketenstützpunkte und Führungssysteme wäre der deutsche Luft-Boden-Marschflugkörper Taurus das Mittel der Wahl, womit jedoch die Eskalation und die Risiken für Deutschland erheblich steigen würden. Trotzdem wird von deutschen Politikern und Experten angesichts der kritischen Lage der Ukraine immer wieder die Forderung erhoben, Taurus an die Ukraine zu liefern. Aber Taurus würde ebenso wenig die strategische Lage zugunsten der Ukraine ändern, wie die bisherigen „Game-Changer“.

Die Ukraine hat schon einmal eine nuklearstrategische Basis der russischen Bomberkräfte, nämlich Engels in der Nähe von Saratow, angegriffen. Ich denke, jeder kann sich die katastrophalen Konsequenzen vorstellen, wenn ein Nuklearwaffenlager getroffen würde.

Die Amerikaner sind bemüht, Biden hat das mehrfach betont, eine direkte Konfrontation mit Russland zu vermeiden, die durch ukrainische Angriffe auf das russische Kernland und strategische Ziele entstehen könnte. Deshalb haben die Vereinigten Staaten nur HIMARS-Raketenwerfer und ATACMS-Raketen geliefert, die nicht über eine große Reichweite verfügen, sondern ältere Systeme mit kürzerer Reichweite.

Mit der Lieferung von Taurus an die Ukraine würden wir daher sowohl eine amerikanische wie eine russische rote Linie überschreiten.

Unsere Politiker müssen verstehen, dass Waffen und Munition die militärische Lage der Ukraine nicht zum Besseren wenden können, sondern lediglich den Krieg verlängern. Da der Westen einen großen europäischen Krieg vermeiden und deshalb keine eigenen Soldaten schicken will, kann nur ein Verhandlungsfrieden die Ukraine retten.

Es wird zunehmend auf die männlichen Ukrainer in Europa geschaut. In Deutschland sollen es alleine 200.000 sein. Sogar von „Deserteuren“ ist die Rede …

Die Ukraine braucht Geld, sie braucht militärische Ausrüstung, Waffen und Munition. Aber ihr fehlen vor allem Soldaten. Nicht Waffen entscheiden über Sieg oder Niederlage, sondern Soldaten. Das haben unsere Politiker noch nicht verstanden. Die Ukraine steht vor dem Problem, ihre hohen Verluste ausgleichen zu müssen. Schon seit einiger Zeit wird im ukrainischen Parlament eine Gesetzesvorlage diskutiert, wonach etwa 500.000 Ukrainer rekrutiert werden sollen.

In diesem Zusammenhang kommt die Frage auf, ob die jungen Ukrainer im wehrfähigen Alter, die sich in Deutschland und in anderen westlichen Ländern befinden, zum Kriegsdienst herangezogen werden sollten. Die derzeitige Mobilisierungswelle – das ist ja nicht die Erste, die Ukraine hat mehrere Mobilisierungswellen durchgeführt – ist in der Ukraine äußerst unpopulär, weil die potenziellen Soldaten in der nötigen Größenordnung nicht mehr vorhanden sind. Man muss deshalb noch mehr als bisher Jüngere und Ältere zum Dienst mit der Waffe zwingen.

Ist das wie so eine Art Volkssturm? Oder wie muss man sich das vorstellen?

Ich würde das nicht als Volkssturm bezeichnen, weil der Volkssturm andere Aufgaben hatte und es sich um reguläre Streitkräfte handelt.

Aber man geht altersmäßig an den Rand dessen, was überhaupt verfügbar ist und ausgebildet werden kann. Hinzu kommt, dass vor der Offensive ukrainische Brigaden überwiegend in Deutschland ausgebildet und mit modernen westlichen Waffen ausgerüstet wurden. Sollen die neu aufgestellten oder aufgefüllten Verbände wieder im Westen ausgebildet und ausgerüstet werden? Und wer soll und kann das leisten? Oder durchlaufen die Soldaten eine Kurzausbildung von ein paar Tage oder Wochen und werden dann ins Gefecht geschickt?

Hätten Sie in Ihrer jahrzehntelangen militärischen Karriere jemals gedacht, dass es mal zu so einer kriegerischen Auseinandersetzung am Rande von Europa kommt?

Nein, ganz im Gegenteil! Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes entstand ja zwischen Russland und der NATO eine Phase der engen politischen Abstimmung und der militärischen Zusammenarbeit.

Die Erweiterung der NATO um Staaten, die aus russischer Sicht das militärische Gleichgewicht zum Nachteil Russlands veränderten, sowie die einseitige Kündigung wichtiger Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge durch die Vereinigten Staaten haben diese positive Entwicklung beendet. Ich denke beispielsweise an den für das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen Russland und den Vereinigten Staaten so wichtigen ABM-Vertrag, den INF-Vertrag sowie den Vertrag über den Offenen Himmel.

Eine entscheidende Rolle spielte der Versuch von Präsident Bush 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest eine Einladung aller NATO-Staaten an Georgien und die Ukraine zum NATO-Beitritt durchzusetzen. Das ist zwar nicht gelungen, aber es wurde zur Gesichtswahrung eine NATO-Perspektive beider Staaten in das Kommuniqué aufgenommen. Der damalige US-Botschafter in Russland und heutige CIA-Direktor William Burns schrieb damals an seine Regierung: „[…] man kann die strategischen Konsequenzen nicht hoch genug einschätzen – es wird einen fruchtbaren Boden für eine russische Intervention auf der Krim und im Osten der Ukraine schaffen […]. Es besteht kein Zweifel, dass Putin scharf zurückschlagen wird.“ So ist es dann auch gekommen.

Danke für das Gespräch!

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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