„Kollateralschäden“ in Gaza relativiert mit alliierten Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg?

Ein Leserbrief sorgt aktuell in den sozialen Medien für Kontroversen. Der Leserbriefschreiber ist nicht irgendwer. Und er bezieht sich auf eine Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten und darin enthaltene Genozidvorwürfe gegen Israel.
Nach einer Explosion im Gazastreifen steigt Rauch in den Himmel, gesehen vom Süden Israels aus.
Nach einer Explosion im Gazastreifen steigt Rauch in den Himmel, gesehen vom Süden Israels aus.Foto: Leo Correa/AP
Von 15. März 2024

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Hier handelt es sich zunächst um den seltenen Fall, dass eine inhaltliche Debatte vor der Person kommt, die sie angestoßen hat. Das kennt man im Zeitalter der Cancel-Culture auch anders. Dr. Frank Niggemeier aus Berlin hat einen Leserbrief geschrieben. Und der 62-Jährige ist nicht irgendwer, sondern ein hoher Beamter in Karl Lauterbachs Gesundheitsministerium (BMG).

Dr. Niggemeier bestätigt im Telefongespräch gegenüber Epoch Times, dass er besagter Autor des Leserbriefs sei. Und er besteht darauf, dass er seine Post an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) als Privatperson geschrieben und versandt hat.

Dr. Niggemeiers Profil auf LinkedIn verrät, dass er seit Januar 1990 durchgehend im BMG tätig ist. Damals war noch Gerda Hasselfeldt (CSU) Gesundheitsministerin einer Regierung unter Helmut Kohl. Das Land war in euphorischer Festtagslaune, wenige Wochen zuvor war die Mauer gefallen.

Niggemeier gehört demnach heute zu den dienstältesten Mitarbeitern und hat entsprechend eine ganze Reihe von Stationen im BMG durchlaufen inklusive diverser Referatsleitungen. Aktuell ist Dr. Frank Niggemeier Leiter des Referats „Ethik im Gesundheitswesen, Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege“.

Wie schnell wird eine Wortmeldung zum Politikum?

Wenn nun jemand in dieser Funktion einen Leserbrief zu so einem kontrovers diskutierten Thema wie dem Gaza-Krieg veröffentlicht, dann muss er damit rechnen, dass seine Wortmeldung zum Politikum werden kann. Umso mehr, je meinungsstärker sie angelegt ist.

Um was geht es in dem Leserbrief? Dr. Niggemeier schreibt über die Kollateralschäden eines Krieges, über die vielen Opfer unter der Zivilbevölkerung. Und dabei rührt er eine der ältesten kontroversen Debatten der Bundesrepublik an: Die zivilen deutschen Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs.

Die Online-Plattform „Statista“ informiert dazu:

„Der Einsatz von Bomben durch die Alliierten kostete im Zweiten Weltkrieg vom 01. September 1939 bis zum 08. Mai 1945 geschätzt 600.000 deutsche Zivilisten das Leben. Einen großen Teil der Bombenlast trugen die nördlich und westlich gelegenen Städte in der Bundesrepublik. Allein in Hamburg starben rund 48.600 Menschen.“

Um Zahlen wird nach wie vor gerungen und auch die Debatte um Begrifflichkeiten kann abendfüllend sein. Die AfD-Fraktion beispielsweise legte 2019 an einem der zentralen Gedenkorte in Dresden einen Kranz mit der Aufschrift „Den zivilen Opfern des Alliierten Bombenterrors In stillem Gedenken – AfD Bundestagsfraktion“ nieder, was prompt zu einem Wiederaufflammen der Debatte in den Medien führte, die „Zeit“ etwa titelte: „AfD-Fraktion verteidigt ‚Bombenterror‘-Äußerung“.

Eine opferreiche deutsche Familiengeschichte

Dr. Frank Niggemeier beginnt seinen Leserbrief mit privaten Details einer opferreichen Familiengeschichte. Er erzählt von britischen Bombern, die seine Großmutter, ein Ungeborenes im Leib und einen achtjährigen Sohn tötete als die ungeheure Bombenlast das Haus „in einer Stadt am Rande des Ruhrgebiets“ zerstörte.

Und er schreibt weiter davon, dass seine Mutter einen Tag nach diesem Schicksalsschlag zehn Jahre alt wurde. Und wie sie mit dem verzweifelten Vater und ihrem jüngeren Bruder vor dem zerbombten Haus stand.

Aber warum erzählt Frank Niggemeier den Lesern der FAZ von diesem tödlichen Kriegsdrama? Er kritisiert damit nicht weniger als die an Israel gerichteten Mahnungen, die israelische Armee möge sofort alle Maßnahmen wegen der vielen zivilen Opfer einstellen. Niggemeier fragt die FAZ-Leser, was denn gewesen wäre, wenn ein englischer oder amerikanischer Journalist damals neben seiner verzweifelten Restfamilie gestanden und Bilder von jenem Bombenkrater gemacht hätte, der das Haus verschluckte und Hälfte der Familie pulverisierte:

„Was für Filmaufnahmen das geworden wären! Eine ans Herz gehende Opferstory. Und davon hätten die Journalisten jeden Tag neue zeigen können. Es waren ja Zehntausende unschuldiger Zivilisten, die im Kampf gegen die Nazis getötet wurden.“

Alleine in diesem Absatz von Niggemeier stecken mehrere deutsche Debatten, um die jahrelang gerungen wurde und teilweise immer noch gerungen wird. Angefangen bei den eingangs erwähnten Opferzahldiskussionen bis hin zur Frage, ob es hier tatsächlich um einen Kampf gegen Nazis ging, um den Versuch einer Demoralisierung der Bevölkerung oder schlicht um eine grauenvolle Strafaktion gegen Millionen Zivilisten.

Auch Dr. Frank Niggemeier wird um die Debatte wissen, als das von David Schraven, dem Chef von CORRECTIV, gegründete Portal „Ruhrbarone“ via Twitter die Jahrestage der Bombardierung von Dresden mit einem Diagramm begleitete, das die „Tageshöchsttemperaturen in Dresden im Februar 1945“ mittels einer Diagramm-Säule auf 900 Grad markierte.

Eine Feuerpause wird angemahnt

Mit Blick auf seine opferreiche Familiengeschichte stellt Niggemeier den Lesern der FAZ die hypothetische Frage, ob denn die Öffentlichkeit in England und den USA nach Sichtung solcher Aufnahmen eine Feuerpause angemahnt hätte.

Der hohe Beamte im Gesundheitsministerium provoziert damit folgende Lesart: eine Gleichsetzung des Hamas-Terrorregime im Gaza mit dem Nazi-Regime. Und eine mindestens ethisch-moralische Gleichsetzung der Bombardierungen der deutschen Zivilbevölkerung durch die Alliierten mit den Angriffen der israelischen Armee auf den Gaza-Streifen, die mittlerweile eine fünfstellige Zahl von Opfern gefordert haben soll, darunter viele Kinder, wie unabhängige Quellen berichten.

Niggemeier fragt: „Hätte man den Kampf um Berlin als das Zentrum von Krieg und Terror unterbrechen sollen?“ Die von ihm erwartete Antwort lautet: „Nein“.  Und er setzt hier ebenfalls ein „Nein“ als Antwort auch auf die Frage voraus, ob die Forderung berechtigt sei, die israelischen Angriffe aufgrund der hohen zivilen Verluste zu unterbrechen.

Der hohe Beamte aus dem deutschen Gesundheitsministerium macht in seinem Leserbrief einen Vorschlag, wie der Krieg und das Töten sofort zu beenden seien: Die Hamas müsse nur die Waffen fallen lassen und die Geiseln frei lassen. Erst wenn das passiert sei, dürfe man die israelische Regierung überhaupt erst „in einem zweiten Atemzug“ anmahnen, „in ihren Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Terrorangriffe auf die israelische Bevölkerung zivile Opfer nach Möglichkeit zu vermeiden“.

Von der Gnadenlosigkeit menschlicher Schutzschilde

Frank Niggemeiers Leserbrief endet damit, dass er feststellt, dass die Möglichkeiten hier leider sehr eingeschränkt seien. Denn die Hamas missbrauche „seit ihrer Wahl 2006 und der endgültigen Machtergreifung 2007 die Zivilbevölkerung in Gaza gnadenlos als menschliche Schutzschilde.“

Hier gerät der Vergleich mit den Bombardierungen der Zivilbevölkerung des Deutschen Reiches in Schieflage, denn von lebenden Schutzschildern der Nazis in den Großstädten ist in keinem Geschichtsbuch die Rede. Wenn Niggemeier schreibt, diese Bombardierungen – verstärkt in den letzten Kriegsjahren – hätten den Zweck gehabt, eine für die Fortführung des Kriegs nötige Infrastruktur zu zerstören, dann ist auch diese Aussage mindestens umstritten.

Beispielsweise Christoph Kucklick, der stellvertretende Chefredakteur von „GEO“, titelte zu den alliierten Bombenangriffen gegen deutsche Städte in „GEO Epoche“: „Terror gegen den Terror?“ Und die Analyse von Kucklick ist auf unterkühlte Art und Weise eindeutig:

„Englische Strategen prägten dafür einen Begriff: dehousing, Enthausung. Das britische Bomber Command vernichtete im Jahre 1944 im Durchschnitt zweieinhalb Städte pro Monat, wie sein Kommandeur Arthur Harris nicht ohne Stolz vermerkte. Auch hat der Bomberchef nie einen Zweifel daran gelassen, wem die Mehrzahl der Angriffe galt: den Zivilisten, den Arbeitern. Nicht militärischen oder industriellen Zielen. Viele Angriffe waren Terror und sollten es sein, um die Moral der Deutschen zu brechen und so den Untergang des Nazireiches zu beschleunigen.“

Gibt es israelischen Terror gegen Zivilisten im Gaza-Streifen?

Wenn Dr. Frank Niggemeier in seinem Leserbrief den Versuch unternimmt, die über Zehntausend zivilen Opfer des Gaza-Kriegs mit jenen der alliierten Bombardierungen gleichzusetzen und hier zudem seine grauenvolle Familiengeschichte noch mit in die Waagschale wirft, dann hält ihm der Autor des „GEO“-Artikels indirekt entgegen, dass es sich dabei um „Terror“ handelt, Niggemeier also somit israelischen Terror gegen die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen verteidigen würde.

Im Gespräch von Epoch Times mit Dr. Frank Niggemeier wird deutlich, dass der hohe Beamte wohl nicht mit so einer Resonanz gerechnet hat. Er möchte nicht mehr darüber reden, allenfalls noch im privaten Kreis. Er habe viele private Meldungen bekommen.

Auch auf die Frage, ob er denn jetzt um seine Pension fürchten müsse, möchte er keine Antwort geben, nicht einmal unter drei. Aber warum sollte er um seine Pension fürchten? Das wäre eine finale Frage: Weicht Dr. Niggemeier mit seiner Auffassung vom offiziellen Kurs der Bundesregierung ab?

Staatsräson versus humanitäre Katastrophe mit Ansage

Offiziell wird immer wieder betont, dass Deutschland an der Seite Israels stehe, auch Merkels „Staatsräson“ wurde medienwirksam erneuert. Gleichzeitig allerdings befinden sich eine ganze Reihe teilweise quersubventionierter linker Vorfeldorganisationen der Ampelregierung auf Kriegsfuß mit Israel und schwenken die Fahne Palästinas auf den deutschen Straßen.

Und die Verlautbarungen der deutschen Außenministerin zum Konflikt hören sich ebenfalls gänzlich anders an, als es Dr. Niggemeier in der FAZ formulierte. „Annalena Baerbock spricht von ‚humanitärer Katastrophe mit Ansage‘“, titelte am 10. Februar 2024 die „Zeit“.

Mit anderen Worten: Selbst wenn ein hoher Beamter willens wäre, die Haltung der Bundesregierung in einem von ihm zur Privatsache erklärten Leserbrief zu übernehmen, dann setzt das zwingend eine solche nachvollziehbare Haltung voraus, die man kopieren könnte.

Abschließend auf die „private“ Autorenschaft angesprochen antwortet Dr. Frank Niggemeier, er finde es „unangebracht“ zu fragen, ob sein Rückzug ins Private vergleichbar wäre mit jenem, den Prof. Ulrich Vosgerau für sich in Anspruch nahm, als er seine Anwesenheit in Potsdam bei der Lesung von Sellner zur Privatangelegenheit erklärte. Aber wie privat kann ein namentlich veröffentlichter Leserbrief eines hohen Referatsleiters im Gesundheitsministerium sein? Privater als ein privater Kreis?

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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