Der Wiederaufbau Libyens – monumentale Herausforderungen

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Libyer besuchen am 10. November den beschädigten Friedhof von Sirte. Bis jetzt sind weniger als fünf Prozent der Einwohner von Gaddafis Heimatstadt Moamar zurückgekehrt.Foto: Joseph Eid/AFP/Getty Images
Von 24. November 2011

Muammar Gaddafis Missbrauch von Instrumentarien und Vermögen der Regierung über 42 Jahre lang hat in Libyen ein klaffendes politisches Vakuum, einen massiv geschädigten öffentlichen Dienst und eine praktisch nicht existierende Zivilgesellschaft hinterlassen. Dekaden der vorsätzlichen Manipulation der Staatsressourcen und ein grobes Missmanagement von Öleinnahmen haben zu sozialer Ausgrenzung geführt.

Laut Angaben der UNO lebten unter Gaddafis Herrschaft über 40 Prozent der sechs Millionen Einwohner Libyens unter der Armutsgrenze und hatten keinen direkten Nutzen von Libyens gewaltigem Ölreichtum. Die Effekte seiner bizarren Entscheidungen und die Verschwendung von Staatsressourcen verhinderten die wirtschaftliche Entwicklung.

Gaddafi verminderte administrative Strukturen, da er seinen zentralisierten Machterhalt durch ein System von tief verwurzelter Vetternwirtschaft und der wechselnden Stammesbündnissen etablierte. Dieses machiavellische Spiel und die andauernde Doppelzüngigkeit diente der Entwaffnung innerer Bedrohungen und der Schaffung einer amorphen politischen Vision.

Obwohl er für ein freigiebiges soziales System der Unterstützung für sein Volk sorgte, einige der besten sozio-ökonomischen Bedingungen auf dem afrikanischen Kontinent und in der arabischen Welt aufrechterhielt und weitere Fortschritte in der Alphabetisierung des Landes erzielte, hat Gaddafi am Ende weder für die in seinem dubiosen Manifest versprochene Demokratie noch für soziale Gerechtigkeit tatsächlich gesorgt. Neben einer langen Liste von überwältigenden Menschenrechtsverletzungen hat Gaddafi seinem Volk ein Land mit grassierender Korruption, Armut und schweren internen Spaltungen hinterlassen.

Der National Transitional Council (NTC) sieht sich nun bei seinen Bemühungen, Libyen von einem rigiden autoritären Staat in ein transparentes partizipatives System umzuwandeln, schwierigen Herausforderungen in Sicherheits- und Regierungsbelangen gegenübergestellt. Mit militärischen Führern und bewaffneten Parteien, die Rivalitäten und tief sitzendem Neid gegeneinander hegen, wird das Unternehmen und die Herausforderung, den Frieden zu wahren, äußerst schwierig.

Laut einem Bericht von Amnesty International sind Vergeltungsangriffe, Folter und willkürliche Verhaftungen sowohl aufseiten der Loyalisten Gaddafis als auch aufseiten der oppositionellen Kräfte immer noch weit verbreitet. Dies untergräbt weiterhin die konstruktiven Bemühungen der Versöhnung. Die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission, wie sie vom TNCnach dem Vorbild des South Africa’s Truth and Reconciliation Process vorgesehen ist, muss vorrangig sein, um Täter von Misshandlungen zur Verantwortung zu ziehen, Wiedergutmachungen an Opfer zu leisten und um die Wunden einer bitteren Vergangenheit zu heilen.

Um Recht und Gesetz wieder einzuführen, muss der NTC damit fortfahren, Glaubwürdigkeit zu gewinnen und als eine vereinende Kraft zu wirken, die das komplexe kulturelle Stammessystem einigermaßen vertreten kann. Für ein stabiles Nachkriegs-Libyen benötigt man einen strategischen Prozess gemeinschaftlichen Konsenses und Koalitionsbildung. Im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien wird der Mangel einer lebendigen Zivilgesellschaft, die die traditionellen Spaltungen in Libyen überbrücken könnte, wahrscheinlich den Prozess zur Stabilitätsbildung und das Vertrauen behindern. Deshalb sollte der NTC Libyens prekäres politisches Terrain durch einen Prozess führen, der oppositionellen Stimmen durch Partnerschaft Rechnung trägt, der Transparenz bietet und der Lösungen beinhaltet, die nachhaltig Konflikte beilegen.

Politische Infrastruktur

Mit der Einführung der Constitutional Declaration des TNC wurde ein Fahrplan für einen legalen Rahmen und ein klarer Zeitplan für politische Veränderungen etabliert. Allerdings ist die beunruhigendste Regelung des libyschen Entwurfs einer Interimsverfassung der hoch ambitionierte Zeitrahmen von 60 Tagen, um eine dauerhaft geltende Verfassung zu erstellen. Ohne eine genau durchdachte Verfassung wird dieses Vorgehen eine Prüfung durch die Zeit kaum überstehen.

Ein Wandel zu einer dauerhaften Demokratie verlangt einen aufrichtigen Austausch von Ideen, anhaltenden Dialog und innovative und dennoch praktikable Gesetzgebung. Obwohl der TNC dem libyschen Volk versichert, dass er sich zu einem schnellen Wandel verpflichtet und nicht die Absicht hat, die Zügel der Macht auf unbestimmte Zeit in den Händen zu halten, sollte der Prozess der Verfassungsbildung abwägend und transparent sein und die breite Teilnahme der Öffentlichkeit mit einbeziehen.

Der Irak und andere hoch politisierte Gebiete nach einem Konflikt zeigen uns, dass strenge Zeitpläne für eine Verfassung das Potenzial haben, soziale Spannungen auszulösen und zu Instabilität führen können. Folglich ist es von entscheidender Bedeutung, der Erstellung einer Verfassung ausreichend Zeit zu geben und Stammes- und konfessionelle Lager von einem sich prekär entwickelnden Rahmen in ein stabiles politisches System zu integrieren.

Auch wenn die islamische Rechtslehre, die Schari’ah, sicherlich in die zukünftige dauerhafte Verfassung mit eingehen wird, bleibt abzuwarten, ob es deren primäre Grundlage sein wird. Zudem wird Libyens Modell wahrscheinlich nicht der strengen fundamentalistischen Hanbali-Schule folgen, die unter den Qahhabis aus Saudi Arabien, in Pakistan oder den Taliban in Afghanistan eine herausragende Rolle spielt.

Libyen gehört zur Hauptrichtung der Maliki-Tradition, die hauptsächlich in Nord- und Westafrika praktiziert wird, und die eine progressivere Auslegung soziopolitischer Fragen anbietet. Der Maliki-Tradition zufolge betonen Richter al-maslaha al-mursalah (übersetzt als gesellschaftlicher Nutzen) und interpretieren die Shari’ah im Interesse des Gemeinwohls. Aber diese richterliche Auslegung kann nur umgesetzt werden, wenn die libysche Führung sich für die Gewährung der Gedankenfreiheit und der freien Meinungsäußerung sowie des Pluralismus verpflichtet, was bisher durch das islamische Vermächtnis begrenzt wird.

Unleugbar ist das islamische Gesetz oft missdeutet und benutzt worden, die Herrschaft repressiver Regimes zu rechtfertigen. In seiner extremsten Anwendung bedroht es Menschenrechte und verletzt die Rechte der Frauen. Der Fokus sollte deshalb nicht darauf gelegt werden, ob der Islam mit Demokratie vereinbar ist, sondern eher darauf, wie er in die islamische Rechtsprechung auf eine Weise einfließt, dass internationale Standards der Menschenrechte gestärkt statt behindert werden.

Eine bürgerliche Gesellschaft aufbauen

Ein entscheidender Teil des Übergangsprozesses ist der Aufbau von freiwilligen gemeinnützigen Verbänden. In Benghazi entstehen erste libysche zivile Gesellschaftsorganisationen, wo Aktivisten Interessenprogramme schaffen und Bündnisse mit Kollegen in Misrata schmieden. Zum Beispiel bringt der Attawasul-Verband (auf Deutsch: „sich in Verbindung setzen“ oder „hinausreichen“) 150 Freiwillige zusammen, um ein Medienkonsortium mit Radio und Zeitungsproduktionsdiensten zu betreiben. Außerdem dient er als eine Trainingsorganisation, künftige Leiter mit einer Auswahl von technischen Ressourcen und Fähigkeiten im Kapazitätsaufbau auszustatten.

Libyens beschädigte Infrastruktur muss wiederhergestellt werden. Auch das ist mitentscheidend dafür, einen friedlichen Übergang sicherzustellen. Einwandfreie Gerichte, ziviles Management und Aufsichtsorgane sind für das wirksame Funktionieren und die Rechtmäßigkeit eines existenzfähigen libyschen Staates entscheidend.

Die Herausforderungen sind enorm, doch kann das Versprechen, Libyens öffentliche Institutionen wiederherzustellen und die Strukturen seiner Regierungsgewalt zu stärken, durch eine ehrliche Einschätzung potenzieller Schwachstellen realisiert werden.

Als ölreiches Land mit den größten Vorräten in Afrika ist Libyen gegen Korruption und die düstere Möglichkeit einer Rückkehr zu einer Konzentration des Ressourcenreichtums in den Händen einer führenden Elite besonders anfällig. Gaddafi selbst häufte ein persönliches Vermögen von über 200 Milliarden US-Dollar an und mit den Öleinnahmen unter seiner Herrschaft begünstigte er in unverhältnismäßiger Weise ihm nahestehende Gefährten und Verbündete.

Die wichtigen Lehren über Korruption und Verantwortlichkeit in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ über das ölreiche Angola können ein Licht darauf werfen, dass Nationen wie Libyen – das von ähnlicher Misswirtschaft geplagt wurde – rigorosere Methoden bei der Ermittlung gegen Beamte einsetzen und für die staatlichen Ölfirmen öffentliche Rechnungsprüfungen einführen sollten.

Die Rolle äußerer Mächte

Mit der Erklärung der Befreiung sehen sich das libysche Volk und seine internationalen Anhänger nach dem Konflikt mit komplexen und schwierigen Problemen in den Bereichen der Sicherheit, der Stabilität und dem Wiederaufbau konfrontiert. Der UN-Sicherheitsrat billigte den Beschluss UNSCR 2009 (2011) einstimmig und gründete eine UN-Hilfsmission für Libyen (UNSMIL) mit einem anfänglichen Zeitraum von drei Monaten mit der Aussicht auf eine Verlängerung.

Die NATO-Mächte planen ihre Ausstiegsstrategie, wenn das Post-Gaddafi-Libyen in die staatsbildende Phase eintritt. Die Vereinigten Staaten, Europa und ihre Partner hatten eingegriffen, um libysche Zivilisten vor den Gräueltaten des Gaddafi-Regimes zu schützen.

Sicherlich wird Libyen technische Sachkenntnisse brauchen, um die Architektur seiner Regierungsgewalt wieder aufzubauen. Aber solche Hilfe sollte nur nach formeller Einladung kommen. Multilateral über die UN-Struktur zu arbeiten wird dazu dienen, solche Bitten zu erleichtern und den libyschen Übergang auf Kurs zu halten.

Der schwierige Pfad zu Sicherheit und guter Regierungsgewalt in Libyen verlangt politisches Engagement, eine strategische Vision, korrekte Mechanismen der Verantwortlichkeit und einen Rechtsrahmen, der die Zuversicht in den öffentlichen und den privaten Sektor anregt. Es gibt keine leichten Lösungen.

Libyens Infrastruktur kreativ wieder aufzubauen, indem Informations- und Kommunikationstechnologie eingesetzt wird, ist vielleicht die wirksamste Methode, sobald die Reform der Rechtsstaatlichkeit beginnt. Hier könnten Medien eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung staatsbürgerlichen Engagements spielen, indem sie die Libyer über bedeutsame Regierungsentscheidungen informieren. Damit sorgen sie für Transparenz, mit der sie Beamte davon abhalten können, korrupte Praktiken zu verwenden. Der freiere Informationsfluss in der arabischen Welt durch die Verwendung Medien gestaltet die politische Landschaft um und trägt zu einer beispiellosen Öffnung bei. Das wiederum führt zu einer Schärfung der öffentlichen Verantwortlichkeit.

Libyen hatte einen gehörigen Anteil an Stagnation und politischem Verfall. Das Versprechen für eine bessere Zukunft, für ein freies, wohlhabendes und demokratisches Libyen liegt in gemeinschaftlicher gesellschaftlicher Innovation, die nachhaltige Entwicklung und Wirtschaftswachstum liefern kann.

Saeb El Kasm ist Anti-Korruptionsberater und Mitarbeiter bei Foreign Policy In Focus. Er hat an der Universität von Kalifornien in Irvine politische und juristische Reformen im Mittleren Osten gelehrt.

Artikel auf Englisch: Rebuilding Libya-Challenges are Monumental

 

 



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