Jean-Michel Blanquer
Frankreich: Regierung fühlt sich durch „woke“ Vorstellungen angegriffen
Als Opfer einer von den USA auf Frankreich übergreifenden „woken“ Kultur sieht sich die Regierung von Präsident Macron. Ein Think-Tank des Bildungsministers soll Skeptikern nun erklären, warum der Säkularismus im Land Diskriminierungen in ausreichender Weise verhindere.

Erdbeben im Westen Frankreichs.
Foto: PATRICK KOVARIK/AFP via Getty Images
Frankreichs Regierung sieht sich als Opfer „woker“ Denkweisen – und will ihnen den Kampf ansagen. Dies berichtet das Nachrichtenportal „Politico“. Dagegen wolle man jetzt „die Republik stärken“, kündigte Experte Pierre Valentin vom Think-Tank „Le Laboratoire de la République“ an.
Diese Einrichtung ist nicht unbedeutend – immerhin ist ihr Vorsitzender der amtierende Bildungsminister Jean-Michel Blanquer. „Unser Land ist zur Zielscheibe der Woke-Bewegung geworden“, klagt Valentin, fügt jedoch entschlossen hinzu: „Gäbe es eine Impfung gegen das Woke-Virus, wäre es eine französische, und die Führer der Bewegung wissen das.“
Woke-Kultur sei Frankreich fremd
Auch Blanquer selbst gibt sich entrüstet anlässlich der von ihm wahrgenommenen Ausbreitung dessen, was er als einen „aus den USA importierten“ Störfaktor betrachtet und was der Kultur seines Landes fremd wäre. Gegenüber „Le Monde“ erklärte er in einem Gespräch über das Phänomen, das von Kritikern verdächtigt wird, den Einsatz gegen Rassismus und Diskriminierung in ein unwillkommenes Extrem zu treiben:
„Die [französische] Republik ist das vollständige Gegenstück zum Wokeismus. In den USA hat diese Ideologie eine Reaktion nach sich gezogen und zum Aufstieg von Donald Trump geführt. Frankreich und seine Jugend müssen ihr entkommen.“
Sechs Monate vor den Präsidentschaftswahlen will die Regierung Macron die „Laïcité“ [Säkularismus = Trennung von Staat und Kirche] – die anders als die US-amerikanische, gegenüber religiösen Gemeinschaften weniger wohlwollende französische Spielart des Säkularismus – als Medizin gegen den Wokeismus ins Spiel bringen. Dazu hatte Blanquer bereits im Vorjahr einen von 100 Akademikern unterschriebenen Aufruf in „Le Monde“ lanciert, in der „von nordamerikanischen Universitäten transferierte Theorien“ angegriffen werden.
Egalitarismus als eurozentrisches Instrument?
Um die Bemühungen um die Behauptung der „Laïcité“ zu forcieren, die in ihrem radikalen Egalitarismus nach Meinung ihrer Anhänger den ultimativen Schutz vor Diskriminierung darstelle, wurde auch der Think-Tank gegründet.
Kritiker dieses Ansatzes sehen hingegen gerade in diesem Konzept eine eurozentrische, weiße und von einem säkularisierten Christentum gekennzeichnete Bestrebung, die Diskriminierung von Minderheiten aufrechtzuerhalten.
Blanquer eröffnete die Denkfabrik am Mittwoch (20.10.) und erklärte vor Gesetzgebern und Akademikern in Paris, dass das neue Institut über die Parteipolitik hinausgehe und all jenen offenstehe, die „die Republik stärken“ wollten. Politiker und Anhänger der Regierung klagen beispielsweise darüber, dass öffentliche Mittel an Universitäten in „woke“-Projekte fließen, welche die Freiheit des Denkens einschränkten.
Exakt dies werfen Gegner der neuen Regierungsoffensive ihrerseits nun aber Macron und Blanquer vor. „Das ist McCarthyismus“, erklärt beispielsweise Rim-Sarah Alouane von der Universität Toulouse Capitole. „Ein Minister benutzt eine private Einrichtung, um Diskussionen über diese Themen zu verhindern. Er sagt: ‚Ich bin für diese Themen zuständig und werde dem Staat seine Sichtweise aufzwingen.‘ Sie versuchen, reaktionäre, konservative Wähler abzuziehen. Und natürlich die Wähler, die sich von Eric Zemmour angezogen fühlen.“
Systematische Diskriminierung von Personen, „deren Religion offensichtlich ist“
Im Namen der Laïcité werden in Frankreich beispielsweise keine Studien über ethnische Statistiken zugelassen.
Emmanuel Anjembe, der afroeuropäische Geschäftsführer eines Werbeunternehmens, sagte, der Laizismus in Frankreich sei angeblich blind gegenüber Religion und Hautfarbe, aber die Diskriminierung am Arbeitsplatz zeige, dass er versage:
„Ich habe vor kurzem eine verschleierte Absolventin einer Wirtschaftsschule mit Doppeldiplom eingestellt, die in Tränen ausbrach, weil sie über ein Jahr lang versucht hatte, einen Praktikumsplatz zu bekommen“, schildert Anjembe. „Man kann stundenlang darüber reden, was Laïcité bedeutet, aber diese Situation zeigt deutlich, dass eine Person, deren Religion offensichtlich ist, in Frankreich systematisch diskriminiert wird.“
Jüngste Zahlen zeigten, dass Frankreich bei der Vielfalt am Arbeitsplatz unter den westlichen Ländern mit am schlechtesten abschneidet. Laut „Le Monde“ haben Weiße eine 83 Prozent höhere Chance auf ein Vorstellungsgespräch als Nicht-Weiße.

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