Russlandexperte Prof. Rahr: Nüchterne Reflexion zur Entwicklung in der Ukraine

Russland und die Ukraine, Europa und die NATO. Verwirrende Informationen, sich widersprechende Berichte. Das Gefährliche ist momentan, dass keine der beiden Seiten überhaupt die Argumente des anderen verstehen, akzeptieren und nachgeben will. Im Gespräch mit dem Russlandexperten Prof. Alexander Rahr.
Titelbild
Russische Militärfahrzeuge am 23. Februar 2022 etwa 50 km vor der Grenze zur selbsternannten Volksrepublik Donezk.Foto: STRINGER/AFP via Getty Images
Epoch Times25. Februar 2022

„Der 24. Februar 2022 wird als Schreckensdatum in die Geschichte eingehen. Die Befürchtungen westlicher Staaten von einem Angriff Russlands auf die Ukraine entpuppten sich als wahr. Zur Stunde ist unklar, ob Russland eine Okkupation der gesamten Ukraine plant, oder ob Moskau Kiew mit Gewalt und Zerstörung der ukrainischen Militäranlagen, zur Neutralität zwingen will. Die Entrüstung über Russlands Krieg gegen die Ukraine ist im Westen riesig und absolut verständlich. Die Menschen haben Kriegsangst, Russland ist für sie jetzt schlimmer als die Sowjetunion. Und trotzdem: Wir brauchen auch in diesem Moment eine nüchterne Reflexion der Entwicklung in der Ukraine“, erklärt Alexander Rahr, Russlandexperte und Professor, der eng mit Kiew, Moskau und vielen osteuropäischen Staaten verbunden ist.

Angesichts der heiklen aktuellen Lage fragten wir Rahr um seine Meinung. Er gilt als einer der erfahrensten Osteuropa-Historiker, ist Politologe und Publizist und zudem Projektleiter beim Deutsch-Russischen Forum. 

Wie kam es zu dieser Lage? Um was geht es wirklich?

Vordergründig geht es um die Ukraine, tatsächlich geht es um die Ordnung in Europa seit 1990. Aus Sicht des Westens sollte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die neue Sicherheitsarchitektur für Europa und die Welt-Architektur unipolar sein. Das neue Europa sollte an liberalen Werten orientiert sein. Zudem sollte sie auf zwei Säulen aufgebaut sein: der NATO und der Europäischen Union – jedoch nicht auf der OSZE.

Die OSZE wurde in den 1970er-Jahren geschaffen, um einen Kompromiss mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt zu finden. Die Organisation löste gemeinsame Sicherheitsprobleme, befasste sich mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und anderen kulturellen oder humanitären Fragen im Rahmen eines gemeinsamen Europas.

Doch die OSZE wurde ausgeschaltet, weil die Amerikaner an ihr kein Interesse hatten. Sie haben die OSZE als eine Organisation angesehen, die man nicht mehr benötigte, die überholt war. Man nutzte den Moment, um Russland als Großmacht in Europa zu verhindern.

Die Umzingelung durch die NATO

Dass der Westen Kriege auf dem Balkan führte, gab den Russen den Vorwand zu sagen, die NATO ist nicht mehr friedlich. Dann kamen die arabischen Revolutionen in Libyen, Syrien und so weiter bis nach Afghanistan hinein, wo die NATO involviert war. Damit stimmt das Argument, dass die NATO eine friedliche Organisation ist, nicht mehr. Das war der Moment, wo in Russland immer stärker das Gefühl hochkam, dass die NATO Russland umzingelt.

Und dann ist US-Präsident Bush aus allen möglichen Verträgen herausgegangen, aus den alten Verträgen, aus der Zeit der Abrüstung und Entspannungspolitik und dem Kalten Krieg. Es signalisierte den Russen: „Ihr seid nur eine Regionalmacht, ihr seid für uns nicht mehr ebenbürtig. Wir machen das, was uns gefällt und ihr habt nichts zu sagen.“ Das ist jetzt die Situation.

Welche Rolle spielt Putin?

Wir haben es in Russland mit einem Ein-Mann-Autoritarismus zu tun – also ein Mann entscheidet. Das ist in der russischen Tradition sehr oft der Fall gewesen. Putin hat sich eine Gefolgschaft zusammengeholt, auch Institutionen aufgebaut, die ihm die alleinige Macht sichern, auch in Zukunft.

Er hat sich die ambitionierte Aufgabe gestellt, die sich lange Zeit kein russischer Präsident gestellt hatte. Er will Russland wieder zurückbringen nach Europa und die Fehler von Jelzin und Gorbatschow korrigieren. Dazu muss die weitere Osterweiterung der NATO, die demütigend für Russland und auch sicherheitspolitisch gefährlich ist, unterbunden werden.

Eine Mitgliedschaft der Polen, der Balten in der NATO, das hat Russland akzeptiert. Man hat verstanden, dass die Eliten dort in diesen Ländern eigentlich weg von Russland wollten und westlich denken wollten.

Bei der Ukraine ist die Situation tatsächlich ganz anders. Es ist ein zweigeteiltes Land, obwohl das in Deutschland heute nicht so gesagt wird.

Keiner will nachgeben

Die Ukraine wird zu einem Objekt, zum Spielball zwischen Russland und dem Westen – nach alter klassischer geopolitischer Manier. Das Gefährliche ist momentan, dass keine der beiden Seiten überhaupt die Argumente des anderen verstehen, akzeptieren und nachgeben will. Beide Seiten halten sich für überlegen. Keine Seite will nachgeben. Das ist eine gefährliche Situation in der Weltpolitik.

Was möchte Putin für die Ukraine?

Man will eine Ukraine, die in der Eurasischen Wirtschaftsunion integriert ist, so wie Weißrussland. Man will verbündete, freundschaftlich verbundene Staaten in der Nachbarschaft, die nicht dem Westen angehören und mit Russland kooperieren.

Am besten wäre für die Ukraine aus dieser Sicht ein neutraler Sonderstatus – die Ukraine also als Brücke zwischen Ost und West.

Aber der Westen hat der Ukraine versprochen, dass er die Ukraine in den Westen holt. Die heutigen Eliten in der Ukraine sehen das auch als ihre Aufgabe an – ihre Position als Frontstaat gegenüber Russland zu manifestieren, zu stärken, auch kriegerisch im Sinne von Waffen und so weiter.

Putins rote Linie: NATO-Osterweiterung

Putin hat 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt, dass es eine rote Linie gibt, die nicht überschritten werden darf. Dass die Amerikaner an der russischen Grenze in Rumänien und Polen eine Raketenabwehr aufgestellt haben, hat er sehr stark kritisiert. Was die russische Seite auch sehr verbittert hat, ist noch etwas anderes. Anfang der 2000er-Jahre hat Putin seine ganzen Stützpunkte in Asien, in Vietnam und in Kuba zugemacht und gesagt: „Wir wollen Frieden, wir wollen den Kalten Krieg beenden!“

Heute steht er da wie ein Dummkopf, weil der Westen gesagt hat: „Okay, du hast die zugemacht, aber du hättest ja sowieso keine Chance gehabt. Uns interessiert es nicht, ob du die zugemacht hast oder nicht. Ihr zählt sowieso nicht, ihr seid eine Regionalmacht!“ Das ist eine Demütigung.

Was wurde Russland von der NATO versprochen?

Es gibt einen großen Streit darüber, ob der Westen Russland vor 30 Jahren zugesichert hat, dass die NATO nicht weiter erweitert wird. Es gibt in der Tat kein schriftliches Abkommen.

Der Westen sagt: „Wir haben die alte Jalta-Ordnung 1990 beendet, also die alte Aufteilung Europas. Stattdessen haben wir jetzt die Pariser Charta. Wir alle leben in einem gemeinsamen Wertesystem, alle müssen demokratisch sein. Wer demokratisch ist, ist in unserem Club drin. Wer autoritär ist, ist draußen.“

Die russische Erinnerung an die Pariser Charta ist eine andere. Die Russen sagen: „Liberale Werte waren ein Punkt in dieser ganzen Geschichte. Viel wichtiger war, dass mit dem Konzept der Pariser Charta, also im Geist dieser Vereinbarung, ausgemacht wurde, dass man einen gemeinsamen Sicherheitsraum hätte, wo nicht die Sicherheit eines anderen Staates durch andere Staaten gefährdet wäre.”

Das wurde ihnen mit der Pariser Charta zugebilligt. Genscher hat mir am Ende seines Lebens erzählt, dass er schon das Gefühl hat, dass der Westen zwar keine Verträge, aber den Geist der Vereinbarung gebrochen hat. Man sagte den Russen tatsächlich: „Natürlich kommt eine NATO-Osterweiterung nicht infrage.“

Der Sowjetunion sagte man damals: „Zieht eure Truppen ab!“ – und die sowjetischen Truppen sind aus der ehemaligen DDR und aus ganz Osteuropa binnen weniger Monate abgezogen. Das ist in der Geschichte einmalig. Es geschah im Sinne des Aufbaus einer friedlichen Architektur in Europa. Der Westen negiert das heute.

Wie entstand der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine?

Unter Kohl und Schröder, ja teilweise auch Merkel, gab es die sogenannten Troika-Treffen. Russland, Frankreich und Deutschland haben bei diesen Treffen über die Sicherheitspolitik gesprochen. Die Russen waren zufrieden, man hat sie eingeladen. Als die Troika dann sehr aktiv wurde und gegen den Irakkrieg der Amerikaner vorging, sagte der Westen und die Amerikaner: „Wir akzeptieren diese Troika nicht mehr, die muss weg.“ Und Merkel hat sie abgeschafft.

Die Sowjetunion wurde aufgelöst. Aber – und jetzt kommt dieses aber, was im Westen immer vergessen wird – die souverän gewordenen Sowjetrepubliken sollten den gemeinsamen Sicherheitsraum behalten und eine gemeinsame Armeestruktur schaffen. Man wollte keine Armeen gegeneinander aufstellen. Man wollte nicht in andere Bündnisse gehen. Jeder Staat behält seine Souveränität, seine Unabhängigkeit. Um den Frieden auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion zu sichern, sollte es eine einheitliche Sicherheitspolitik geben.

Als Historiker sage ich, dass die Ukraine aus dieser Regel ausgeschert ist, und zwar im März und April 1992. Da sagte die Ukraine: „Das interessiert uns alles nicht, wir wollen in die NATO, wir wollen uns mit dem Westen verbinden. Wir wollen eine eigene Armee haben und wir wollen Teile der Schwarzmeerflotte von Russland bekommen.“ So entstand dieser Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.

Welche Rolle spielte die historische Sowjetunion dabei?

Die Sowjetunion wurde als Vielvölkerstaat aufgebaut. Lenin und Stalin haben es auf diabolische Art und Weise geschafft, die Grenzen der nationalen Republiken so zu konstruieren, dass die einzelnen Nationen nicht die Möglichkeit und die Macht bekamen, aus der Sowjetunion auszutreten.

Dafür gibt es viele Beispiele. Moldawien bekam Transnistrien, wo Russen lebten. Ähnliche Konstrukte gab es in Aserbaidschan, Georgien und Usbekistan.

In der Ukraine zeigt sich ein ganz besonderer Fall von Tücke durch Stalin und Lenin. Es grenzt an ein Wunder, dass die Sowjetunion dennoch mehr oder weniger friedlich zerfiel.

West- und Ostukraine unterscheiden sich

Die Westukraine ist die wahre Ukraine, sie gehörte früher zu Polen und Österreich. Dort haben immer Ukrainer gelebt, es wurde Ukrainisch gesprochen. Es gab immer Animositäten gegenüber Russland, auch gegen Polen, gegen alle Fremdherrscher. Das war ein Volk, das immer selbstständig werden wollte, aber es hat nie in der Geschichte diese Chance bekommen.

Die heutige Ostukraine jedoch war nie Teil der Ukraine, sondern russisch. Wenn man historisch zurückdenkt – es wurde von Katharina der Großen von den Türken erobert. Aber bevor die Türken dort waren, war das die Kiewer Rus.

Diese Gebiete sind der Ukraine zugefügt worden, administrativ auch die Krim, obwohl sie zu hundert Prozent russisch waren. Warum hat man das gemacht? Ganz einfach, damit die nationalen Ukrainer nie aus der Sowjetunion ausscheren konnten, weil die Russen sie dort gehalten hätten.

Seit 1990 haben die ukrainischen nationalen Kräfte und Nationalisten die Macht übernommen. Sie haben die sowjetische Ukraine geerbt.

Jelzin sagte in den 90er-Jahren, in Wirklichkeit sind diese ostukrainischen Gebiete ja russisch. Aber ihr könnt sie alle haben und die Krim könnt ihr auch haben, wir wollen keinen Streit. Und vor allen Dingen sind wir hier in einem gemeinsamen Sicherheitsraum. Wir werden ja nie gegeneinander kämpfen.

Jetzt passiert genau das Gegenteil. Putin hat recht, wenn er sagt: „Wir haben der Ukraine riesige russische Gebiete geschenkt.“ Die Ukraine behauptet jetzt, dass diese Gebiete immer ukrainisch waren.

Ich glaube, dass die Ostukrainer sich weiterhin als russischstämmig identifizieren. Das ist die Frage, um die es geht. Wenn sie sich nicht mehr als Russen identifizieren, dann hat Putin kein Recht zu fordern, dass diese Gebiete sich Russland anschließen oder an Russland orientieren.

Nach meiner Beobachtung stehen im Osten des Landes die Menschen weiterhin für ihre kulturelle und traditionelle Nähe zu Russland. Das zeigte sich bei den ukrainischen Wahlen, wo es in den letzten 30 Jahren immer eine Mehrheit für pro-russische Kräfte gegeben hat. Sie sprechen Russisch und werden jetzt gezwungen, die ukrainische Sprache aufzunehmen – mit Unterstützung natürlich des Westens.

Eine Lösung: Föderalisierung der Ukraine

Vermutlich will Putin in Lugansk und Donezk pro-russische, ukrainische Gebiete schaffen, die immer mehr Russland ähneln werden. Sie können ein Magnet für andere Regionen im Osten der Ukraine werden, die sich den Russen enger zugehörig fühlen als dem Westen.

Der Westen hat davor riesige Angst, weil die Ukraine dadurch zerstört oder in zwei Teile geteilt wird. Für mich wäre die Lösung des Problems eine Föderalisierung der Ukraine.

Heute sagt man im Westen: Russland hat nichts zu melden. Russland hat den Kalten Krieg verloren. Russland ist eine Regionalmacht. Russland ist ein Aggressor. Russland muss man eindämmen. Niemand redet von Entspannungspolitik, nur von Bestrafung, von Eindämmung, von Einhegung Russlands und findet das normal.

Was möchte die Ukraine? In die NATO?

Natürlich hat die Ukraine das Recht zu sagen „Ich will Mitglied der NATO werden“.

Doch es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt darin. Es gab einmal eine Diskussion darüber, ob Israel nicht NATO-Mitglied werden wollte. Dann hat man festgestellt, dass das sofort zu einem riesigen Konflikt mit allen arabischen Ländern führen würde. Theoretisch könnte Israel diesen Antrag stellen, aber er würde nicht durchkommen, weil der Westen sagen würde „es ist zu gefährlich, wir würden mit den Arabern dann in einen Krieg geraten“. Warum sagt man das in Bezug auf Russland und die Ukraine nicht?

Oder Taiwan. Wenn Taiwan heute sagt: „Wir wollen Schutz haben vor Rotchina und wir wollen Mitglied der NATO werden“, dann wird der Westen auch sagen „Das geht nicht, weil wir dann Schwierigkeiten mit den Chinesen haben und das riskieren wir nicht. Das geht nicht. Das ist auch sicherheitspolitisch für uns schlecht. Wir wollen ja in keinen Krieg mit den Chinesen verwickelt werden.“ Wieso sagt man das nicht im Falle der Ukraine?

Im Vergleich: Die Kuba-Krise

Russland ist keine Bananenrepublik, es ist keine Regionalmacht, sondern eben eine Großmacht und hat Interessen. Ich bringe oft das Beispiel, was im Westen keiner verstehen will. Man schaltet einfach ab und sagt, das ist alles Geschwätz von gestern. Aber es stimmt trotzdem. 

1963 fing Chruschtschow an, Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren, die leicht binnen zehn bis fünfzehn Minuten Washington, New York und amerikanische Städte hätten treffen können, ohne dass sich die Amerikaner dagegen hätten wehren können – damals gab es keine Raketenabwehr. 

In dieser Situation hat John F. Kennedy aus amerikanischer Sicht das einzig Richtige getan. Er hat gesagt: „Ich riskiere einen dritten Weltkrieg mit der Sowjetunion, aber ich werde diese Anlagen bombardieren.“ Er warnte sie: „Wenn ihr nicht in einigen Stunden alles abräumt, wird bombardiert.“ Auch die sowjetischen Schiffe, die Teil davon waren, die diese riesigen Raketen nach Kuba brachten, wollte er bombardieren. 

Dann gab es Verhandlungen und Chruschtschow hat den Rückzug angetreten. Die Amerikaner sagten: „Okay, wir helfen dir, dein Gesicht zu wahren. Dafür ziehen wir unsere kleinen Raketen aus der Türkei ab, die die Sowjetunion bedrohen“.

Damit war Ruhe und es begann eine Entspannungspolitik. Ein rotes Telefon zwischen Washington und Moskau wurde installiert. Man begegnete sich in Respekt und sah ein, dass man fast einen Dritten Weltkrieg riskiert hätte. Chruschtschow wurde deswegen zwei Jahre später abgesetzt.

Die Kuba-Krise ist ein wichtiges Beispiel in jeglicher Beziehung, weil sie gelöst wurde.

Und jetzt wird die Krise nicht gelöst – wobei alles jetzt genau umgekehrt ist. Putin ist in der Position von John F. Kennedy und der Westen ist praktisch in der Position der Sowjetunion damals, die Raketen oder ihre Militär-Infrastruktur bis an die russischen Grenzen vorgezogen hat.

Der Westen ist überheblich

Der Westen überhebt sich. Und das spürt er jetzt, wenn er sieht, dass Putin natürlich nicht im Rahmen einer Diplomatie, sondern brutalst einfach, um die NATO zu stoppen, Territorien anderer Staaten an sich reißt. Wie in Georgien, Abchasien und Südossetien, in der Ukraine, Lugansk und Donezk.

Und Putin wird es wahrscheinlich weiter tun, um die NATO-Osterweiterung oder das westliche Sicherheitssystem, das gegen Russland gerichtet ist, zu zerstören oder die Risiken zu minimalisieren.

Die Amerikaner, die Engländer, die Polen wollten die Ukraine in der NATO haben. Als ich im vergangenen Oktober in Russland war, in Sotschi auf dem Waldai-Treffen, kam die Nachricht, dass der amerikanische Verteidigungsminister Austin gerade in Kiew sei und dort den Ukrainern versprochen habe, dass sie bald der NATO beitreten würden. Warum tun die Amerikaner das? Warum macht das Joe Biden?

Welche Rolle spielen die Medien?

Im Grunde genommen sind wir schon in einem Stadium, wo es darum geht, zunächst einmal den Gegner zu entmenschlichen, also das Image des anderen Landes völlig zu zerstören. Leider passiert das jetzt.

Also wenn man hier die westlichen Medien sieht, dann werden solche Sachen über Putin geschrieben, die – ich wage das vorsichtig zu behaupten – in Deutschland damals in den 30er-Jahren über das bolschewistische Russland geschrieben wurden.

Gleichzeitig spitzt sich die Lage in den Medien Russlands zu. Man kann da überhaupt nicht mehr normal argumentieren. Die Leute sind aufgebracht und sagen: „Versteht denn der Westen nicht, dass wir uns gedemütigt fühlen, dass er unsere Interessen missachtet, dass er gegen uns agiert?“ Es kommen wieder Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg hoch. Das Wort „Genozid“ gegen Russen macht die Runde.

Niemand wird Deutschland angreifen, aber rhetorisch kann man ja alles in die Höhe treiben. Und der Westen sagt: Wir drücken auf den SWIFT-Knopf und zerstören die russische Wirtschaft.

Welche Rolle spielt SWIFT?

Vor sechs Jahren, vor sieben Jahren, hätte man Russland von SWIFT abschalten können. Damals war Russland völlig abhängig und gerade in die WTO eingetreten. Es war Teil der Globalisierung geworden und hatte sein ganzes Vermögen in amerikanischen Aktien und sein Geld für den Staat unter anderem in amerikanischen Wertpapieren gelagert.

Das ist alles heute nicht mehr der Fall. Man muss sich vorstellen, was das heißt: Es gäbe keinen Zahlungsverkehr mehr mit Russland. Wie soll der Westen, wenn es kein SWIFT mehr gibt, für russisches Gas, Öl und Kohle bezahlen? Das sind Milliardenbeträge jeden Monat.

Russland hat sich an Asien angekoppelt. Die Chinesen nehmen das natürlich mit Freude auf. Die sagen, wenn die Russen Probleme mit dem Westen haben, umso besser. Wir helfen und die Russen unterstützen uns dann vielleicht bei Taiwan oder bei einer anderen Frage. Aber was wichtig ist, dass es nicht nur China ist, sondern Vietnam, Südkorea, Indien. Auch ein Land wie die Türkei macht bei diesen Sanktionen mit Russland nicht mit. Letztendlich werden wir in eine Situation geraten, wo Russland nach Asien weggedrückt wird.

Russland hat sich einen Ersatzmarkt und Möglichkeiten geschaffen, um Geld zu leihen, die es unabhängig von den westlichen Sanktionen machen würden. Der Westen glaubt weiterhin, man hätte auch Druck gegenüber den Ländern Asiens, das zu unterbinden. Aber diesen Druck hat man nicht. Australien und Japan machen mit. Aber die anderen Staaten werden die Amerikaner nicht dazu bringen, hier diese Politik durchzuführen.

Der Westen muss die Sicherheitsinteressen Russlands anerkennen. Wenn er das nicht tut, dann wird Putin sich dieses Recht mit Gewalt nehmen, so schlimm das auch klingen mag.

Könnte Putin in Russland gestürzt werden? 

Das glaube ich nicht. Nach meinem Gefühl steht der Großteil der Bevölkerung hinter ihm. Auch jeder andere Präsident Russlands, auch ein Demokrat, wird sich gegen die NATO-Osterweiterung einsetzen, auch Nawalny. Niemand in Russland kann das akzeptieren.

Welche Fehler könnte der Westen machen?

Was dem Westen passieren kann, ist eine völlige Fehleinschätzung, eine Fehl-Überschätzung der eigenen Kräfte. Und davor habe ich auch Angst, dass der Westen sagt: „Wir sind stark genug, alle wirtschaftlich zu unterwerfen. Alle müssen machen, was wir tun, weil wir die bessere Moral haben. Wir haben das liberale System, wir sind auf der richtigen Seite der Geschichte und all die anderen sind auf der falschen Seite der Geschichte. Wir bekämpfen jetzt alle Diktatoren.“

Die Politiker der Welt sind überzeugt, dass es richtig ist. Aber es gefährdet den Frieden und die Sicherheit in der jetzt kommenden multipolaren Welt.

Ein Konflikt zwischen dem alten und neuen Europa

Die Europäische Union ist ein Imperium, man will in ihr so viele Staaten wie möglich zusammenführen, damit man zusammen stärker ist.

Es beruht auf einer Ideologie, auch wenn sie es bestreiten. Doch es gibt diese Ideologie, diese liberale Wertvorstellung des Westens. Sie ist sehr, sehr postmodern, sehr spezifisch auf westliche Interessen ausgerichtet, auf westliche Moral. Eben auf Demokratie, auf Menschenrechte, was alles für Europäer schön ist. Dafür hat Europa immer wieder gekämpft. Es bringt Wohlstand und die Menschen sind mehr oder weniger zufrieden. Man darf aber eines nicht vergessen: Das funktioniert nur in diesen Ländern, wo es diese Tradition dazu gibt. Und in einem Land wie Russland gibt es andere Traditionen.

Russland hat sich vom Kommunismus selbst befreit und wollte Teil Europas werden. Doch das Europa, auf das sich Russland bezogen hat, gilt für die heutige westliche Gesellschaft als „altes Europa“. Es ist das Europa der Nationalstaaten, der traditionellen Familienbindungen, kein Genderismus, kein Minderheitenkult. All diese Dinge, die heute im Westen in einer eher radikalen Form „in“ sind.

In Russland wurde das eben verneint. Man hat gesagt: Das machen wir nicht, das ist nicht unser Europa. Hier gab es eine andere Form von Demokratie, eine Demokratie mit einem starken Herrscher, und einem schwach ausgeprägten Parlamentarismus war immer der Fall. In Russland spielte auch die orthodoxe Kirche und auch die Armee eine ganz andere Rolle.

Russland baut nun für sich einen Nationalstaat auf, es will auch parallel Staaten integrieren, mit Kasachstan und Weißrussland, eine Art Eurasische Union gründen, mit der Ukraine. Aber das ist ein anderes Konzept, sicherheitspolitisch und wirtschaftlich.

Als in der Ukraine vor sieben Jahren die Geopolitik mit ins Spiel kam, wo der Westen gesagt hat: „Die Ukraine gehört in unsere Werte“, sagten die Russen: „Die Ukraine gehört in unsere Werte“. Aber die Ukrainer selbst waren ja gespalten, siehe Krim, Ostukraine und der Westen. Dieser eigentlich zivilisatorische Konflikt, der ein bisschen unsichtbar war oder den man nicht ernst genommen hat, man einfach nur sagte: „Na gut, die sind halt so und wir sind besser oder die sind besser oder die“, der fing dann plötzlich an, sicherheitspolitisch mehr und mehr eine Rolle zu spielen.

Vielschichtige Konflikte

So gesehen glaube ich, dass wir es mit einer Vielzahl von vielschichtigen Konflikten zu tun haben. Trotzdem bin ich optimistisch, dass die Deeskalation kommt, weil man auch damals im Kalten Krieg, wo die Situation ähnlich gefährlich war, trotzdem zur Deeskalation gefunden hat.

Man muss anerkennen, dass Russland selbst in den 90er-Jahren den größten Beitrag für den Frieden geleistet hat. Dafür ist Russland als Friedensfaktor niemals akzeptiert oder belohnt worden. Allein deswegen hätte man damals aus Sicht des Westens sagen müssen, wir wollen eine gemeinsame Architektur in Europa schaffen. Nicht gegen, sondern mit den Russen. Noch ist es dafür nicht zu spät.

Das Gespräch führte Maria Zheng, deutsche Bearbeitung Kathrin Sumpf. Der Artikel kann auch in unserer Wochenendzeitung Ausgabe 33 vom 25./26. Februar gelesen werden.



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