„Versagen der internationalen Gemeinschaft“: Die Taliban sind in Afghanistan zurück an der Macht

In Afghanistan haben die Taliban die Macht übernommen und Präsident Ghani hat das Land verlassen. Die überraschend schnellen militärischen Erfolge der Islamisten sind auch auf Fehler des Westens zurückzuführen.
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DIe Taliban sind an der Macht.Foto: AFP via Getty Images
Epoch Times16. August 2021

20 Jahre nach ihrem Sturz haben die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan wieder übernommen. Am Montag patrouillierten schwer bewaffnete Kämpfer der Miliz in den Straßen von Kabul, nachdem sie am Vorabend den Präsidentenpalast eingenommen und dort ihren Sieg über die afghanische Regierung gefeiert hatten. Am Flughafen der Hauptstadt spielten sich derweil chaotische Szenen ab: Tausende Menschen versuchten verzweifelt, einen Platz für einen Evakuierungsflug zu erwischen.

Die Taliban hatten am Sonntag nach einem zehntägigen Eroberungsfeldzug durch Afghanistan die Hauptstadt erreicht. Die afghanische Regierung erklärte sich zur Machtübergabe bereit, Präsident Aschraf Ghani floh ins Ausland. In einer Facebook-Botschaft gestand er die Niederlage gegen die Taliban ein.

Am Flughafen von Kabul drängten sich am Montag tausende Zivilisten, die aus Angst vor einer erneuten Schreckensherrschaft der Taliban das Land verlassen wollten. Die US-Regierung entsandte 6000 Soldaten zur Sicherung des Flughafens. US-Soldaten feuerten Schüsse in die Luft, um die Menge zu kontrollieren. Zeugen berichteten von mindestens einem Mädchen, das in dem Chaos am Flughafen ums Leben kam.

Die Flughafenverwaltung stellte derweil den kommerziellen Flugverkehr ein und begründete dies mit möglichen „Plünderungen und Verwüstungen“. Internationale Fluggesellschaften, darunter auch die Lufthansa, setzten ihre Überflüge über Afghanistan aus.

Deutschland, die USA und andere westliche Staaten arbeiteten mit Hochdruck daran, ihre Staatsbürger und afghanische Mitarbeiter auszufliegen. Die deutsche Luftwaffe entsandte am Montag mehrere Transportflugzeuge in Richtung Afghanistan. Bereits in der Nacht waren rund 40 Botschaftsmitarbeiter in einem US-Flugzeug nach Katar ausgeflogen worden.

In Kabul war es am Montag vergleichsweise ruhig: Die Straßen waren weniger belebt als am Vortag, während die Islamisten Kontrollposten in der Stadt errichteten. Ein Taliban-Sprecher teilte mit, dass „niemand ohne Erlaubnis das Haus eines anderen betreten darf“. Tausende Kämpfer sollen demnach auf dem Weg nach Kabul sein, um dort für „Sicherheit“ zu sorgen.

Mullah Abdul Ghani Baradar, einer der Gründer der Taliban, rief die Milizionäre in einem Online-Video zur Disziplin auf: „Jetzt ist es an der Zeit, zu beweisen, dass wir unserer Nation dienen und für Sicherheit und ein angenehmes Leben sorgen können.“

Schnelle Machtübernahme macht fassungslos

Die schnelle Machtübernahme der Taliban hat in den westlichen Staaten Fassungslosigkeit und große Sorge um die Zukunft des Landes ausgelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich erschüttert über die Lage in Afghanistan: „Für die vielen, die an Fortschritt und Freiheit gebaut haben – vor allem die Frauen – , sind das bittere Ereignisse“, wurde Merkel gegenüber AFP zitiert.

UN-Generalsekretär António Guterres rief die Islamisten zur Zurückhaltung auf. Er sorge sich insbesondere um die Zukunft der Frauen und Mädchen in Afghanistan, erklärte er. Die Miliz teilte auf Twitter mit, junge Mädchen dürften am Montag wie gewohnt zur Schule gehen.

Der UN-Sicherheitsrat in New York wollte am Montag zusammenkommen, um über die Lage in dem krisengeschüttelten Land zu beraten. Die Taliban hoffen auf die internationale Anerkennung als Führung Afghanistans.

China erklärte sich am Montag als erstes Land zu „freundlichen Beziehungen“ mit den neuen Machthabern bereit. „China respektiert das Recht des afghanischen Volkes, unabhängig sein eigenes Schicksal zu entscheiden“, erklärte eine Außenamtssprecherin. Die russische Regierung will eine Anerkennung der Taliban nach eigenen Angaben von deren „Verhalten“ abhängig machen.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace erklärte hingegen, dies sei „nicht der richtige Zeitpunkt“, um das Regime anzuerkennen. Die Machtübernahme der Islamisten bezeichnete er als „Versagen der internationalen Gemeinschaft“.

Die afghanischen Streitkräfte waren ohne die Unterstützung des US-Militärs dem Vormarsch der Taliban beinahe machtlos gegenübergestanden. Dennoch schockierte der rasche Zusammenbruch der afghanischen Regierung die Verantwortlichen in den westlichen Regierungszentralen. Kritikern zufolge hat insbesondere der Ruf der USA als Weltmacht damit schweren Schaden erlitten.

US-Kampfausrüstung für die Taliban

Milliarden von Dollar haben die USA in den vergangenen Jahren ausgegeben, um das afghanische Militär mit dem nötigen Rüstzeug für den Kampf gegen die Taliban auszustatten. Mit der vielerorts nahezu kampflosen Kapitulation der Regierungstruppen fallen Waffen und Ausrüstung nun in die Hände der Islamisten. Zehntausende afghanische Soldaten legten in den vergangenen Wochen ihre Waffen nieder – und die Taliban hoben sie wieder auf.

Die Kanäle der Islamisten in den Online-Netzwerken sind voller Videos, die zeigen, wie ihre Kämpfer Waffenlager übernehmen, mit erbeuteten Fahrzeugen patrouillieren oder vor Militärhubschraubern posieren. Aufnahmen aus der nördlichen Stadt Kundus, dem ehemaligen Standort der Bundeswehr, zeigen Taliban-Kämpfer am Steuer von mit schweren Waffen und Artilleriegeschützen bestückten Armeefahrzeugen. In der westlichen Stadt Farah fuhren die Aufständischen gar in Fahrzeugen mit dem Logo des afghanischen Geheimdienstes auf.

Die US-Truppen hätten bei ihrem Abzug zwar ihr „hochentwickeltes“ Equipment mitgenommen, sagt die Expertin für bewaffnete Konflikte, Justine Fleischner, von der britischen Organisation Conflict Armament Research. Aber insbesondere Fahrzeuge, Schusswaffen und Munition, die für die afghanischen Streitkräfte bestimmt waren, fielen nun massenweise in die Hände der Islamisten.

Zwar sind die Taliban ohnehin längst keine schlecht ausgerüstete Truppe mehr. Es wird vermutet, dass die Extremisten insbesondere in Pakistan über finanzstarke Unterstützer verfügen. Dennoch gehen Experten davon aus, dass die Übernahme modernen US-Materials ihnen noch einmal starken Aufwind geben wird.

Raffaello Pantucci vom Sinpagurer Think Tank S Rajaratnam School of International Studies sieht folgenden Effekt: Das moderne Material unterstreiche die „Autorität“ der Taliban in den eingenommenen Städten und Gebieten. „Das ist unglaublich ernst. Es ist ein gefundenes Fressen für sie“, sagt Pantucci.

Jubelnde Taliban-Kämpfer

Vom Flughafen von Kundus kursieren Aufnahmen jubelnder Taliban-Kämpfer mit einem erbeuteten Hubschrauber. Der ehemalige CIA-Mitarbeiter und Experte für Terrorismusbekämpfung, Aki Peritz, geht allerdings davon aus, dass solche Beutestücke keine direkten Auswirkungen auf das Kampfgeschehen haben werden – denn dafür fehlten den Taliban die Piloten. „Sie werden lediglich für Propagandazwecke genutzt werden.“

„Wir haben unseren afghanischen Partnern alle Mittel zur Verfügung gestellt – ich betone: alle Mittel“ – das sagte US-Präsident Joe Biden vor wenigen Wochen. Er verteidigte so seine Entscheidung, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen und den Kampf gegen die Islamisten den Afghanen selbst zu überlassen.

Dabei war Washington durchaus schon länger davon ausgegangen, dass die Taliban US-Waffen erbeuten könnten, wie US-Veteran Jason Amerine sagt. Das Pentagon habe dies bei seinen Plänen zur Beschaffung von Ausrüstung für die afghanischen Streitkräfte bedacht. Aber ein derart schnelles Vorrücken der Aufständischen, die am Sonntagabend schließlich Kabul einnahmen, sei dabei „das Worst-Case-Szenario gewesen“, sagt Amerine, der beim US-Einmarsch in Afghanistan 2001 eine Spezialeinheit leitete.

Und beispiellos ist die aktuelle Entwicklung ebenfalls nicht. Ähnliches passierte im Irak, als die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) Mitte 2014 nach dem US-Truppenabzug die Stadt Mossul überrannte. Waffen und Fahrzeuge, die von der US-Armee beschafft worden waren, fanden neue Besitzer. Gut gerüstet – auch und insbesondere für die Selbstinszenierung in den Online-Netzwerken – errichtete der IS von dort aus sein selbsternanntes Kalifat. (afp/oz)



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