Analyse: Das Ende der deutschen Willkommenskultur

Warum die Skepsis? Weil die meisten EU-Mitgliedstaaten sich auch nach dem für Merkel hilfreichen Kompromiss gegen bindende Quoten wehren und auf Freiwilligkeit bei der Migrantenaufnahme setzen.
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Merkel hat in Brüssel einen Satz gesagt, der sich vom Mantra „Wir schaffen das“ aus dem Herbst klar unterscheidet: „Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat auch keine Aussicht auf Erfolg.“Foto: Getty Images
Epoch Times21. März 2016
Augen zu und durch – so lässt sich die Haltung der Kanzlerin zum EU-Kompromiss in der Flüchtlingskrise umschreiben.

„Was soll ich jetzt an Horrorszenarien an die Wand malen? Jetzt lassen Sie uns erst einmal mit dem Prozess beginnen“, sagte Angela Merkel nach dem Gipfel. Der „Prozess“ – das ist die praktische Umsetzung der teils noch nebulösen Verabredungen mit Türken und Griechen für eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Nicht zuletzt wirkt dieser Pakt auch als „Stoppsignal“, das Merkels Widersacher schon länger fordern.

Geben Merkels Kritiker also bald Ruhe?

Wohl kaum. Dabei hat Merkel in Brüssel einen Satz gesagt, der sich vom Mantra „Wir schaffen das“ aus dem Herbst klar unterscheidet: „Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat auch keine Aussicht auf Erfolg.“ Das sollte im Sinne von Horst Seehofers CSU sein. Der Parteichef hatte vorige Woche nach diversen Drohungen weitere Daumenschrauben vorgezeigt, als er die Beschränkung der CSU auf Bayern in Frage stellte. Am Wochenende gab der Ministerpräsident noch kein Friedenssignal. Er sehe „die Gefahr, dass Deutschland wieder die Hauptlast bei der Aufnahme der Flüchtlinge trägt“. Auch „Obergrenzen“ will Seehofer weiterhin, und zudem eine Abstimmung über Merkels Migrationspolitik im Bundestag.

Warum die Skepsis?

Weil die meisten EU-Mitgliedstaaten sich auch nach dem für Merkel hilfreichen Kompromiss gegen bindende Quoten wehren und auf Freiwilligkeit bei der Migrantenaufnahme setzen. Zwar sagte Merkel nach dem Gipfel, sie gehe davon aus, dass „nicht nur ein Land“ am Ende bereitstehen werde. „Deutschland wird sich daran aber auch beteiligen. Alle haben ihre Bereitschaft entsprechend ihren Anteilen bekundet.“ Prinzipiell seien nur Ungarn und die Slowakei nicht dabei. Doch die Erfahrungen der vergangenen Monate lassen befürchten, dass eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge wieder schwierig wird. „Am Schluss liegt die Wahrheit an der Grenze – und bei der Zahl der Zuwanderer“, sagte CSU-Mann Markus Söder am Sonntagabend im ZDF.

Steht Deutschland denn noch am Rande der Überlastung?

Die Schließung der Balkanroute hat längst Wirkung gezeigt. An den bayerischen Grenzen tröpfeln die Flüchtlinge nur noch herein. Die Folgen sind bundesweit in halbleeren Flüchtlingsunterkünften zu besichtigen. So sind in Ostdeutschland die Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünfte teilweise nur zu 20 Prozent belegt, wie eine Umfrage der „Welt am Sonntag“ in den 16 Bundesländern ergab. Nur in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg gebe es weiterhin nahezu volle Unterkünfte, manche Heime seien sogar überbelegt.

Wie wird der Pakt in Deutschland jenseits der CSU politisch bewertet?

Der Kampf um die Deutungshoheit ist schnell entbrannt. Merkels Gefolgsleute wie der stellvertretende CDU-Chef Armin Laschet stimmen Loblieder auf ihre beharrliche Kanzlerin an. „Jetzt muss in Europa die Träumerei von nationalen Obergrenzen, Zäunen und Zollhäuschen und das Abschieben der Probleme auf die Nachbarländer beendet werden“, sagte Laschet der Deutschen Presse-Agentur – wohl auch in Richtung CSU-Schwester. Die SPD-Spitze trägt den Brüsseler Kompromiss als „wichtigen Schritt“ mit. Für Grünen-Chef Cem Özdemir stellt die Vereinbarung mit Ankara indes „europäische Werte infrage“. Und die FDP rät der Kanzlerin, nun endlich zu ihrem Kursschwenk zu stehen. „Bisher hat Frau Merkel ihre Flüchtlingspolitik nur schleichend und unausgesprochen korrigiert. Sie sollte sich jetzt offensiv dazu bekennen, dass die unkontrollierte Grenzöffnung und Aufnahme beendet ist“, sagte FDP-Chef Christian Lindner am Wochenende der dpa.

Was tut die Regierung kurzfristig zur Umsetzung des Flüchtlingspakts?

Berlin will Athen bei der Bewältigung des enormen Bürokratieaufwands helfen, den die Rückführung der in Griechenland landenden Flüchtlinge in die Türkei verursacht. Der Gipfel war erst wenige Stunden vorbei, da schrieb Innenminister Thomas de Maizière zusammen mit seinem französischen Kollegen Bernard Cazeneuve einen Brief nach Brüssel: Beide Länder seien bereit, jeweils 200 weitere Grenzschützer und 100 zusätzliche Asyl-Entscheider in die Ägäis abzuordnen. Erforderlich sind dort insgesamt rund 4000 neue Fachleute und Polizisten. Bei der Bundespolizei und dem Flüchtlingsamt sitzen Experten auf gepackten Koffern. „Die deutsche Hilfe ist schnell herstellbar“, sagte ein Sprecher de Maizières der dpa. Grünes Licht müsse die EU geben.

Welche Fragen sind in nächster Zeit unbedingt zu beantworten?

Jede Menge, denn der Pakt birgt viele Unbekannte. Aus deutscher Sicht muss vor allem „so schnell wie möglich“ geklärt werden, wie viele der bis zu 72 000 von der EU aufzunehmenden Flüchtlinge aus der Türkei nach Deutschland kommen. Kanzleramtsminister Peter Altmaier sichert zu, man werde schon nicht überfordert. Ein im Vorjahr gefundener EU-Verteilungsschlüssel werde wieder angewandt, so der CDU-Politiker am Sonntagabend in der ARD. Das hieße: Die Bundesrepublik übernimmt rund ein Viertel des Flüchtlingskontingents. Wie groß der deutsche Anteil an der zweiten EU-Finanzhilfe für Ankara (3 Milliarden Euro) ausfällt, ist noch offen. Von der ersten 3-Milliarden-Tranche schultert Deutschland 427,5 Millionen Euro.

(dpa)

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