Angst nach Amoklauf – das neue Lebensgefühl der Münchner

Die Sicherheitskräfte, die Politik und die gesamte Gesellschaft stehen vor einer schweren Aufgabe: Höchstmögliche Sicherheit gewährleisten und dennoch das öffentliche Leben weiterführen, sich nicht beugen.
Titelbild
Trauernde vor dem Olympia-Einkaufszentrum in München.Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Epoch Times25. Juli 2016
Hundert Menschen flüchten sich ins Münchner Polizeipräsidium. Andere suchen Schutz bei Bürgern, die ihre Wohnungen hilfsbereit für sie öffnen. Als am Freitagabend Schüsse im Olympia-Einkaufszentrum fallen und keine Busse und Bahnen mehr fahren, verfällt die Stadt in einen Ausnahmezustand.

Auch am Tag danach bleibt es in der Innenstadt ungewöhnlich leer. Die Stadt, bekannt für ihre pralle Lebenslust und stolz auf das Image der „Weltstadt mit Herz“, hat ein kollektives Trauma zu bewältigen.

Beklemmung, panikartige Szenen – die Münchner, die sich noch an Silvester von einem Terroralarm am Hauptbahnhof nicht aus der Ruhe bringen ließen, reagierten bei dem Amoklauf ein gutes halbes Jahr völlig anders. Während sie nach der Räumung des Hauptbahnhofs in der Silvesternacht neben den Absperrungen der Polizei ins neue Jahr feierten, laufen sie nun um ihr Leben. Mehrere straucheln und verletzen sich, als sie am Hofbräuhaus, am Stachus oder in der Fußgängerzone nach diversen Fehlalarmen davonrennen. Binnen vier Stunden gehen mehr als 4300 Notrufe bei der Polizei ein. Anders als an Silvester sind Schüsse gefallen und Tote gemeldet.

„Schauen Sie an, was zwischenzeitlich passiert ist“, sagt Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins. Man dürfe die Wirkung der Berichterstattung über die jüngsten Gewalttaten nicht unterschätzen – und das, was jeder dazu in den sozialen Netzwerken ansehen könne. Die Bilder des Terrors von Nizza mit 84 Toten, Fotos zur Axt-Attacke von Würzburg, aber auch von dem Massaker in Orlando und dem Putschversuch in der Türkei sind frisch. Sie haben sich in die Seelen eingebrannt.

„Es ist eine Kette von schlimmen Ereignissen, die sich in das Bewusstsein der Menschen eingeprägt haben. Sie vermischen sich in der Wahrnehmung der Menschen, auch wenn sie nichts miteinander zu tun haben“, sagt der Kriminalpsychologe Rudolf Egg. Die Gefahr durch Unwetter oder Verkehrsunfälle sei wesentlich höher. „Aber daran haben wir uns gewöhnt.“

In München ist an dem Amok-Tag nichts gewöhnlich. Die Polizei ruft dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. „Aus Sicherheitsgründen geschlossen“, heißt es auf einem Schild an einer Tankstelle. Menschen versuchen, Angehörige und Freunde zu erreichen, die in der Stadt unterwegs sind. Telefonnetze geraten an die Belastungsgrenze. „Ich kann mich nicht erinnern, je in einer deutschen Großstadt einen solchen Warnzustand erlebt zu haben“, sagt Egg, der viele Jahre die Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden leitete.

Szenarien, die sich noch vor Jahren niemand vorstellen konnte, scheinen in den Bereich des Möglichen gerückt. Mancher denkt an diesem Abend auch an einen koordinierten Anschlag mit mehreren Tätergruppen an unterschiedlichen Orten in der Stadt.

In Nizza und Würzburg richtete sich die Gewalt wahllos gegen zufällige Opfer. Die Täter waren vorher nicht auffällig. Diese Gewalt fürchten Sicherheitskräfte besonders. Sie ist kaum zu verhindern.

„Ich verstehe, dass die Bevölkerung besonders aufgewühlt ist“, sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) beim Besuch des Tatorts in München. „Es ist sehr wichtig, dass wir jeden Fall einzeln aufklären, dass wir die Hintergründe verstehen und die richtigen Konsequenzen ziehen können“, sagt er und appelliert an die Menschen in Deutschland und Europa, ruhig zu bleiben.

Das fällt vielen immer schwerer. Eine 16-jährige Schülerin erklärt nach dem Amoklauf am Frühstücktisch, dass sie während des Oktoberfests nicht mit der U-Bahn zur Schule fahren will – und wo sie sich bei einem Terroranschlag in der U-Bahn verstecken würde. „Ich kann nicht mehr ruhig schlafen“, sagt eine Mutter von drei Kindern. Ihre 13-jährige Tochter sagt: „Das ist schon ein komisches Gefühl. Ich will jetzt vielleicht doch nicht auf die Wiesn gehen.“

Die Stadt wird Zeit brauchen für die Verarbeitung. „Das wird wohl ganz lange dauern. Es ist wichtig, jetzt Frieden zu finden“, sagt Diakon Dietmar Frey, Leiter der evangelischen Notfallseelsorge im evangelischen Dekanatsbezirk München.

Die Sicherheitskräfte, die Politik und die gesamte Gesellschaft stehen vor einer schweren Aufgabe: Höchstmögliche Sicherheit gewährleisten und dennoch das öffentliche Leben weiterführen, sich nicht beugen. Denn genau das, mahnen Experten immer wieder, spielt Extremisten in die Hände, von Rechtsradikalen bis zu Islamisten. Und vielleicht auch weiteren Amokläufern und Nachahmern.

Vertrauen wieder herstellen – „das ist eine Gemeinschaftsaufgabe“, sagt da Gloria Martins. „Es ist sicherlich auch eine der Polizei, aber da müssen alle ran, da muss eine ganze Stadtgesellschaft dran arbeiten.“ Auch die Medien seien gefordert. „Der Trend der Skandalisierung ist mitunter der Treibstoff, den Angst braucht, um sich in den Köpfen festzusetzen.“

In nicht einmal zwei Monaten beginnt das Oktoberfest. Die Lage sei nicht gefährlicher geworden, betont Polizeipräsident Hubertus Andrä. Es habe sich um die Tat eines Einzelnen gehandelt. Auch das aber macht den Fall so verstörend. Denn, wie Kriminalpsychologe Egg sagt: „Gegen so einen einsamen Wolf gibt es keinen wirksamen Schutz.“

(dpa)

Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion