Freiheit in einem intervenierenden Staat?

Ein Gespräch über Möglichkeiten und Grenzen einer liberalen Utopie.
Rainer Fassnacht: Freiheit in einem intervenierenden Staat?
In einer freien Wirtschaft dürfen viele Wege begangen werden – die Nutzer entscheiden, ob es was taugt. In einer Planwirtschaft legt der Staat fest, was die Menschen zu genießen haben.Foto: iStock
Epoch Times18. September 2022

Rainer Fassnacht ist Diplom-Ökonom und Autor des Buches „Unglaubliche Welt: Etatismus und individuelle Freiheit im Dialog“, welches unter dem Titel „Voluntary Country“ nun auch in Englisch vorliegt. Mit ihm unterhielt sich die Epoch Times über individuelle Freiheit, derzeitige politische Probleme und Etatismus, den Glauben, dass der Staat als Problemlöser fungieren könnte.

Herr Fassnacht, was ist der Hauptaussagepunkt Ihres Buches?

Dass es denkbar ist, gesellschaftliche Probleme ohne Etatismus zu lösen! Bei uns ist die Überzeugung verbreitet, dass wir für diverse Probleme staatliche Eingriffe brauchen. Das Buch beschreibt eine Welt, die darauf verzichtet.

Wie stehen Sie persönlich zum Etatismus?

Der Etatismus ist unsere heutige Realität, von daher ist das im Buch Beschriebene an vielen Stellen zunächst sehr ungewöhnlich. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit deutlich weniger politischem Einfluss besser auskommen würden. Solche Interventionen schaffen einige Probleme erst und verstärken andere. Ein schönes Beispiel erleben wir derzeit im Energiebereich.

Können Sie das weiter ausführen?

Im Energiebereich werden zunehmend marktliche Lösungen durch politische Vorgaben ersetzt. Sowohl bei der Erzeugung als auch beim Verbrauch werden Vorgaben gemacht – im Grunde erleben wir den Übergang in eine Energie-Planwirtschaft. Und das passiert nicht nur dort.

Aber wir wissen aus der eigenen deutschen Geschichte und zahlreichen aktuellen und historischen Beispielen in anderen Ländern, dass Planwirtschaft nicht funktioniert. Auch wissenschaftlich wurde gezeigt, dass Planwirtschaft nicht funktioniert – sie führt zu Freiheits- und Wohlstandsverlusten.

Es gibt den schönen Merksatz, dass der Markt ein Ergebnis menschlicher Handlungen ist, aber nicht menschlichen Designs. Letzten Endes wirkt der Markt wie ein natürlicher Prozess. Wenn angefangen wird, die Flexibilität des Marktes außer Kraft zu setzen, bestimmte Preise politisch festzulegen, Produktionstechniken vorzuschreiben, Gewinne zu kappen oder Ähnliches, gerät alles aus dem Takt und funktioniert nicht mehr optimal. Das erleben wir derzeit.

Wie sähe für Sie eine Alternative zum Etatismus aus?

Der klassisch-liberale Ansatz geht davon aus, dass sich der Markt und gesellschaftliche Institutionen evolutionär von unten nach oben entwickeln – ohne politische Planung beziehungsweise staatliche Intervention. Die von mir vorgestellten Lösungsansätze sind daher eine Möglichkeit von vielen – niemand kennt die Zukunft.

Es gibt keine Anleitung nach dem Motto: „Genau so muss man vorgehen, um eine neue Gesellschaft zu schaffen“. Stattdessen wird eine denkbare von vielen möglichen Alternativen beschrieben. Was die Entwicklung zu einer freieren, mehr marktwirtschaftlichen Gesellschaft auslöste, bleibt unklar.

Es gab einen „großen Umbruch“, der zu mehr Markt und weniger Macht führte. Daher sind in der neuen Welt Verkehrsinfrastruktur, Schulen und vieles mehr das Ergebnis freiwilliger Kooperation ohne Planwirtschaft und Interventionismus.

In dem Nachwort des Buches schreiben Sie: „Die neue Welt ist eine Fiktion. Es handelt sich um eine denkbare, aber gerade nicht zwingende oder planerisch realisierbare Gesellschaft. In diesem Sinne kann und soll die vorgestellte liberale Utopie auch keine Vorlage für einen starken, künftigen zentralen Planer liefern.“ Das bestätigt das von Ihnen Gesagte. Was ist dann Ihr Ziel mit dem Buch?

Heute sind wir bei vielen Problemen der festen Überzeugung, dass sie nur über Etatismus gelöst werden können. Das Buch soll zeigen, dass wir auch mit weniger Etatismus zurechtkämen – aber es wäre nötig, gewohnte Bahnen zu verlassen. Vieles davon hat es schon gegeben. Beispielsweise entstanden viele Straßen, Schienen und Wasserwege durch private Initiative und wurden über Aktiengesellschaften finanziert – historische Aktien dokumentieren einen Teil dieser Entwicklung.

Heute gilt Infrastruktur in Deutschland selbstverständlich als Staatsthema. Dabei sind gleich nebenan in Frankreich die Autobahnen schon heute privat finanziert. Und selbst bei uns gibt es private Straßen, Häfen oder Flugplätze.

Der Weg über den Staat geht mit Zwang einher, wenn beispielsweise der Bau einer Autobahn über Steuern finanziert wird. Wird auf diese etatistische Lösung verzichtet, muss die gewollte Autobahn ebenfalls finanziert werden, aber das passiert auf freiwilligem Wege.

Es zeigt sich: Mehr Etatismus bedeutet immer weniger Freiheit. Wenn ich Freiheit erhalten möchte, ist es wichtig zu schauen: „Welche Marktlösung ist möglich?“ Und das geht nur mit weniger Etatismus – darauf möchte ich aufmerksam machen.

Im Buch wird geschrieben, dass Veränderungen in der neuen Welt von unten passieren und auch im Gespräch haben Sie darauf hingewiesen. Was genau meinen Sie damit? 

„Von unten“ im Sinne von Menschen erkennen einen Bedarf und tun sich zusammen. Ich gebe ein konkretes Beispiel: In einer Umgebung sind Eltern, die eine Kinderbetreuung in der Nähe wünschen. Eine Möglichkeit ist, nach dem Staat zu rufen. Die andere Möglichkeit ist zu überlegen, was kann ich selbst zusammen mit anderen tun.

Das Beispiel zeigt noch etwas anderes. Wir haben zwar den rechtlichen Anspruch auf einen Kindergartenplatz, aber faktisch oft keine Kindergartenplätze. Wer nach dem Staat als Problemlöser ruft, löst damit Zwang gegenüber anderen Menschen aus und steht am Ende vielleicht trotzdem ohne Lösung da.

Sie beschreiben, dass jeder Einzelne für Fehler verantwortlich ist. Wie wird in unserer Gesellschaft von der Regierung mit Fehlern umgegangen?

In dem Buch kommt das Thema hauptsächlich im Zusammenhang mit Netzwerkstrukturen vor. Die dabei vorgestellte Utopie einer liberalen Welt geht davon aus, dass durch Abstimmung der Menschen untereinander ein Netzwerk entsteht, in dem einzelne Menschen ihre Handlungen freiwillig vollziehen.

In diesem Prozess treffen einzelne Menschen auch einmal Entscheidungen, welche sie im Nachhinein vielleicht bereuen. Aber der einzelne Mensch hat mit seiner Handlung nur einen relativ geringen Schadensraum. Eine zentral getroffene politische Entscheidung mit negativen Konsequenzen für ein ganzes Land hat deutlich weitreichendere Auswirkungen – und es sind die Bürger, die das ausbaden müssen.

Daher ist auch aus dem Blickwinkel der Risikostreuung die dezentrale der zentralen Lösung – oder anders ausgedrückt – die freiwillige Lösung der Zwangslösung vorzuziehen.

Wie stehen Sie insgesamt zu einem Verzicht von Behörden für Soziales in unserer Gesellschaft?

In dem Buch werden soziale Fragestellungen über freiwillige Arrangements geregelt. Auch in diesem Fall gibt es historische Vorbilder. Die ersten Sozialeinrichtungen im Zuge der Industrialisierung gingen von den Unternehmern aus, zum Beispiel die Schaffung von Wohnraum, oder waren Organisationen der Arbeiterschaft. Es fing mit Selbsthilfe-Einrichtungen aus dem Kreis der Betroffenen an.

Die Ausgaben für Soziales steigen von Jahr zu Jahr. Es ist der größte Posten im bundesdeutschen Haushalt. Wurden die sozialen Probleme von Jahr zu Jahr geringer? Ich habe nicht den Eindruck. Im Gegenteil, die sozialen Probleme haben zugenommen, obgleich die Ausgaben des Staates für Soziales gewachsen sind.

Staatliche Bürokratie kann den echten zwischenmenschlichen Austausch und echte solidarische Hilfe von Mensch zu Mensch nicht ersetzen. Wenn Sie erkennen, dass jemand in Not ist, kommt ihre direkte Hilfe ohne Umwege an. Es gibt keine Institution dazwischen. In dem Moment, wo eine Behörde dazwischengeschaltet wird, gibt es zwei Probleme: Erstens muss ein Teil des Geldes ausgegeben werden, um diesen Mittler zu bezahlen. Zweitens geht der individuelle Bezug verloren.

Sie betonen in dem Buch mehrmals die Freiheit von Menschen. Sie beschreiben, dass auf politische Macht und Zwang verzichtet werden könne. Wie passen Menschen für sie in das Modell, die nach ihrer Definition oder auch nach der Allgemeindefinition nicht mehr menschlich handeln?

Zweifelsohne gibt es Räuber und Mörder, aber erfreulicherweise sind diese Menschen die Ausnahme und nicht die Regel. Grundsätzlich sind Menschen soziale Wesen. Soziales, freiwillig kooperatives Verhalten ist ein Ergebnis der menschlichen Evolution – auch Tradition und Religion zeugen davon.

Arbeitsteilung, Familienbindung, Nächstenliebe oder Sprache – dies und vieles mehr gäbe es nicht ohne unseren grundsätzlich sozialen Charakter. Wer davon ausgeht, dass Menschen prinzipiell unsozial sind, hat damit auch kein Argument für mehr staatlichen Zwang – denn Politiker sind ebenfalls Menschen.

Meines Erachtens ist der Mensch ein soziales Wesen. Daher sind der direkte zwischenmenschliche Kontakt und der Markt die besten Mechanismen, ihn auch als soziales Wesen wirken zu lassen.

Das Interview führte Sarah Kaßner.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 62, vom 17. September 2022.



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