Relotius 2.0? „Spiegel“ zieht Story über totes Flüchtlingskind zurück

Vier Jahre nach dem Relotius-Skandal stellt der „Spiegel“ vier Artikel offline. Twitter-Nutzer hatten dem verantwortlichen Reporter Fake-News vorgeworfen.
Titelbild
Mädchen nach Ankunft im Hafen von Piräus, Nähe Athen.Foto: LOUISA GOULIAMAKI/gettyimages
Von 25. November 2022

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Fast vier Jahre, nachdem der Fall Claas Relotius den deutschen Journalismus erschüttert hat, findet sich der „Spiegel“ erneut in Erklärungsnöten. Wie das Portal „Medieninsider“ berichtet, hat das Magazin vier Artikel offline gestellt, die sich mit Todesfällen Geflüchteter im Mittelmeer befassen.

Die Texte befassen sich mit der Situation von Schutzsuchenden am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022. Der Grenzfluss war bereits in den vergangenen Jahren Schauplatz von Versuchen Geflüchteter, auf irregulärem Wege in die EU einzureisen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex überwacht die Lage dort unter anderem per Luftschiff.

„Spiegel“ vertraut eigenem Artikel nicht mehr

Dem „Spiegel“ zufolge sollen im vergangenen Sommer Dutzende Geflüchtete auf einer Insel im Evros gestrandet sein. Dabei soll ein fünfjähriges Mädchen an den Folgen des Bisses eines Skorpions gestorben sein, wobei griechische Grenztruppen den Flüchtlingen Hilfe verweigert hätten. Angehörige hätten das Mädchen anschließend auf der Insel begraben. Berichtet hatte über die Vorfälle der „Spiegel“-Reporter Giorgos Christides.

Mittlerweile befindet sich auf der Seite, auf der die Beiträge zum Thema „Todesfalle EU-Grenze“ befanden, ein Vermerk. Dort heißt es:

An dieser Stelle befand sich ein Beitrag über das Schicksal einer Flüchtlingsgruppe am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros im Sommer 2022. Mittlerweile gibt es Zweifel an der bisherigen Schilderung der damaligen Geschehnisse. Wir haben daher mehrere Beiträge zu diesem Thema vorläufig von unserer Website entfernt.“

Man wolle die eigene Berichterstattung „überprüfen“, heißt es vonseiten des „Spiegel“. Nach Abschluss der Recherchen wolle man die Beiträge „gegebenenfalls in korrigierter und aktualisierter Form erneut veröffentlichen“.

Fragen rund um die Existenz des angeblich verstorbenen Mädchens

In sozialen Medien artikulierten schon bald einige Nutzer Zweifel an der Richtigkeit der Schilderungen im Nachrichtenmagazin. Auch der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi hatte sich mit einem Schreiben an „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann gewandt. Darin warf er dem Medium vor, „ungefiltert“ Behauptungen von NGOs wiedergegeben zu haben.

Es soll dem „Medieninsider“ zufolge sogar Zweifel am Todesfall der kleinen Maria gegeben haben – und sogar an deren Existenz. Christides weist diese zurück. Bereits Ende August erklärte er, persönlich mit deren Eltern gesprochen zu haben und „anders als die Politik“ nicht an deren Aussagen zu zweifeln. Im September äußerte er, griechische Behörden würden sie unter Druck setzen, ihre Aussage nicht beizubehalten.

Allerdings hätten ihm auch andere Personen die Existenz des Mädchens bestätigt und es gebe eidesstattliche Erklärungen gegenüber der Staatsanwaltschaft. „Spiegel“-Korrespondenten, aber auch die internen Faktenchecker haben dem „Medieninsider“ zufolge den Schilderungen der Flüchtlinge auf Basis ihrer Recherchen geglaubt.

Hat der „Spiegel“-Reporter seinen Quellen zu leichtfertig vertraut?

Im Dezember 2018 hatte der „Spiegel“-Journalist Claas Relotius gekündigt, nachdem ein Kollege ihm in mehreren Fällen Fake-News nachweisen konnte. Relotius soll nicht nur Personen und Gespräche, sondern sogar komplette Reisen, über die er berichtet hatte, frei erfunden haben.

Zuvor hatte Relotius mehrere hoch dotierte Journalistenpreise erhalten. Der Skandal rückte die gesamte deutsche Medienbranche ins Zwielicht. Die internen Prüfmechanismen des „Spiegel“ hätten nicht nur aus Gründen der Nachlässigkeit versagt, hieß es damals von Kritikern. Vielmehr habe man es vielfach gar nicht für nötig gehalten, die Angaben von Relotius zu überprüfen. Der Grund dafür sei gewesen, dass es diesem gelungen sei, sprachliches Geschick mit der gewünschten politischen Haltung zu paaren.

Der Fall Christides ist etwas anders gelagert. Relotius hatte vorsätzlich unzutreffende Beobachtungen wiedergegeben. Demgegenüber stellt sich bei Christides die Frage eines möglicherweise zu leichtfertigen Umgangs mit Quellen.

Mehrfach Pushbacks mit Todesopfern an der griechisch-türkischen Seegrenze

Dass es entlang der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei immer wieder zu sogenannten Pushbacks von Flüchtlingen kommt, gilt als gesichert. Dabei soll es auch schon zu Todesfällen gekommen sein. Bei Frontex hatte man sogar eingeräumt, die Pushbacks nicht unterbunden zu haben. Zuvor hatte das EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF in einem Bericht Frontex deren Vertuschung attestiert.

Zu diesem Zweck soll die EU-Agentur sogar ihre Luftüberwachung abgeschaltet haben. Im Frühjahr 2022 trat Frontex-Chef Fabrice Leggeri zurück. Die Organisation erklärte, im OLAF-Bericht gehe es um „Praktiken aus der Vergangenheit“. Unter Pushback versteht man die Praxis, Flüchtlinge, die bereits eine Grenze überschritten haben in der Absicht, einen Asylantrag zu stellen, gewaltsam wieder abzuschieben.

Erst im September soll es vor der türkischen Küste bei Muğla zu sechs Todesfällen gekommen sein – darunter fünf Kinder. Die Türkei macht einen griechischen Pushback gegen ein libanesisches Flüchtlingsboot mit 73 Asylsuchenden dafür verantwortlich. Die türkische Küstenwache habe diese aus Seenot gerettet, es würden jedoch Personen vermisst. Griechenland weist die Vorwürfe zurück, die EU-Kommission äußerte, sie erwarte eine Untersuchung.



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