„Es gibt keine absolute Sicherheit“
Risikoforscher: „Die wenigsten Menschen haben gelernt, Risiken abzuwägen“
Studien belegen, viele Menschen verstehen Zahlen nicht. Das gilt auch für Berufsgruppen, die diese Kompetenz haben sollten – von Journalisten bis zu Politikern. „Das Ausmaß der Zahlenblindheit ist erschreckend“, sagt Professor Gigerenzer.

Professor Gerd Gigerenzer, Angst- und Risikoforscher. Lehrt die Kunst des Entscheidens und den Umgang mit Unsicherheiten.
Foto: Dennis Grombkowski/Bongarts/Getty Images
Der Risikoforscher Professor Gerd Gigerenzer fordert von der Bundesregierung mehr Mut im Umgang mit der Corona-Krise.
Im Interview mit der „Welt“ sagt er, dass die wenigsten Menschen einen gesunden Umgang mit Risiken in ihrem Leben gelernt hätten. Die derzeitige Corona-Krise wäre eine Chance, dies jetzt zu ändern.
Statistiken richtig lesen – eine Kompetenz die auch Politikern fehlt
Auf die Frage, wie denn ein gesunder Umgang mit Risiken und Unsicherheiten erlernt werden könne, antwortet der Professor, dass er dabei alle in der Verantwortung sehe: Ministerien genauso wie Lehrpläne, Schulen, Journalisten und Eltern.
Aus den vergangenen Krisen sei zu wenig gelernt worden, erläutert der Experte gegenüber der Zeitung. Der 11. September 2001 sei ein gutes Beispiel dafür. Viele Amerikaner seien aus Angst vor dem Fliegen auf das Auto ausgewichen und längere Strecken selbst gefahren.
Das hatte dazu geführt, dass im Folgejahr 1.600 Menschen mehr als sonst aufgrund von Unfällen im Straßenverkehr gestorben sind. In der gleichen Zeit gab es hingegen kein Flugzeugunglück.
„Dieser Tunnelblick, nur auf ein Risiko zu schauen und alles zu tun, um es zu vermeiden, hat sich in der COVID-19 Krise wiederholt,“ so Gigerenzer.
Die Diskussion um die Delta-Variante würde viel zu aufgeregt geführt, befindet der Professor. Blicke man nicht nur auf die Virusvarianten, sondern auch auf den Anteil der Krankenhauseinweisungen und Todesraten, so sei zu erkennen, dass diese beispielsweise in Großbritannien nur sehr bedingt zunehmen.
In den Schulen werde Kindern und Jugendlichen Algebra, Geometrie oder Trigonometrie beigebracht, fährt Gigerenzer fort und betont, dass gerade in der jetzigen Situation statistisches Denken gefragt wäre und auch Kenntnisse in der Psychologie im Umgang mit Risiken erlernt werden sollten. Man könnte das selbständige Denken zum Beispiel mit der Frage anregen, ob die Sieben-Tage-Inzidenzen heute, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist, vergleichbar ist mit denen aus dem vergangenen Jahr?
Viele Menschen sind nicht darauf vorbereitet mit Ungewissheiten umzugehen
In dem Pandemiegeschehen der letzten Monate habe es sich gezeigt, dass viele Menschen mit Ungewissheit nicht umgehen könnten. Es sei ein Kernprinzip, sagt Professor Gigerenzer, dass es keine absolute Sicherheit im Leben gibt, „außer dem Tod und den Steuern vielleicht“.
„Die Einsicht, dass es keine absoluten Sicherheiten gibt, ist der erste Schritt in Richtung Risikokompetenz.
Alle müssten lernen, selbst mitzudenken. Trotzdem seien manche Menschen erstaunt darüber, wenn ein doppelt Geimpfter dennoch positiv auf Coronaviren getestet wird. Dabei sei allgemein bekannt, dass die Impfstoffe keine Wirksamkeit von 100 Prozent aufweisen.
Bei AstraZeneca wurde in den Medien – als Nebenwirkung der Impfung – von schweren Thrombosen berichtet. Die Bevölkerung habe Angst vor der Impfung bekommen und Politiker setzten das Vakzin von AstraZeneca vorübergehend aus. Dieses Aussetzen der Impfung habe die Menschen jedoch nicht beruhigt, sondern im Gegenteil noch mehr verunsichert, erklärt Professor Gigerenzer weiter.
Auf die Frage, was die Politiker sonst hätten machen sollen, sagt er: Regierungen und Medien sollten den Mut haben, stärker die Unsicherheiten anzusprechen. In dem Fall wäre zu erklären gewesen, dass man hier Risiken abwägen muss – statt nur starr auf die Thrombosen zu blicken.
Eine Umfrage des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Charité in Berlin habe gezeigt, dass die meisten der Befragten eine offene Kommunikation über Unsicherheiten während der Corona-Krise befürworte.
Zur Person: Prof. Gerd Gigerenzer ist Risikoforscher. Er trainiert Manager, amerikanische Bundesrichter und deutsche Ärzte in der Kunst des Entscheidens und im Umgang mit Risiken und Unsicherheiten.
Prof. Gigerenzer ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung sowie des 2009 gegründeten Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Berlin. Er ist Autor des Buches: „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“.
Als Ergänzung: Kurzvortrag von Prof. Gerd Gigerenzer Risiko – Warum fürchten wir, was uns nicht umbringt?
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