Verfassungsgericht nach Kanzlerdinner weiter in Kritik

Neue Aspekte des geheimen Kanzlertreffens werfen weitere Fragen auf. Medienberichten zufolge soll der Bundesverfassungsgerichtspräsident selbst die Änderung der Tagesordnung angeschoben haben.
Von 11. Oktober 2021

Antipasti, Geschnetzeltes vom Rinderfilet und Schokoladenmousse. Das Kanzlerdinner vom 30. Juni hinter verschlossenen Türen steht weiterhin in Kritik. Bekannt geworden war zunächst, dass an diesem Treffen alle Richter des Bundesverfassungsgerichts beider Senate und neben Bundeskanzlerin Angela Merkel namentlich benannte Bundesminister anwesend waren.

Im September hatte der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting einen Befangenheitsantrag gegen Harbarth und Baer eingereicht. Er kritisierte das Kanzlerdinner als versuchte Einflussnahme auf laufende Verfahren zur „Bundesnotbremse“ und eine Verzögerung der Entscheidungen über die dem Gericht vorliegenden Anträge.

Während des Treffens hielt Bundesjustizministerin Christine Lambrecht eine Rede zur „Entscheidung über Unsicherheiten“. Im Entwurf der Rede hieß es: „Die Politik kann angesichts akuter Bedrohungen nicht abwarten, bis ein ‚Erkenntnisvakuum‘ mit Wissen gefüllt ist.“ Eine Verantwortung trage die Politik auch für die Folgen passiven Abwartens. Bei allen getroffenen Maßnahmen sei den Politikern deutlich gewesen, dass das Wissen um das Virus, seine Verbreitung und die Bekämpfung „unsicher“ sei und „dynamisch wächst“. Auch Verfassungsrichterin Susanne Baer ergriff bei dem Treffen im Kanzleramt das Wort. Einzelheiten sind jedoch unbekannt.

Inzwischen sind weitere Details zu dem Treffen an die Öffentlichkeit geraten. So berichtete die „Welt“ darüber, dass sich Harbarth selbst dafür eingesetzt habe, die Tagesordnung kurzfristig zu ändern. Gemeinsam mit seiner Kollegin und Stellvertreterin Doris König habe er darum gebeten, die Rechtsetzung in Europa und das Zusammenspiel von deutschem und EU-Recht zu thematisieren.

Harbarth wehrt sich derweil gegen den Vorwurf der Befangenheit. Auch die Kritik am Kanzlerdinner weist er zurück. Die Themen des Abends hätten sich „ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren“ erörtern lassen. „Ich hielt und halte diese Themen für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen für geeignet, weil sie abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts niedergeschlagen haben“, wird Harbarth zitiert.

Ein interner Vermerk des Kanzleramts weist darauf hin, dass die besprochenen Themen zwar grundsätzlich für die Diskussion geeignet seien. „Allerdings berühren beide Themen auch aktuelle Streitpunkt (Vertragsverletzungsverfahren nach PSPP-Urteil; laufende Eilanträge gegen die Corona-Notbremse)“, heißt es dort.

Gerhard Strate, einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger und Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, bezeichnete diese Aussage als „bemerkenswert“. „Obwohl das Bundeskanzleramt ein mulmiges Gefühl hat, dass die Sache zu weit geht, weil laufende Verfahren betroffen sind, werden die Reden trotzdem gehalten.“

Der Kölner Rechtsanwalt Claus Schmitz, der gegen Harbarths Ernennung 2020 Verfassungsbeschwerde eingereicht hatte und Zweifel an der Unabhängigkeit des Richters hegt, äußerte bezüglich des Kanzlerdinners: „Zur Vorbereitung auf den Abend nordete Harbarth Merkel und ihre Minister ein, wie sie an diesem Abend argumentieren sollten.“

Verfassungsgericht bald reformiert?

Indes werden Stimmen nach einer Reform des deutschen Bundesverfassungsgerichts laut. „Dieses Bundesverfassungsgericht ist in seinem Selbstverständnis, in seinen derzeitigen Handlungsroutinen und in seiner technischen und personellen Ausstattung nicht zukunftsfähig“, kommentiert der „Cicero“ die aktuelle Situation. Dabei wird unter anderem auf Harbarths rasanten Aufstieg vom stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts verwiesen.

Das Bundesverfassungsgericht ist die letzte Instanz, von der sich Betroffene, die sich in ihren Grundrechten verletzt sehen, Erfolg erhoffen. Der Aufwand ist jedoch groß, das Risiko erheblich und die Chancen trotzdem gering, so „Cicero“. Bevor der Antragsteller den Rechtsweg über sämtliche Instanzen ausgeschöpft hat, um überhaupt an ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu denken, sei er nicht selten pleite, depressiv oder inzwischen verstorben. Ablehnungen von Verfassungsbeschwerden seien die Regel, die nach Paragraf 93d Bundesverfassungsgerichtsgesetz zum einen keiner Begründung bedürfen und obendrein unanfechtbar sind.

Es wäre daher gut angelegtes Geld, das Bundesverfassungsgericht um weitere Richter aufzustocken, die das hohe Beschwerdeabkommen abarbeiten. Zudem brauche es dringend Transparenz und öffentliche Anhörungen der Kandidaten, so wie es beispielsweise auch bei ehrenamtlichen Bürgermeistern an der Tagesordnung sei.



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