„Wenn Amerika hustet, hat Europa eine Lungenentzündung“: Was passiert an den Börsen?

Die US-amerikanischen Kapitalmärkte sind die mit Abstand größten der Welt. Wie sie sich entwickeln, hat großen Einfluss auf die Weltwirtschaft. Deshalb soll im Folgenden ein Blick auf sie geworfen werden – insbesondere die Aktienmärkte. Eine Analyse.
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Zu verkaufen: Die Schulden der USA sind enorm hoch.Foto: iStock
Von 18. September 2023

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Die zwei von der Marktkapitalisierung her teuersten US-Unternehmen – Apple und Microsoft – kosteten am 17. September jeweils 2.730 und 2.470 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Alle 40 deutschen DAX-Unternehmen waren zum selben Zeitpunkt zusammen 1.475 Milliarden Euro wert, also deutlich weniger als Apple oder Microsoft.

Der Börsenwert der deutschen Unternehmen ist gewissermaßen „Peanuts“ verglichen mit den US-Unternehmen: Alle 500 im S&P 500 gelisteten US-Börsenunternehmen zusammen haben derzeit eine Börsenbewertung von 37.200 Milliarden US-Dollar. Der deutsche Bundeshaushalt beträgt 2023 etwa 476 Milliarden Euro, das deutsche BIP betrug 2022 3.877 Milliarden Euro. Die S&P 500 Unternehmen sind also so viel wert wie etwa zehn Jahre deutsche Wirtschaftsleistung.

Diese Zahlen zeigen beeindruckend, welch große Kapital- und Finanzmacht hinter den US-Konzernen und -Kapitalmärkten steht. Der frühere Spruch: „Wenn Amerika hustet, hat Europa eine Lungenentzündung“, dürfte daher heute noch immer zutreffen.

Wenn es den US-Kapitalmärkten schlecht geht und die Wall Street aus dem Rest der Welt Geld abzieht, kann es schnell zu gravierenden ökonomischen Problemen außerhalb der USA kommen. Das betrifft in der Regel besonders hart die Entwicklungs- und Schwellenländer mit Ausnahme Chinas – aber auch Europa. Kommt es vielleicht zu einem Abschwung an den US-Aktienmärkten?

Sind die US-Aktien derzeit fair bewertet?

Das Forward-Kurs-Gewinnverhältnis (KGV) beziehungsweise das Price-Earnings-Ratio (PE) der S&P 500 Aktien liegt derzeit bei 18,6. Das heißt, momentan sind die Aktien mit dem 18,6-fachen der geschätzten Gewinne der nächsten 52 Wochen bewertet. Zu Jahresbeginn betrug der Wert 16,6. Im Durchschnitt der letzten 20 Jahre lag das KGV laut Wall Street Journal bei 15,8. Demnach sind die Aktien heute um etwa 18 Prozent teurer als im Durchschnitt der letzten 20 Jahre – also leicht überbewertet.

Legt man für das KGV die inflationsbereinigten Gewinne der letzten zehn Jahre zugrunde – das sogenannte Shiller-KGV-, dann ergibt sich allerdings eine deutlich stärkere Überbewertung. Das Shiller-KGV beträgt zurzeit etwa 30,6 und liegt damit um etwa 80 Prozent über dem 150-jährigen Durchschnittswert von 17 und 90 Prozent über dem langjährigen Medianwert von 16.

Das klingt nach einer ziemlich starken Überbewertung. Vor allem der Blick auf den langfristigen Chart flößt eine gewisse Beunruhigung ein. Falls das Shiller-KGV recht hat und eine starke Börsenbereinigung in den USA kommen sollte, würde das für die Weltwirtschaft nichts Gutes bedeuten.

Da die Börsen häufig zu Über- und Untertreibungen neigen, könnte es sein, dass ein einmal einsetzender Aktienkursrückgang nicht beim langjährigen Durchschnitt stoppt, sondern darüber hinausschießt (undershooting). Dann stünden wir vor einem regelrechten Crash und schnell bei einer Kurshalbierung. Dass so etwas möglich ist, zeigte der März 2020, als die Aktienkurse innerhalb weniger Tage um mehr als ein Drittel abstürzten.

Was stimmt? Welcher Indikator ist der bessere Hinweis auf die Richtigkeit der Bewertung? Das klassische KGV oder das Shiller-KGV? Wie werden sich die Unternehmensgewinne und die Wirtschaftslage insgesamt entwickeln?

Wo steht die US-Ökonomie, wie steht es um die Gewinnentwicklung?

Betrachtet man die Entwicklung der Unternehmensgewinne nach Steuern im Verhältnis zum BIP zeigt sich, dass seit etwa 2010 die Gewinnquote in den USA so hoch ist wie noch nie in der Nachkriegszeit. In den letzten 12 Jahren lag sie etwas über 10 Prozent vom Sozialprodukt, während sie in den Jahrzehnten davor um einen Wert von 6 Prozent lag. So stellt sich die Frage, ob 10 Prozent Gewinnquote auf Dauer aufrechtzuerhalten sind. Falls sich die Gewinnquote zurück zum langjährigen Durchschnitt entwickeln sollte, sieht es schlecht für die Aktienbörsen aus.

Laut „Wall Street Journal“ vom 6. September 2023 haben die US-Unternehmen durch die Inflationswelle ab März 2021 Extragewinne verbucht: Zum einen über Sondergewinne für Lagerbestände, die billig eingekauft und teuer weiterverkauft wurden, zum anderen über niedrige Abschreibungssätze. Denn die Produktionsanlagen werden in den Bilanzen zu den historischen Anschaffungskosten bewertet und trotz Preissteigerungen weiterhin niedrig abgeschrieben, was die bilanziell ausgewiesenen Gewinne künstlich erhöhte.

Ohne inflationsbedingte Lagerbewertungsgewinne und bei preisbereinigten Abschreibungen wären die US-Unternehmensgewinne demnach im zweiten Quartal 2023 um 11,5 Prozent höher gewesen als Ende 2019. Tatsächlich waren sie jedoch um 33 Prozent höher. 

Die vorübergehenden Sondergewinne aus der Inflationswelle steigerten die Unternehmensgewinne laut „Wall Street Journal“ also um über 20 Prozentpunkte.

Anders ausgedrückt: Wenn nun die Inflationswelle abebbt – wonach es aussieht –, die Bewertungsgewinne aufhören und die Abschreibungen bei Anlagenersatz steigen, müssten die ausgewiesenen Gewinne um 20 Prozentpunkte sinken. Das verhieße nichts Gutes.

Steigende Zinsen belasten die US-Ökonomie

Dazu kommen die stark gestiegenen Zinsen der letzten zwei Jahre. Laut „Wall Street Journal“ betrugen die Notenbankzinsen von 2009 bis 2021 im Durchschnitt 0,5 Prozent. Heute liegen sie bei 5,25 Prozent. Die Märkte erwarten, dass sie in den nächsten zehn Jahren 3,5 Prozent betragen werden – also um drei Prozentpunkte höher als während der letzten 13 Jahre. Die Zehnjahreszinsen der US-Staatsanleihen stehen heute bei 4,3 Prozent und damit etwa zwei Prozentpunkte höher als in den 13 Jahren von 2009 bis 2021 und dürften wohl auch in den kommenden zehn Jahren nicht signifikant sinken.

Das heißt, sowohl die kurz- als auch langfristigen US-Zinsen sind in den letzten zwei Jahren stark gestiegen und dürften in den kommenden zehn Jahren um weitere zwei bis drei Prozentpunkte höher bleiben als in den vergangenen 13 Jahren.

Das ist deshalb besonders brisant, weil die Schulden in den USA heute so hoch sind wie fast noch nie in der Geschichte: Von 1952 bis Anfang der 1980er-Jahre betrugen die gesamten US-Schulden (Regierung, Unternehmen und private Haushalte) etwa das 1,3-Fache des US-BIP. Anfang 2000 lagen sie bei etwa dem 1,8-Fachen. Seit 2009 bis heute liegen sie ungefähr bei dem 2,6-Fachen. Konkret:

Im 2. Quartal 2023 betrugen sie das 2,654-Fache. Das heißt, die Schulden belaufen sich derzeit auf 265 Prozent der Wirtschaftskraft.

Angesichts dieser in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen und mittlerweile sehr hohen Schulden hat ein Zinsanstieg viel gravierendere Auswirkungen auf das Wirtschaftsgeschehen als in der Vergangenheit. Ein Vergleich mit früheren Zinsanhebungszyklen ist daher nur bedingt aussagekräftig. 

Ein Zinsanstieg um drei Prozentpunkte bedeutet bei einem Schuldenstand von 265 Prozent der Wirtschaftskraft, dass beinahe acht Prozentpunkte vom BIP zusätzlich an Zinsen gezahlt werden müssen.

Bei einem BIP von aktuell etwa 26,8 Billionen US-Dollar bedeutet das eine zusätzliche Zinslast von derzeit 2.100 Milliarden US-Dollar auf dann etwa 3.200 Milliarden US-Dollar pro Jahr bei einem angenommenen Nominalzins von 4,5 Prozent. Die höheren Zinsen fallen nicht sofort an, weil ein großer Teil der Schulden langfristig finanziert ist. Zwei Drittel der Staatsschulden werden beispielsweise innerhalb der nächsten fünf Jahre fällig.

Geht man davon aus, dass die kurz- und langfristigen Zinsen in den nächsten zehn Jahren im Durchschnitt bei etwa 4,5 Prozent liegen, bedeutet das bei einem Schuldenstand von 265 Prozent vom BIP, dass etwa 12 Prozent vom BIP oder rund 3.200 Milliarden US-Dollar für Zinsen gezahlt werden müssen.

Das wäre absolut und relativ so viel wie noch nie in der Nachkriegszeit.

Wem fließt das Geld zu?

Fassen wir zusammen: Die Zinslast in den USA könnte in den kommenden zehn Jahren auf über 10 Prozent vom BIP steigen und gut 3.000 Milliarden US-Dollar pro Jahr erreichen. Die Gewinnquote der Unternehmen liegt derzeit bei etwa 10 Prozent vom BIP, die Unternehmensgewinne nach Steuern belaufen sich auf 2.750 Milliarden US-Dollar pro Jahr.

Das heißt, über 20 Prozent der gesamten Wirtschaftskraft oder fast 6.000 Milliarden US-Dollar pro Jahr könnten in den kommenden zehn Jahren für Gewinne und Zinsen abgeschöpft werden. Das wäre ebenfalls so viel wie noch nie in der Nachkriegszeit. 

Wem fließen diese etwa 6.000 Milliarden US-Dollar an Zinsen und Gewinnen zu? Den wohlhabenden Familien: In den USA besitzen die oberen 1 Prozent der Menschen etwa 36 Prozent aller Vermögen, die oberen 10 Prozent ungefähr 70 Prozent aller Vermögenswerte. Das heißt, jeder dritte Gewinn- und Zinsdollar fließt an die reichsten 1 Prozent der US-Familien und zwei von drei Zins- und Gewinndollar gehen an die oberen 10 Prozent.

Wer zahlt?

Letztlich wird die stark ansteigende Zinslast von allen privaten Haushalten der USA bezahlt. Sie zahlen unter anderem nicht nur die Zinsen auf ihre Immobilien-, Konsumenten-, Ausbildungs- und Autoschulden, sondern auch die Zinsen für die Staatsschulden werden über Steuerzahlungen und die Unternehmensschulden über die Produktpreise von allen Bürgerinnen und Bürgern bedient.

Die Gewinne werden über die Produktpreise von allen Konsumenten bezahlt. In letzter Konsequenz bedeuten höhere Gewinne und Zinsen, dass die Umverteilungstransfers von allen zu den Wenigen stärker werden und die Masseneinkommen geschwächt und die Spitzeneinkommen sowie die Vermögen erhöht werden.

Das zeigen auch aktuelle Zahlen. Die hohen und steigenden Transfers von allen zu wenigen Menschen hinterlassen ihre Spuren bei den Einkommen der weniger bemittelten Haushalte. Am 12. September erschienen die neuesten Zahlen des Census Bureau. Demnach sind von 2019 bis Ende 2022 die realen Medianeinkommen der US-Haushalte um 4,7 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum ist das reale BIP pro Kopf um 4,1 Prozent gestiegen. Dieses Wirtschaftswachstum ist also nicht zu den mittleren Einkommen geflossen, auch nicht zu den unteren.

Konjunktur, Unternehmensgewinne und Aktienkurse: Was kommt?

Hohe Aktienkurse brauchen hohe Gewinne. Gute, steigende oder zumindest stabile Gewinne setzen gute Unternehmensumsätze und gute Konjunktur voraus. Die sind nur möglich bei steigenden Masseneinkommen.

Die Masseneinkommen in den USA sind aber in den letzten drei Jahren real gesunken. Das wurde kompensiert durch steigende Schulden bei extrem niedrigen Zinsen. Die Zeit der niedrigen Zinsen ist jedoch vorbei.

Ich fürchte, das im historischen Vergleicht stark überhöhte Shiller-KGV bildet die reale Situation besser ab als das Forward-KGV. Ich schätze, dass in den nächsten Jahren turbulente Kapitalmarktzeiten auf uns zukommen. Das dürfte auch deutliche negative Auswirkungen auf die reale Wirtschaftslage in Europa und vielen anderen Ländern haben.

Zum Autor:

Prof. Dr. Christian Kreiß (geb. 1962), Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, sieben Jahre davon als Investmentbanker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Er ist Autor von sieben Büchern, sein aktuelles Buch heißt „Das Ende des Wirtschaftswachstums“. www.menschengerechtewirtschaft.de



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