UNSCHULD – oder Unschädlichkeit

Von 29. Oktober 2012

 

Ist der nach dem Ebenbild Gottes geschaffene Mensch ein schuldbeladenes und sündiges Wesen? Die unmissverständliche Antwort muss lauten: NEIN! Der facettenreiche Begriff „Schuld“ ist für viele Menschen eine gewaltige Seelenlast. Das lateinische Wort „innocentia“ wird gewöhnlich mit „Unschuld“ (= keine Schuld!) übersetzt, bedeutet aber ursprünglich „Unschädlichkeit“; das lat. Verb „nocere“ bedeutet Schaden zufügen. In der Medizin kennen wird den Begriff „Noxe“, eine pathogene, krank-heitserregende Substanz.

Die Kirchen impfen ihren Gläubigen das eigentlich nicht existente Schuld-bewusstsein förmlich ein. Jeder Messritus der katholischen Kirche beginnt mit dem Schuldbekenntnis: „Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!“ Der Benediktinermönch und Mystiker Dom Bede Griffiths (1906 – 1993) hatte das für ihn abstruse Schuld-Ritual strikt abgelehnt, weil er der Überzeugung war, dass durch das Aussprechen dieser Worte der Mensch in eine Haltung gezwungen wird, die ihn von dem niemals urteilenden Kosmos (Gott, Urgrund, Brahman u.ä.) trennen würde.

Unsere europäischen Sprachen liefern uns diverse Worte für „Schuld“: im Englischen: „guilt“, „debt“, „fault“; im Französischen: „dette“, „culpabilité“; im Italienischen: „debito“, „colpa“.

Die Erb-Sünde (engl.: original sin), die Absonderung vom göttlichen Urgrund oder auch die Verengung dorthin (Sund = Meerenge) hat nichts mit einer vorsätzlichen Abkehr des nach Heil, Heilung, Erlösung und Ganzheit strebenden Gottesgeschöpfes zu tun. Das englische Wort „original“ gibt uns den Hinweis auf den Ursprung, den Urgrund.

Der Mensch selbst ist nicht sündhaft, sondern der Zugang zu seiner innersten Schatzkammer ist „sündhaft“, im Sinne von verengt. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Durch spirituelle Unterweisung wird dem gründlichen Gottsucher das Innerste wieder erschlossen. Das Tor zum in uns anwesenden Königreich Gottes steht ständig offen.

Der große deutsche Mystiker Meister Eckhart hat bereits vor 800 Jahren das wahre Zentrum unseres Seins, das von jeglicher Sünde (Durchgangssperre zu mir selbst) befreit ist, erkannt:

„Gott ist uns nahe, aber wir sind Ihm fern.
Gott ist drinnen – aber wir sind draußen.
Gott ist unsere innere Heimat –
aber wir sind uns selber Fremde.
Du brauchst Gott nicht zu suchen.
Er ist nicht ferner als vor der Tür deines Herzens:
Da steht Er und wartet und harrt,
dass Er dich bereit finde,
dass du Ihm auftust und Ihn einlässest.
Du brauchst Ihn nicht von fernher zu rufen,
sondern dich nur nach innen zu wenden:
Gott wartet ungeduldiger als du,
dass du dich Ihm öffnest;
Ihn verlangt tausendmal dringender nach dir,
als dich nach Ihm.
Dein Auftun und sein Eingehen
geschehen in einem Augenblick.
Willst du Gott ohne Vermittlung,
unmittelbar erkennen,
so musst du geradezu Er werden und Er du –
so ganz eins, dass dies Er und Du eins werden und sind.“

In der Nacht vom 23. zum 24. November 1654 hatte Blaise Pascal (1623 – 1662) im Alter von 31 Jahren sein tiefstes Erleuchtungserlebnis, das er auf einen Pergamentstreifen schrieb, den man nach seinem Tode in seine Kleidung eingenäht fand:

[–]

Von etwa halb elf Uhr abends bis etwa eine halbe Stunde nach Mitternacht Feuer. Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs – nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit. Inniges Erleben. Freude, Friede. Gott Jesu Christi… Vergessen der Welt und aller Dinge, außer Gott. Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude. Völlige Unterwerfung unter Jesus Christus…“

Der Mathematiker und Wissenschaftler Pascal verbrachte von da an den größten Teil seiner Zeit intensivst meditierend im Kloster Port-Royal. In seinem berühmten Nachlasswerk „Pensées“ („Gedanken über die Religion“) setzte Pascal dem Verstand die „Logik des Herzens“ gegenüber, wobei er unter „coeur“ eine unmittelbare, ohne Analyse und Definition gewonnene Sicherheit allein durch die göttliche Gnade verstand und sich unter Verwerfung aller kleinlichen theologischen Wortklaubereien zu einer umweglosen, persönlichen Erfahrung Gottes bekannte. Er starb am 19. August 1662 39-jährig in Paris und zählt bis heute zu den faszinierendsten Gestalten der europäischen Geistesgeschichte.

„Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus
zeigt dem Menschen die Größe seines Elends
an der Größe des Heilmittels, das notwendig gewesen ist.“

{R:2}Im 22. Kapitel des „Tao Te King“ von Lao Tse lesen wir:
„Sich unterwerfen und sich somit ganz bewahren.
Sich beugen und somit gerade sein.
Leer und somit voll sein.
Abgetragen und somit erneuert sein.
Wenig haben und somit empfangen.
Viel haben und somit in Verwirrung geraten.
Weil das alles so ist, umfasst der Weise die Einheit.
Er ist ein Vorbild für die Welt.
Weil er sich nicht hervortut, wird er anerkannt.
Weil er sich selbst nicht Recht gibt, wird er geehrt.
Weil er nicht prahlt, wird er lange hochgeachtet.
Weil er nicht streitet, streitet auch niemand in der Welt mit ihm.
Wenn unsere Vorfahren sagten:
‚Sich unterwerfen und sich somit ganz bewahren‘,
So sind das keine leeren Worte gewesen.
Auf diese Weise kann man sich bis zum Ende ganz bewahren.“

Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag

Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers

Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers



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