Geschlecht und Geschlechtsidentität – eine aktuelle Bestandsaufnahme

Fast unbemerkt wurde das sogenannte „Selbstbestimmungsgesetz“ vom Bundeskabinett verabschiedet. Ein neues Buch kann in der Debatte helfen.
Titelbild
Madrid (Spanien) im Juli 2023 bei einer Parade.Foto: iStock
Von 2. Oktober 2023

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Wegen Krieg, Migrationskrise, Inflation und Energiewende von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, verabschiedete das Bundeskabinett am 23. August 2023 den Entwurf für das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz. Darin sind viele Neuregelungen enthalten. Der Kern ist, dass künftig nicht mehr das biologische, sondern das empfundene Geschlecht als das ausschlaggebende Geschlecht einer Person gilt. 

Während in England und den USA solche Regelungen heiß diskutiert werden, findet in Deutschland kaum eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer solchen „Selbstidentifikation“ als Mann oder Frau statt. 

Für Menschen, die sich auf den Stand der internationalen Debatte bringen wollen, wurde das Buch „Sex and Gender – A Contemporary Reader“ am 25. August 2023 von Alice Sullivan und Selina Todd in Großbritannien herausgegeben. Alice Sullivan ist Professorin für Soziologie am UCL (University College London); Selina Todd ist Professorin für Moderne Geschichte in Oxford.

Es enthält eine Sammlung von Aufsätzen rund um die Genderfrage. Gleich vorneweg – die Autorinnen und Herausgeberinnen beschreiben sich selbst als „genderkritisch“, was in diesem Zusammenhang bedeutet, dass sie das biologische Geschlecht einer Person sowohl für eindeutig als auch als wichtig erachten. Wer sich über die Genderdebatte aus Sicht der Transbewegung informieren möchte, sollte lieber Veröffentlichungen der LGBTQ+-Community wählen – oder idealerweise beide, um sich ein eigenes Bild machen zu können. 

Biologisches Geschlecht ist über DNA festgelegt

Das Buch beinhaltet eigenständige Aufsätze zu den Themen Biologie (Gibt es zwei Geschlechter oder ein Spektrum?), Gehirnforschung (Unterscheiden sich männliche von weiblichen Gehirnen?), Philosophie (Ist Weiblichkeit nur ein soziales Konstrukt, das jeder unabhängig von seinem biologischen Geschlecht empfinden kann?), Geschichte (Entstehung der Genderdebatte), Feminismus, statistische Erhebungen, Recht und Gesetz, Kriminologie, Literatur, Genderdebatten in Schulen, Pubertätsblocker, Psychologie und Sport.

Jeder Abschnitt ist von einem Experten auf diesem Gebiet erarbeitet worden und eignet sich, einen zügigen Überblick über den jeweiligen Stand der Debatte – aus genderkritischer Sicht – zu erhalten.

Im ersten Kapitel („Zwei Geschlechter“) werden die Unterschiede zwischen weiblichen – solchen, die dazu ausgelegt sind, Eier zu produzieren – und männlichen – solchen, die dazu ausgelegt sind, Spermien zu produzieren – Lebewesen erläutert. Das biologische Geschlecht wird als binär dargestellt.

Dem in den letzten Jahren an Popularität gewinnenden Schema, nachdem aus biologischer Sicht ein Spektrum zwischen weiblich und männlich existiert – etwa, weil es auch große Frauen oder Männer mit niedrigem Testosteronspiegel gibt – wird eine klare Absage erteilt. Das biologische Geschlecht ist über die Chromosomenpaare festgelegt und damit unabänderlich. 

Pubertät löst viele Probleme

Im für mich interessantesten Kapitel stellt Lisa Littman die Theorien zu Gender Dysphorie (GD) dar. Geschlechtsdysphorie ist die Diagnose für Menschen, die ihr biologisches Geschlecht ablehnen und sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Littmann legt dar, wie sich der Verlauf von GD seit 2010 dramatisch verändert hat. Vor 2010 bekamen diagnostizierte Kinder keine Pubertätsblocker, die Pubertät setzte bei allen ein – und löste überraschenderweise in den allermeisten Fällen das Problem.

Weit mehr als 80 Prozent dieser Kinder wuchsen ohne weitergehende Therapie aus der Geschlechtsdysphorie heraus. Ein Großteil entwickelte sich zu homosexuellen Jugendlichen, die sich dann mit ihrem biologischen Geschlecht identifizierten.

Nach 2010 wurden diese Kinder überwiegend mit Pubertätsblockern behandelt und die eigene Geschlechts- und Hormonentwicklung damit unterbrochen sowie die Libido unterdrückt. Seitdem ist das Phänomen des „Herauswachsens“ weitgehend verschwunden. Der weitaus größte Teil (circa 98 Prozent) der Kinder erhält dann in der Jugend in einem weiterführenden Schritt das Gegenhormon (Mädchen Testosteron und Jungen Östrogen).

Littman stellt die Frage in den Raum, inwieweit Pubertätsblocker die Überwindung von GD unterbindet und inwieweit vor allem homosexuelle Jugendliche davon betroffen sind.

Hormone und Skalpell vs. psychisches Umfeld

Wie immer auf dem Feld der Genderforschung gibt es zwei sehr unterschiedliche Konzepte, um das Entstehen von Geschlechtsdysphorie zu erklären. Während das Entwicklungsmodell psychologische, biologische und soziale Faktoren untersucht (also ob der Jugendliche zum Beispiel Schwierigkeiten hat, sich selbst als homosexuell zu akzeptieren, oder ob ein traumatisches Erlebnis wie eine Vergewaltigung vorlag), sieht das Gender-Affirmative Model (etwa: Das Geschlechtsidentitätsbestätigungsmodell) die Geschlechtsidentität als fix und vorgegeben an.

Jeder Mensch hat eine feste Geschlechtsidentität, die vom biologischen Geschlecht abweichen kann; der einzige Weg ist dann der Weg zur Transperson. Jedes Kind, das Zweifel an seinem biologischen Geschlecht als dem richtigen äußert, muss darin bestätigt werden. Nach diesem Modell kann eine psychische Störung wie zum Beispiel Magersucht oder Depression nicht erklären, dass sich ein Mensch als trans fühlt, sondern andersherum: Weil der Mensch trans ist, aber noch keine Geschlechtsumwandlung hatte, bekommt er psychische Probleme. Der einzige Weg aus psychischen Störungen ist dann der zügige Einsatz von Hormonen und einem Skalpell.

Die beiden Ansätze führen damit zu sehr unterschiedlichen Therapieansätzen – Therapie und Erforschen des psychischen Umfelds beim Entwicklungsmodell und Messer beim Gender-Affirmative-Model.

Während in früheren Jahren vor allem Jungen und Männer unter Geschlechtsdysphorie litten, hat in den letzten Jahren der Anteil von Mädchen dramatisch zugenommen. Sie machen mittlerweile einen Großteil der Menschen mit GD aus. Die Mehrzahl dieser Mädchen hatte schwere psychische und Entwicklungsprobleme, bevor die Geschlechtsdysphorie auftrat.

Littman schildert mehrere Studien: Elternumfragen von Transkindern und Umfragen unter sogenannten Detransitioners (deutsch: Detransitionierer) – also Menschen, die in späteren Jahren zu ihrem biologischen Geschlecht zurückgekehrt sind.

Die Ergebnisse sind extrem interessant und legen nahe, dass es vor allem innerhalb einiger Mädchengruppen und in entsprechenden Online-Foren einen starken Druck gibt, eine Geschlechtsumwandlung durchzuführen, wenn auch nur das leiseste Unwohlsein mit dem eigenen Geschlecht vorliegt.

Pubertätsblocker

Ein für die deutsche Gender-Landschaft sehr wichtiges Kapitel befasst sich mit Pubertätsblockern. Diese halten – wie der Name schon sagt – die Pubertät auf. Wie im vorhergehenden Kapitel schon beschrieben, unterdrücken sie das Einsetzen der Periode, die Spermienproduktion, das Wachsen der Geschlechtsorgane und so weiter. Auch das Erwachen der Sexualität und der Orgasmusfähigkeit werden unterdrückt.

Solange sie über einen kurzen Zeitraum wie etwa einen Monat gegeben werden, haben Pubertätsblocker keine irreversiblen Auswirkungen auf die Kinder. Tatsächlich bekommen Kinder im Vereinigten Königreich diese Präparate jedoch meist für vier bis fünf Jahre.

Es liegen keine Studien dazu vor, was bei einer so langen Gabe passiert. In den wenigen evidenzbasierten Studien ließ sich nicht nachweisen, dass sich Kinder mit Pubertätsblockern wohler fühlen als die Kontrollgruppe. Einige Länder haben den Einsatz von Pubertätsblockern mittlerweile eingeschränkt, unter anderem England, da die Nachteile die Vorteile bei Weitem zu überwiegen scheinen.

Was ist Frausein?

In einem weiteren Kapitel befasst sich Kathleen Stock – eine der bekanntesten genderkritischen Personen in England – mit der Frage von Frausein und weiblich sein vor einem philosophischen Hintergrund. Interessant ist dieses Thema, da die Frage „Was ist eine Frau?“ nicht nur einen biologischen Kontext hat.

Einige Philosophen begreifen Frausein als soziales Konstrukt, das unabhängig vom biologischen Körper besteht. Dies würde dann wiederum den Schluss zulassen, dass ein Mann mit XY-Chromosomenpaar (und entsprechendem Hodenpaar) auch eine Frau sein kann, wenn er sich dem sozialen Konstrukt zugehörig fühlt.

Kathleen Stock untersucht die verschiedensten Annahmen über Weiblichkeit als soziales Konstrukt und kommt zum Schluss: „Womanhood is a natural fact, if any is“ (Die Weiblichkeit ist zweifellos eine natürliche Gegebenheit).

Sexualverbrechen von Männern, die sich als Frauen betrachten

Das Thema Statistik ist interessanter, als es sich in der Überschrift anhört. Statistiken zu Gesundheit, Kriminalität, Einkommen, Vermögen et cetera wurden in der Vergangenheit nach dem Geschlecht klassifiziert. Zwischenzeitlich hatte das Office for National Statistics (ONS) Daten überwiegend nur noch nach der Geschlechtsidentität erfasst.

Die Anzahl der Transmenschen ist bislang nicht sehr hoch, sodass sich das zum Beispiel auf Statistiken über die Lebenserwartung nicht signifikant auswirkt.

In Grenzbereichen kommt es aber durchaus zu Verschiebungen. Sexualverbrechen wurden in der Vergangenheit zu 98 Prozent von Männern ausgeführt, Vergewaltigungen – zu der es in Großbritannien einer Penetration mit einem Penis bedarf – zu 100 Prozent. In den Jahren von 2012 bis 2018 gab es 463 wegen Vergewaltigung angeklagte Frauen – es handelte sich dabei also um Männer, die bei der Frage nach der Geschlechtszugehörigkeit weiblich angaben.

Fazit

Insgesamt eignen sich die knapp dreihundert Seiten eher nicht als leichte Urlaubslektüre. Für Menschen, die sich zu einzelnen Themengebieten rund um die Genderdebatte informieren wollen, stellt es aber eine ausgezeichnete Quelle dar, auch weil man im Anhang viele Links zu Statistiken und der Studienlage erhält. 

„Sex and Gender – A Contemporary Reader“, herausgegeben von Alice Sullivan und Selina Todd, ISBN 9781032261195, 294 Seiten, 25,82 Euro

 

 



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