Bürgerliche Mitte alleingelassen: „Langweiliger, vorsichtiger Sozialstaat“ sucht nach Erben

Die Mehrheit der Bürger in Deutschland sei immer in der Mitte gewesen, erklärt der frühere FAZ-Feuilletonist Dirk Schümer. Opportunistische Parteien hätten sich jedoch geweigert, das Erbe des pragmatischen und vorsichtigen Sozialstaats zu bewahren.
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Ist ihr Thinktank „R21“ die große Hoffnung für die verwaiste bürgerliche Mitte in Deutschland? Ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder.Foto: Kay Nietfeld/DPA/AFP via Getty Images
Von 25. Dezember 2023

In einem Essay für die „Welt“ hat der frühere Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), Dirk Schümer, die sogenannte bürgerliche Mitte in Schutz genommen. Es sei nicht diese selbst, die sich vom jeweils dominanten Extrem treiben lasse, sondern lediglich deren opportunistische frühere Parteien.

Die in der Psychologie angestrebte Ausrichtung nach dem „rechten Maß“, so heißt es in dem Beitrag, spiele in der Tagespolitik keine Rolle. Stattdessen verlören moderate Kräfte an Boden gegenüber den Rändern – und die Wähler stützten diesen Trend.

„Paternoster-Gesellschaft“ hat Sozialstaat der 1980er abgelöst

Den Alltag der bürgerlichen Mitte in Deutschland bestimme die grüne Kleinpartei, während deren Wähler sich in Richtung AfD bewegten. Die eigentliche „Mäßigungspartei“ FDP gehe zunehmend unter, während sich ausgerechnet Ex-Linke Sahra Wagenknecht als Stimme der Normalbürger inszeniere.

Schümer sieht den Wandel von der stabilen Wohlstandsdemokratie der 1980er-Jahre in eine „Paternoster-Gesellschaft“ als wesentlichen Faktor hinter der Entwicklung. Dabei gebe es neben Gewinnern, die sich nach oben bewegten, auch stetig Verlierer.

Die bürgerliche Mitte blicke heute verklärend auf die Zeiten der Kohl-Ära zurück, während sich bereits in der alten Bundesrepublik eine kulturelle Hegemonie der Linken abgezeichnet habe. Medien und Universitäten der damaligen Zeit hätten damals schon „unverhohlenen Hass auf Erfolg und Stabilität der politischen Mitte“ gegeben. Als Beleg dafür nennt der Autor die Schriften der „Frankfurter Schule“.

Identitäre und Woke zerstörten die linke Mitte – Merkel die rechte

Ohne weiter in die Tiefe zu gehen und das Phänomen zu begründen, stellt er anschließend fest, dass der „Triumph der liberalen Demokratie“ 1989 den „Schwung nach links nicht ausgebremst“ habe. Linksidentitäre Vorstellungen, Antikolonialismus oder eine Politik der offenen Grenzen seien „wie von Geisterhand“ bis in die CDU hinein der gesellschaftliche Mainstream geworden. Die einstige Mitte habe man hingegen als „rechtsradikal“ verachtet.

Identitätspolitik, wie sie der französische Linksaußen Jean-Luc Mélenchon betreibe, und die woke Lifestylelinke hätten die alte Sozialdemokratie eines Helmut Schmidt abgelöst. Die SPD scheitere mit „ökodirigistischer und migrationsfreundlicher Anti-Arbeiter-Politik“. Dabei zeige doch die dänische Sozialdemokratie, dass Anti-Migrationspolitik unter dem Banner des Schutzes des Sozialstaats erfolgsträchtig wäre.

Gleichzeitig habe die CDU versagt, die Deutschland einst „mit einer Mischung aus Pragmatismus, wohlhäbigem Aufsteigertum und spießiger Provinzialität zusammengehalten“ habe. Angela Merkel habe diese Rolle „aus Machtkalkül“ aufgegeben.

„Mehrheit ist zu jeder Zeit in der Mitte geblieben“

Die Anpassung an utopische Politikmodelle habe den „gesellschaftlichen Konsens im langweiligen Sozialstaat“ erschüttert. Eine ideologische Politik schaffe heute selbst die Verlierer in der „Paternoster-Gesellschaft“. Sie erkläre „das Eigenheim zur unbezahlbaren Dämmungsruine“ um, während der Staat „Grundbedürfnisse wie Wohnen, Heizen, Mobilität, Sicherheit, Grenzschutz nicht mehr garantieren mag“.

Die vom Soziologen Andreas Reckwitz gelieferte Erklärung, dass es eine „totale Desillusionierung“ in der Spätmoderne sei, welche die Menschen an die politischen Ränder treibe, mag Schümer nicht gelten lassen. Im „Dauerfeuer zugunsten von alternativloser Klimarettung, Sprachgenderismus und ungeregelter Zuwanderung“ gehe etwas Entscheidendes unter.

Dies sei, dass sich in Umfragen „eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen solche Operationen am offenen Herzen der Gesellschaft wendet“. Es seien jedoch die „denkfaulen und opportunistischen Parteien“, die ihre Wähler aus den Augen verloren hätten. Die Mehrheit der Gesellschaft jedoch sei „dort geblieben, wo sie immer schon war: in der Mitte“. Es müsse nur jemand das „Erbe des langweiligen und vorsichtigen Sozialstaats“ annehmen und sich „um die kümmern, die ihn am Laufen halten“.

„Denkfabrik R21“ als Avantgarde der „pragmatischen und konservierenden Mitte“?

Ex-FAZ-Feuilletonist Dirk Schümer setzt dabei vor allem auf einen Thinktank, den 2021 Ex-Bundesministerin Kristina Schröder und Historiker Andreas Rödder aus der Taufe gehoben hatten. Als Ziel hatte man damals ausgegeben, „Politikansätze zu stärken, die auf den Grundgedanken von Freiheit, Eigenverantwortung, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft fußen“.

Auf diese Weise wollte man zu Identitätspolitik, autoritären Konzepten oder einer staatsdirigistischen „großen Transformation“ einen „bürgerlich-liberalen“ Kontrapunkt bieten. In der breiten Öffentlichkeit war von „R21“ seither allerdings nur wenig zu bemerken.

Im Jahr 2023 hatte es zumindest offenbar schon drei Veranstaltungen gegeben, die auf YouTube nachgesehen werden können. Auch eine „Initiative für einen besseren ÖRR“ existiert, die von dem Thinktank ausgeht. Die öffentliche Wahrnehmung erstreckt sich jedoch auch hier bislang auf einen überschaubaren Kreis. Auf LinkedIn kommt „R21“ bislang auf etwas mehr als 1.000 Abonnenten, auf YouTube sind es immerhin 2.820.

„Stimme des Bürgertums“

Inwieweit auch frühere Spitzenmanager, Consulting-Firmeninhaber oder frühere Politiker jenseits persönlicher Wahrnehmungen ein Gespür für die Interessen der breiten Bevölkerung haben, ist auch ungewiss. Einen gewissen Hang zum Elitismus vermitteln jedenfalls die Zusammensetzungen von Initiatorenrunde und Beirat.

Dazu kommen noch Personen, die bisher weniger durch Pragmatismus oder „Vorsicht und Langeweile“ als durch aggressiven Maßregelungsdrang gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen aufgefallen sind. So stammen etwa von Diplom-Psychologen Ahmad Mansour Erkenntnisse wie jene, dass marokkanische Fußballprofis ihren Müttern ein zu hohes Maß an Verehrung entgegenbrächten. In ähnlich obsessiver Weise nimmt dessen Beiratskollegin Susanne Schröter regelmäßig Anstoß am Kopftuch im Islam.

Inwieweit solche Befindlichkeiten für die „bürgerliche Mitte“ repräsentativ sind, bleibt fraglich. Dies gilt umso mehr, als diese durch die AfD oder noch weiter rechts angesiedelte Parteien und deren Vorfeld hinlänglich abgedeckt sind. Entsprechend hatten auch parteipolitische Projekte, die sich zwischen dieser und der Union zu etablierten versuchten, bislang kaum Erfolg.



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