„Das ist ein echter Paradigmenwechsel“: Historiker sieht Ende der grünen Diskursherrschaft

Für den Mainzer Historiker Prof. Andreas Rödder hat die „grüne Deutungshoheit“ in Deutschland nach 15 Jahren ihr Ende gefunden. Nun mit den „Folgewirkungen von Ideologie und Illusion“ umgehen zu müssen, berge auch eine Chance – speziell für das bürgerliche Lager.
Der Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder (Pressefoto)
„Die grüne Deutungshoheit ist passé“, meint der Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder (CDU).Foto: Johannes Gutenberg Universität Mainz/Bert Bostelmann
Von 25. November 2023

Nach Auffassung des Historikers Prof. Andreas Rödder (56), dem früheren Vorsitzenden der CDU-Grundwertekommission, hat sich der Wind in der deutschen Politik- und Medienlandschaft seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober ziemlich gedreht: Vorbei sei es nun mit der „grünen Hegemonie“.

In einem aktuellen Gespräch mit Ulf Poschardt, dem Chefredakteur der Zeitung „Welt“, nannte Rödder auch die drei Hauptgründe dafür: Zunächst habe der „russische Überfall auf die Ukraine […] die deutsche Ideologie der ‚Zivilmacht‘ ad absurdum geführt“. Dann habe „das Heizungsgesetz […] eine Ahnung verschafft, dass die grüne Klima- und Energiepolitik nicht funktionieren“ könne. Und schließlich habe das „Attentat der Hamas samt der sympathisierenden Demonstrationen den Schleier über den Problemen ungesteuerter Migration weggerissen“, erklärte Rödder.

„Die grüne Deutungshoheit ist passé“

Seit diesem „Einbruch der Wirklichkeit“ habe hierzulande auch im öffentlichen Diskurs ein „echter Paradigmenwechsel“ stattgefunden, meint Rödder. Die „Grenzen des Sagbaren“ hätten sich verschoben:

Wie Robert Habeck heute spricht, hätte noch vor Wochen als ‚rechts‘ gegolten – wie zuvor Boris Palmer. Aber das ist vorbei. Die grüne Deutungshoheit ist passé.“

Nach Auffassung von Rödder hatte die Vorherrschaft der Grünen im öffentlichen Diskurs mit der „Weltfinanzkrise von 2008“ begonnen. Aber auch in den knapp vier Jahrzehnten davor hätten die Grünen schon daran gearbeitet, ihre „kulturelle Hegemonie“ aufzubauen – und das mit großem Erfolg:

Das grüne Narrativ hat Öffentlichkeit und Politik weit über die grüne Partei hinaus geprägt und mit Energie und Klima, Migration, Sexualität und Geschlecht die Agenda der letzten 15 Jahre bestimmt. Jetzt aber treten die Folgewirkungen von Ideologie und Illusion in der Realität mit harter Offenheit zutage, und das führt zu dem Paradigmenwechsel, der gerade stattfindet.“

Doch wie konnte die „grüne Hegemonie“ nach ihrem Siegeszug derart schwächeln? Das liege primär daran, dass sie längst „ideologisch überzogen“ habe, „indem sie den Rahmen des Sagbaren immer enger gezogen und immer aggressiver das Stigma ‚Nazi‘ verteilt“ habe. Das habe irgendwann eine „Reaktanz“ bei den Menschen ausgelöst, also einen innerpsychischen Abwehrmechanismus gegen Einschränkungen von Außen. In diesem Fall trotzten die Leute nach dem Motto: „Wenn das Nazi ist, dann bin ich eben Nazi.“

Eine Chance für bürgerliche Politik

Rödder sieht im Niedergang der grünen Deutungshegemonie mit ihrer „permanente[n] Moralisierung der Debatte“ eine Chance speziell für das bürgerlich denkende Lager, „sich aus der Defensive gegenüber der grünen Deutungshoheit zu befreien und eigene Positionen zu vertreten“. Und zwar solche Positionen, die ein völlig anderes Welt- und Menschenbild zeichneten, als es von den „Klimaaktivisten und Postkolonialisten“ vertreten werde. Diese betrachteten „die bürgerliche westliche Gesellschaft“ nämlich als „im Kern zerstörerisch und rassistisch“.

Jetzt aber sei es möglich und auch notwendig, „ein positives eigenes Narrativ zu entwickeln, dass und wie bürgerliche Politik eine positive und lebenswerte Zukunft eröffnen“ könne:

Gute Laune statt Ressentiment und Realismus statt Illusionen, das muss die Devise bürgerlicher Politik sein.“

„Die Union als soft-grüne Partei würde sich überflüssig machen“

Bürgerliche Politik zeichnet sich nach den Worten von Rödder auch dadurch aus, dass sie „mit harter Verbindlichkeit und Konsequenz die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie verteidigt – nach allen Seiten“. Dazu gehöre auch die Auseinandersetzung mit antiisraelischen Kräften in Deutschland. Denn „wenn auf die Sympathie für Hamas islamistische Gewalt in Deutschland folgen sollte, würde ich bürgerkriegsähnliche Zustände nicht ausschließen“, mahnte der Historiker.

Selbst von Haus aus Christdemokrat glaubt Rödder, dass die Union sich wird entscheiden müssen, ob sie sich den Grünen anpassen oder sich lieber von ihnen absetzen soll, um die Rolle einer „unterscheidbare[n] bürgerliche[n] Partei“ zu spielen. „Ich habe den Eindruck, die Notwendigkeit der Eigenständigkeit ist der Spitze bewusst. Die Union als soft-grüne Partei würde sich überflüssig machen – und die Zeichen der Zeit verkennen.“

„Brandmauer“ zur AfD keine optimale Lösung

Die strikte Abgrenzung seiner Partei zur aufstrebenden Alternative für Deutschland (AfD) hält Rödder offenbar für überzogen. Einem „immensen tagespolitischen Druck“ ausgesetzt, habe sich die CDU den „hysterischen Begriff der ‚Brandmauer‘“ aber irgendwann „aufdrängen lassen“, bedauerte Rödder im „Welt“-Interview. Das habe die Partei „in eine defensive Rechtfertigungshaltung getrieben“. Deshalb halte er es für „nötig, dass die Union demgegenüber aus eigener Kraft in die Offensive“ komme. „Wählerbeschimpfung und Politikverweigerung bringen ja auch nichts“, sagte Rödder.

Angesichts der Landtagswahlen 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg rate er der CDU deshalb, sich lieber darauf vorzubereiten, dass die AfD und die Linken zusammen mehr als 50 Prozent der Sitze erobern könnten, aber keine der beiden Parteien die Mehrheit stelle. In so einem Fall sehe er „eine Minderheitsregierung ohne Absprachen“ als „die einzige Möglichkeit, Bewegung in die Verhältnisse zu bringen“.

Im Bund hoffe auf eine „bürgerliche Koalition“ von Union und FDP:

Schwarz-Gelb wäre die richtige Antwort auf die Herausforderungen nach dem Zusammenbruch der grünen Hegemonie. Sie könnte auch die demokratische rechte Mitte wieder breiter integrieren.“

Die FDP könnte nach seinem Dafürhalten dabei „für individuelle Freiheit, Ordnungspolitik und Innovationskraft durch Marktwirtschaft und technologischen Fortschritt“ stehen. Damit scheint es nach Einschätzung des Historikers im aktuell rot-grün-gelben Bündnis nicht so recht zu klappen: „In der Ampel regiert zusammen, was nicht zusammengehört.“ Er sehe derzeit eine „Mischung aus ideologischem Überschwang und fahrlässiger Zögerlichkeit“. Zudem seien „die Fliehkräfte und die handwerklichen Mängel in der Regierung […] eklatant, […] die Watsche des Bundesverfassungsgerichts […] beispiellos“.

„Nicht Weltmission, sondern Selbstbehauptung des Westens“ angesagt

Inzwischen, so Rödder, habe sich „in Deutschland wie in vielen westlichen Gesellschaften gerade durch die Migrationspolitik ein enormes Konfliktpotenzial aufgestaut“, und zwar als „Folge von Illusionen und Hybris“. Denn es sei keineswegs so, „dass die ganze Welt nur auf die westliche Lebensform gewartet habe“. Als „Gebot der Stunde“ sehe er deshalb nicht „Weltmission, sondern Selbstbehauptung des Westens“:

Er hat die offensten, tolerantesten und wohlhabendsten Gesellschaften hervorgebracht, im historischen ebenso wie im internationalen Vergleich. Sie nach außen und im Inneren zu verteidigen, erfordert nicht Illusionen und Hybris, sondern Realismus und Entschiedenheit.“

Leiter der R21-Denkfabrik „für neue bürgerliche Politik“

Der Historiker Andreas Rödder (CDU), Jahrgang 1967, hatte 2005 den Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz übernommen, an dem er bis heute lehrt. Frühere Stationen hatten ihn unter anderem nach Stuttgart, München, London und in die USA geführt. Rödder gilt als Fachmann unter anderem für Konservatismus, gesellschaftlichen Wertewandel und die Geschichte der Wende 1989/90. 2019 berief ihn die Bundesregierung in ihre Fachkommission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit.

Seit November 2021 leitet Rödder den Thinktank Republik21 (kurz R21), der sich selbst als „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“ versteht. Zu den Initiatoren gehören auch Prominente wie der Psychologe Ahmad Mansour, FDP-Urgestein Hermann Otto Solms oder die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU).

Laut R21 ist Rödder auch „Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident der Stresemann-Gesellschaft“.

Meinungsverschiedenheit mit Merz

Zuletzt war der Historiker in die Schlagzeilen geraten, als er Ende September den Vorsitz der CDU-Kommission Wertefundament und Grundlagen der CDU, kurz Grundwertekommission, aufgab, den er erst im Frühjahr übernommen hatte. Kurz vor seinem Rückzug hatte er laut „Tagesschau“ viel Gegenwind von der Unionsspitze um Friedrich Merz bekommen, weil er sich „offen für CDU-Minderheitsregierungen im Osten geäußert hatte, auch wenn diese hin und wieder von der AfD unterstützt würden“. Für Merz sei diese Vorstellung ein „absolutes No-Go“.

Zum Zeitpunkt seines Ausscheidens hatte die Grundwertekommission bereits eine neue „Grundwerte-Charta“ ausgearbeitet, in der sich die CDU als „Volkspartei der Mitte“ mit „christlich-sozialen, liberalen und konservativen Wurzeln“ beschreibt, die unter anderem für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft und für „Klimaneutralität“ eintrete. Die Charta wurde im September 2022 auf dem 35. Parteitag der CDU in Hannover beschlossen. Trotz der Reibereien mit der Parteispitze will Rödder seinen Christdemokraten die Treue halten:

Ich werde den Kurs einer bürgerlichen CDU weiterhin unterstützen und meine Ideen aktiv einbringen. Dafür ist mir die CDU und ist die CDU für die Demokratie viel zu wichtig.“



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