Flucht aus der Realität: Das Tagträumen und seine dunkle Seite

Jeder Mensch verbringt eine gewisse Zeit des Tages mit Tagträumen. Wenn man jedoch zu lange in den Traumwelten verbleibt, wird es problematisch.
Tagträumen
Viele Tagträumer nutzen Tagträume als Bewältigungsstrategie. Doch wer zu viel Zeit in seinen Traumwelten verbringt, kann süchtig danach werden.Foto: Ridofranz/iStock
Von 17. Januar 2023

Ob beim Aufräumen, Joggen oder Duschen – sobald man bei einer Tätigkeit nicht zu viel denken muss, kommen sie von selbst: Tagträume. Sie machen nicht nur Freude und vertreiben die Langeweile, sondern sind auch nützlich. Laut Forschungsergebnissen fördert die Fähigkeit, geistig der Gegenwart zu entfliehen, die Kreativität sowie die Problemlösungs- und Planungskompetenz und hilft gegen die Einsamkeit. [1]

Wir verbringen einen großen Teil unserer wachen Zeit mit Tagträumen, also Gedanken, die nichts mit dem zu tun haben, was wir gerade tun. [2] Befragungen zufolge sind es im Durchschnitt etwa 30 Prozent. [3] Sie sind Teil unseres täglichen, bewussten Erlebens. Man könnte sie sogar als unseren Standardzustand (Ruhezustandsnetzwerk) bezeichnen [4], zu dem wir zurückkehren, wenn wir Dinge tun, die nicht viel Gehirnleistung erfordern.

Wenn das Tagträumen jedoch übertrieben wird, wird es problematisch. Schätzungen zufolge leiden 2,5 Prozent der Erwachsenen an einer Form des übermäßigen Tagträumens, die als „maladaptives Tagträumen“ bezeichnet wird. [5] Der Psychologe Eli Somer prägte diesen Begriff im Jahr 2002. Sogenannte maladaptive Tagträumer beschäftigen sich zwanghaft mit lebhaften Fantasien und Tagträumereien, die so exzessiv sind, dass sie ihre Fähigkeit, im täglichen Leben zu funktionieren, beeinträchtigen.

Die Traumsucht und ihre Folgen

Maladaptives Tagträumen unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von typischem Tagträumen. Im Gegensatz zu typischen Tagträumen, die flüchtig sein können (Sekunden dauern) [6], können maladaptive Tagträumer mehrere Stunden am Stück in einem einzigen Tagtraum verbringen. 

Wie eine Studie feststellte, verbleiben maladaptive Tagträumer durchschnittlich mindestens die Hälfte ihrer wachen Zeit in bewusst konstruierten Fantasiewelten. Diese erfundenen Welten sind oft reichhaltig und fantasievoll, mit komplexen Handlungen und verschlungenen Handlungssträngen, die über viele Jahre hinweg entstehen. [7]

Die Fantasiewelten maladaptiver Tagträumer sind lebendig und bereichernd. Deswegen kann das Bedürfnis, den Traum fortzusetzen, zwanghaft sein und süchtig machen. [8] Außerdem besteht dabei ein starker Drang zum Tagträumen. Wenn dies jedoch nicht möglich ist oder das Tagträumen unterbrochen wird, reagiert der Tagträumer verärgert. Den meisten fällt es auch schwer, das Tagträumen zu beenden oder gar weniger Zeit damit zu verbringen.

Wer es vorzieht, sich lange in alternativen, imaginären Welten aufzuhalten, macht das auf Kosten seiner körperlichen und sozialen Bedürfnisse. Dies kann zu Problemen bei der Arbeit, in der Schule und bei der Pflege enger Beziehungen führen. Viele Menschen mit maladaptivem Tagträumen berichten von psychischen Problemen, Schlafstörungen sowie Schamgefühlen in Bezug auf das Tagträumen – etwas, das sie möglicherweise vor anderen verbergen. [9]

Tagträumen als Flucht aus der Realität

Zu beachten ist jedoch, dass intensives Tagträumen und lebhafte Fantasietätigkeit nicht per se maladaptiv sind. Es wird erst dann „maladaptiv“, wenn es schwierig ist, es zu kontrollieren, wenn das Tagträumen Vorrang vor dem wirklichen Leben einnimmt und wenn der Zwang zum Tagträumen wichtige Lebensziele und Beziehungen beeinträchtigt.

Forscher vermuten, dass Menschen, die mit maladaptivem Tagträumen zu kämpfen haben, möglicherweise die angeborene Fähigkeit besitzen, in Fantasien einzutauchen. [10] Viele entdecken diese Fähigkeit schon früh in der Kindheit und stellen fest, dass Fantasien und Tagträume zur Regulierung von Ängsten eingesetzt werden können. Indem sie sich eine innere Welt der Geborgenheit schaffen, können sie der Realität entfliehen.

Einige – aber nicht alle – maladaptive Tagträumer setzen Tagträume als Bewältigungsstrategie ein. [11] Sie können sie beispielsweise von einer unangenehmen Realität ablenken und ihnen helfen, mit Traumata, schwierigen Lebensereignissen oder sozialer Isolation fertig zu werden. Dies kann jedoch zu einem Teufelskreis des zwanghaften Träumens führen. Denn wer in Fantasiewelten flüchtet, um negative Emotionen zu vermeiden, verstärkt den Drang zum Tagträumen sogar noch. [12]

In vielerlei Hinsicht wird das Tagträumen zu einem Suchtverhalten, das genau die Probleme vergrößert, die es eigentlich lindern sollte. Es überrascht vielleicht nicht, dass maladaptives Tagträumen häufig zusammen mit anderen Störungen auftritt, am häufigsten mit ADHS, Angstzuständen, Depressionen und Zwangsstörungen. [13]

Es scheint ein enger Zusammenhang zwischen Zwangsstörungen und maladaptivem Tagträumen zu bestehen. Einer Studie aus dem Jahr 2021 zufolge wiesen mehr als die Hälfte der 510 Studienteilnehmer mit maladaptivem Tagträumen auch Anzeichen einer Zwangsstörung auf. [14] Dies könnte auf mögliche gemeinsame Mechanismen zwischen den beiden Störungen hinweisen, einschließlich aufdringlicher Gedanken, Dissoziation und mangelnder kognitiver Kontrolle.

Tagträumen

Viele Tagträumer fingen bereits in der frühen Kindheit mit dem Tagträumen an. Foto: Rastan/iStock

Maladaptives Tagträumen nicht als Störung anerkannt

Obwohl das maladaptive Tagträumen im Internet und in den sozialen Medien immer mehr Aufmerksamkeit erregt, ist es in den psychiatrischen Diagnosehandbüchern noch nicht offiziell anerkannt.

Das bedeutet, dass viele Ärzte die Krankheit nicht kennen, was zu Fehldiagnosen und fehlender Anerkennung von Symptomen führt. Das verursacht bei maladaptiven Tagträumern noch mehr Stress, Isolation und Scham. [15] Viele wenden sich stattdessen an Online-Foren, um Unterstützung und Anerkennung von Gleichgesinnten zu erhalten.

Die Tatsache, dass maladaptives Tagträumen nicht als psychiatrisches Leiden anerkannt ist, bedeutet auch, dass wir wenig über Behandlungsmöglichkeiten wissen. Es gibt eine dokumentierte Fallstudie, die 2018 in der Fachzeitschrift „Frontiers in the Psychotherapy of Trauma and Dissociation“ erschien. [16] Sie zeigt, dass ein 25-jähriger Mann im Laufe von sechs Monaten die Zeit, die er mit Tagträumen verbrachte, um die Hälfte senken konnte – von fast drei Stunden täglich auf weniger als eineinhalb Stunden. Dies geschah mit einer Kombination aus psychologischen Behandlungen wie kognitiver Verhaltenstherapie und Achtsamkeit.

Obwohl die Behandlung keinen Einfluss darauf hatte, wie lohnend sich seine Tagträume anfühlten, berichtete er über Verbesserungen im Arbeits- und Sozialleben sowie bei den zugrunde liegenden Zwangsvorstellungen. Es ist zu hoffen, dass mit zunehmender Anerkennung und wachsendem Verständnis des maladaptiven Tagträumens mehr Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene zur Verfügung stehen werden.

Über die Autorin

Giulia Poerio ist Dozentin für Psychologie an der University of Sussex in Großbritannien. Sie veröffentlichte mehrere Arbeiten über das maladaptive Tagträumen und sprach in verschiedenen Medien über ihre Erkenntnisse. Dieser Artikel wurde von The Conversation neu veröffentlicht.

Literaturverzeichnis

[1] Poerio et al. (2015): doi.org/10.1080/02699931.2015.1049516

[2] Klinger und Cox (2016): doi.org/10.2190/7K24-G343-MTQW-115V

[3] Poerio et al. (2013): doi.org/10.1016/j.concog.2013.09.012

[4] Poerio et al. (2017): doi.org/10.1093/scan/nsx041

[5] Soffer-Dudek und Theodor-Katz (2022): doi.org/10.3389/fpsyt.2022.871041 

[6] Eric Klinger (2013): doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00415 

[7] Bigelsen et al. (2016): doi.org/10.1016/j.concog.2016.03.017

[8] Schimmenti et al. (2019): doi.org/10.1016/j.amp.2019.08.014

[9] Somer et al. (2016): doi.org/10.1080/15299732.2016.1160463

[10] Somer et al. (2016): doi.org/10.1097/NMD.0000000000000507

[11] Eli Somer (2002): doi.org/10.1023/A:1020597026919

[12] Wen et al. (2022): doi.org/10.1037/cns0000293

[13] Somer et al. (2017): doi.org/10.1097/NMD.0000000000000685

[14] Salomon-Small et al. (2021): doi.org/10.1016/j.jpsychires.2021.02.017

[15] Bigelsen und Schupak (2011): doi.org/10.1016/j.concog.2011.08.013

[16] Eli Sommer (2018): doi.org/10.XXXX/ftpd.2017.0006

Dieser Artikel erschien im Original auf theconversation.com unter dem Titel: Daydreaming’s dark side: the compulsive, complex fantasy disorder that dominates some people’s daily lives (redaktionelle Bearbeitung as)



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