Geheimnis hinter Schwedens Corona-Sonderweg gelüftet

Eine Risikoanalyse aus 2010 könnte die Erklärung für Schwedens Sonderweg in der Corona-Krise sein. Auch politisch kultivierte Mentalitäten sollen eine Rolle gespielt haben. So wollte man etwa Schulschließungen aus Angst vor „starken psychologischen Folgen“ vermeiden.
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In Stockholm, 26. April 2020.Foto: JESSICA GOW/TT News Agency/AFP via Getty Images
Von 20. Mai 2020

Die Antwort auf die Frage, ob Schweden, das in der Corona-Krise anders als alle anderen europäischen Staaten keinen Lockdown verfügt hatte, mit seinem Sonderweg erfolgreicher war als andere, hängt von der Perspektive ab.

Die Frage, warum Schweden an seinem Weg festgehalten hatte, obwohl Länder wie Großbritannien oder die Niederlande von ihrer anfänglichen Strategie der Herdenimmunisierung abgerückt waren, scheint jedoch beantwortet zu sein: Die Vorgehensweise wurde anhand einer Simulation eingeübt.

Sonderweg beruht auf Modellrechnungen

Wie unter anderem die Zeitung „Sydsvenskan“ und der „Focus“ berichten, hatten Sicherheitsexperten, Risikoanalytiker und Wissenschaftler bereits im Jahr 2010 in der südwestschwedischen Großregion Malmö eine Grippe-Epidemie mit 740.000 Einwohnern simuliert. Beteiligt an dem Feldversuch war unter anderem der Epidemiologe Anders Tegnell, der heute im Namen der Nationalen Gesundheitsbehörde die Regierung in Sachen Corona berät.

Die aus der Simulation gewonnenen Daten wurden in den darauffolgenden Jahren ausgewertet. Dass die Erhebung damals stattfand, war dem Umstand geschuldet, dass sich im Jahr zuvor die Schweinegrippe über mehrere Teile der Welt verbreitet hatte.

Im Zuge der Simulation wurden Berechnungen angestellt, wie sich eine Grippe-Epidemie in der betroffenen Region auswirken könnte und wie sich allfällige Schutzmaßnahmen auswirken könnten. Auch Optionen wie Schulschließungen oder Ausgangsbeschränkungen wurden durchgespielt.

Eltern durch Schulschließungen überfordert?

Die zu erwartenden Ansteckungszahlen waren dabei nur einer von vielen Faktoren, die in Betracht gezogen wurden. Auch die möglichen Auswirkungen auf das soziale Gefüge des Landes wurden untersucht. Als besonders problematisch, so erklärt die ebenfalls an der Auswertung beteiligte Leiterin der Analyseabteilung im Volksgesundheitsamt, Lisa Brouwers, wurde die Option der Schulschließungen bewertet.

Dabei befürchtete man offenbar, dass ein solcher Schritt im gesellschaftspolitisch stark etatistisch und linksideologisch ausgerichteten Schweden und in Anbetracht einer davon geprägten Mentalität unkalkulierbare Auswirkungen haben könnte. Dass Elternteile von einem Tag auf den anderen vor der Herausforderung stehen könnten, ihre kleineren Kinder wieder selbst zu betreuen, hätte, so Brouwers, „starke psychologische Folgen“ befürchten lassen.

Diese betrachtete man als schwerwiegender als den Nutzen bei der Seucheneindämmung, den eine Kita- oder Schulschließung zur Folge gehabt hätte, obwohl Kinder eine bedeutende Rolle als Überträger spielen konnten. Tatsächlich wurden in Schweden im Zuge der Corona-Krise lediglich Gymnasien und Universitäten geschlossen.

Appelle statt Verordnungen

Statt mit Verordnungen operierten Schwedens Behörden in der Corona-Krise mit Appellen und Mahnungen. So ersuchten sie die Bürger, zueinander Abstand zu halten, und bei Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben. Gerade diesen Rat kritisierte die Stockholmer Virologin Lena Einhorn im Sender SVT als potenziell gefährlich – insbesondere für ältere Menschen. Immerhin, so Einhorn, verliere man damit einen großen Anteil der Infizierten aus dem Blick.

Inwieweit sich der Sonderweg in Schweden als Erfolg erweisen wird, könne man, so der Konsens unter den Wissenschaftlern, frühestens in einem Jahr seriös beurteilen. Einige Tendenzen lassen sich jedoch auch jetzt schon ausmachen.

Geringe Bevölkerungsdichte in Schweden als natürliche Form sozialer Distanzierung?

Die unter anderem von Lockdown-Befürwortern in Deutschland geäußerte Befürchtung, dass ein weitgehender Verzicht auf Lockdown-Maßnahmen zu einer hohen fünfstelligen oder gar sechsstelligen Zahl an Toten führen würde, lässt sich anhand der Entwicklung in Schweden nicht verifizieren.

Dass Schweden in weiten Landesteilen dünn besiedelt ist, könnte eine Art „natürlicher“ sozialer Distanzierung begünstigen. Auch ist es nicht zu einer unkontrollierten Ausbreitung der Seuche gekommen. Der Verzicht auf einen Lockdown wird voraussichtlich auch einen wirtschaftlichen Einbruch abfedern.

Andererseits ist die Zahl der toten Infizierten pro eine Million Einwohner in Schweden überdurchschnittlich hoch – und die Zahl der aktiven Fälle ist weiter im Steigen begriffen.

Derzeit sind laut offiziellen Angaben 31.523 Personen in Schweden mit COVID-19 infiziert. Aktiv sind dabei 22.721 Fälle, in kritischem Zustand befinden sich 287 der Betroffenen. Bislang sind 4.971 Infizierte genesen, 3.831 verstorben.

Deutlich bessere Corona-Zahlen in Österreich – aber wirtschaftliche Einbußen höher

Mit 3.124 Infizierten pro eine Million Einwohner liegt Schweden leicht unterhalb des Vereinigten Königreichs (3.667) und Italiens (3.749). Mit 380 Toten auf eine Million liegt Schweden jedoch deutlich über den USA (283), Deutschland (98) und erst dem einwohnermäßig ähnlichen großen Österreich, das nur 70 Todesfälle auf eine Million aufweist. Österreich hat zudem mit 16.353 nur wenig mehr als die Hälfte der Zahl an Infizierten.

Schweden hat zudem auf eine Million Einwohner auch nur 20.799 Tests durchgeführt – im Vergleich zu 38.234 in den USA und 42.175 in Österreich. In Österreich und den USA ist infolge des Lockdowns allerdings auch von einem wirtschaftlichen Schaden auszugehen.

(Mit Material der dpa)

 



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