Irreale Pläne – aber hohes Gefahrenpotenzial: „Reichsbürger“ vor Gericht

Am Montag begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) der Prozess gegen neun Angeklagte, die als sogenannte Reichsbürger einen Staatsstreich geplant haben sollen. Eine Chance auf Realisierung hätte dieser auch nach Ansicht der Bundesanwaltschaft nicht gehabt – dennoch sei das Gefahrenpotenzial hoch gewesen.
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Der Vorsitzende Richter Joachim Holzhausen eröffnet in Stuttgart den Reichsbürger-Prozess 29. April 2024.Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
Von 30. April 2024

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Der sogenannte militärische Arm der Reichsbürger rund um den Prinzen Heinrich XIII. Reuß machte am Montag, 29. April, in Stuttgart den Anfang. Neun Angeklagte, die diesem angehört haben sollen, müssen sich seit gestern vor dem Oberlandesgericht Stuttgart für ihre Rolle bei den mutmaßlichen Putschplänen der „Patriotischen Union“ verantworten.

Am 21. Mai soll der Prozess gegen die mutmaßlichen Rädelsführer in Frankfurt am Main beginnen, am 18. Juni in München jener gegen die übrigen Mitglieder. Insgesamt sind 26 Personen angeklagt, ein Tatverdächtiger ist in der Untersuchungshaft verstorben. Den Angeklagten wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zur Last gelegt. Reuß selbst stand heute bisher nicht vor Gericht.

Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen beginnt in Stuttgart der Prozess gegen die Mitglieder der Reichsbürgerbewegung am 29. April 2024. Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Ein Angeklagter könnte eines versuchten Tötungsdelikts schuldig gesprochen werden

Am ersten Prozesstag verlas Oberstaatsanwalt Michael Klemm als Vertreter der Bundesanwaltschaft die Anklageschrift. Die Verteidigung stellte den Antrag auf Zusammenlegung der Verfahren. Sie argumentierte, die räumliche und zeitliche Trennung verschaffe der Anklagebehörde einen Vorteil, da diese über alle gleichzeitig Überblick und auf diese Weise einen „Erkenntnisvorteil“ habe.

Die Anklage erwiderte, dass die Abtrennung der Beschleunigung der Verfahren diene und damit im Interesse der in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten sei. Der Prozess ist vorerst bis Anfang 2025 terminiert. Allerdings sind allein in Stuttgart etwa 300 Zeugen benannt, darunter 270 Polizeibeamte. Ob sich dieser Zeitplan bis zu einem Urteil am Ende halten lassen wird, ist ungewiss.

Den Angeklagten drohen im Fall einer Verurteilung Haftstrafen zwischen einem und zehn Jahren. Dem 47-jährigen Markus L. aus Reutlingen droht möglicherweise hingegen eine lebenslange Haftstrafe. Er hatte im Zuge seiner Festnahme am 22. März 2023 um sich geschossen und dabei zwei Polizeibeamte verletzt. Zu klären ist, ob der Tatvorsatz dabei auf ein versuchtes Tötungsdelikt gerichtet war. L. will – wie die meisten Angeklagten – vorerst schweigen. Zwei von ihnen haben erklärt, zur Sache aussagen zu wollen. Es gilt für alle Angeklagten die Unschuldsvermutung.

Neun Männer stehen vor Gericht für ihre Beteiligung an einer Verschwörung der „Patriotischen Union“. Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

Bundesanwaltschaft: Reichsbürger „nicht nur harmlose alte Leute“

Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass die sogenannte Reuß-Gruppe plante, den Bundestag zu stürmen. Ihr Endziel sei es gewesen, die Bundesregierung zu stürzen und zahlreiche Amtsträger zu töten. Reuß selbst sollte anschließend Chef eines Übergangsrates werden. Der frühere Bundeswehr-Offizier Rüdiger von Pescatore solle den „militärischen Arm“ leiten. Die Macht solle durch „Heimatschutzkompanien“ an 286 Standorten abgesichert werden.

Die Anklagebehörde wies dabei in sozialen Medien verbreitete Auffassungen zurück, es habe sich bei den mutmaßlichen Umstürzlern lediglich um harmlose Rentner gehandelt. In Stuttgart reicht das Alter der Angeklagten von 42 bis 60 Jahre, einige von ihnen waren noch aktive Bundeswehrangehörige.

Militärische Erfahrung hatten zudem alle. Darüber hinaus habe die Gruppe bereits mehr als 380 Schusswaffen in ihrer Verfügungsgewalt gehabt, etwa 148.000 Munitionsteile und 500.000 Euro zum Ausbau ihrer Strukturen. Das potenziell mobilisierbare Sympathisantenumfeld habe etwa 100 Personen betragen.

Verweise auf den 6. Januar 2021 in den USA

Realistische Chancen, einen Staatsstreich durchzuführen, so die Überzeugung der Anklage, hätte die Vereinigung nicht gehabt. Allerdings sei dennoch ein „erhebliches Gefährdungspotenzial“ von ihr ausgegangen. Medien verwiesen auf die Ereignisse am Kapitol in Washington am 6. Januar 2021, als mehrere Hundert Personen in das Kongressgebäude eingedrungen waren. Die Ereignisse hatten zu fünf Toten und einer dreistelligen Zahl an Verletzten geführt.

Vieles spricht dafür, dass die Reuß-Gruppe ein Kind der Corona-Pandemie ist. Zwar gab es sogenannte Reichsbürger-Theorien bereits davor, Prinz Reuß soll sie bereits Ende der 2010er-Jahre öffentlich vertreten haben.

Die Corona-Zeit und die damit verbundenen Erfahrungen von sozialer Isolation und einer Ausnahmesituation hatten bereits bestehende, teils esoterisch unterfütterte Filterblasen radikalisiert. Eine prägende Rolle spielte dabei das 2016 in den USA entstandene „QAnon“- oder „Q“-Narrativ. Bis 2020 hatte dieses auch in deutschsprachigen Onlinegruppen Fuß gefasst.

Hat Corona-bedingte soziale Isolation Radikalisierung vorangetrieben?

Vom QAnon-Kult postulierte Legenden wie jene von satanistischen Netzwerken zum Kindesmissbrauch unter Spitzenpolitikern fanden sich der Anklage zufolge auch im Narrativ der Reuß-Gruppe wieder. Außerdem ging man davon aus, dass es eine „Allianz“ von Russland und den USA sowie dazugehörigen Geheimdiensten und Militärs gäbe, die sich der „Patriotischen Union“ bedienen würde, um die deutsche Regierung zu stürzen.

Im Frühjahr 2020 ging man in Q-Gruppen davon aus, dass die Lockdowns Teil einer Operation des „Oberkommandos der Alliierten Expeditionsstreitkräfte“ (SHAEF) seien. Diese würden sie nutzen, um bis Ostern des Jahres die Regierungen in der EU abzusetzen und in unterirdischen Gefängnissen festgehaltene Kindersexsklaven zu befreien.

Die Anklage geht davon aus, dass die Reuß-Gruppe ihren Tatentschluss spätestens im November 2021 gefasst hätte. Bereits zuvor hatten ihre mutmaßlichen Mitglieder jedoch offenbar einen kontinuierlichen Radikalisierungsprozess durchlaufen. In der abgeschlossenen und isolierten Onlinewelt Gleichgesinnter ergaben am Ende die Storys über entdeckte Kinderleichen im Ahrtal, galaktische Lichtkrieger im Bunde mit Donald Trump, formwandelnde Echsenmenschen und eine „Allianz“ zur „Befreiung Deutschlands“ offenbar Sinn.

Der Anklage zufolge hatte der Angeklagte Marco von H., der von sich behauptete, mit der „Allianz“ in Kontakt zu stehen, bereits im September 2022 angekündigt, der „Tag X“ stehe unmittelbar bevor. Dass dieser auch nach 48 Stunden nicht eingetreten war, brachte die Gruppe demnach immer noch nicht von ihrem Vorhaben ab.

Soziale Medien: Reaktionen auf Reichsbürger-Prozess bleiben gespalten

Bundesinnenministerin Nancy Faeser äußerte zum Prozessauftakt Genugtuung über den Beginn des Verfahrens und kündigte ein weiteres Vorgehen an:

„Wir werden unsere harte Gangart weiter fortsetzen, bis wir militante ‚Reichsbürger‘-Strukturen vollständig offengelegt und zerschlagen haben. Keiner in dieser extremistischen Szene sollte sich sicher fühlen.“

In sozialen Medien war die Reaktion gespalten. Weit verbreitet waren sogenannte whataboutistische Aussagen, die den staatlichen Stellen vorwarfen, die Reuß-Gruppe überzubewerten, während die Kalifats-Anhänger von „Muslim Interaktiv“ Freiheit genießen. Einer, der sich in dieser Weise äußerte, war CDU-MdB Christopher de Vries:

Bezüglich der Dschihadisten, die am Samstag in Hamburg demonstriert hatten, sind bis dato noch keine Anhaltspunkte zur Bildung bewaffneter Strukturen bekannt.

Andere X-Nutzer wie „taz“-Redakteur Konrad Litschko weisen auf Waffen, Feindeslisten und eine hohe Anzahl an Waffen im Umfeld der Verdächtigen hin. Zudem sei aus dokumentierten Äußerungen zu erkennen, dass es nicht nur um Gedankenspielereien gegangen sei.



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