Mehr als 1,1 Millionen Schutzsuchende 2022 – Bund und Länder uneins über Kostenbeteiligung

Von einer „aktuell sehr ernsten Lage“ spricht Städtetags-Vize Jung. Dennoch brachte der Flüchtlingsgipfel bei Bundesinnenministerin Faeser keinen Konsens.
Arbeiter bereiten eine Messehalle in Hamburg für die Unterbringung von Menschen aus der Ukraine vor. Dort sollen kurzfristig rund 400 Vertriebene Schutz finden.
Arbeiter bereiten eine Messehalle in Hamburg für die Unterbringung von Menschen aus der Ukraine vor. Dort sollen kurzfristig rund 400 Flüchtlinge Schutz finden.Foto: Axel Heimken/dpa
Von 13. Oktober 2022


Mehr als 1,1 Millionen Schutzsuchende haben deutsche Behörden im Jahr 2022 bislang registriert. In absoluten Zahlen reicht das an die Situation in den Jahren 2015/16 heran. Kommunalvertreter haben am Dienstag (11.10.) beim Flüchtlingsgipfel im Bundesministerium des Innern eine vollständige Übernahme der Folgekosten durch den Bund gefordert. Ministerin Nancy Faeser wollte eine solche bis dato nicht zusagen.

Kommunen fordern vollständige Kostenübernahme durch den Bund

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, forderte nun Bundeskanzler Olaf Scholz auf, selbst ein weiteres Spitzentreffen einzuberufen. Mit Blick auf den bevorstehenden Winter erklärte Landsberg in der „Rheinischen Post“:

Wir erwarten von Bund und Ländern die vollständige Übernahme aller mit der Aufnahme, Unterbringung und Integration entstehenden Kosten.“

Diese Zusage müsse noch im November erfolgen. Bereits jetzt sei die Lage in den Kommunen angespannt, und in den kommenden Monaten drohe sich die Lage zu verschärfen. Bis dato sei bereits mehr als eine Million Geflüchteter aus der Ukraine registriert. Allerdings wachse auch die Zahl an Schutzsuchenden aus anderen Ländern an:

Dies stellt die Kommunen gerade bei der Unterbringung vor immense Herausforderungen, teilweise müssen bereits Hotels angemietet werden, um die Menschen unterzubringen.“

In Dresden und Leipzig werden Flüchtlinge in Messehallen untergebracht

Der Vizepräsident des Deutschen Städtetags, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, spricht ebenfalls von einer „aktuell sehr ernsten Lage“. Er stellt Vergleiche mit der großen Flüchtlingskrise Mitte der 2010er-Jahre an und erklärt, es seien erneut zahlreiche unbegleitete Minderjährige zu betreuen.

Sachsens Großstädte greifen daher zu unkonventionellen Mitteln. Leipzig habe zwei Zeltstädte errichtet, die bis auf Weiteres knapp 440 Menschen beherbergen können. Spätestens ab Weihnachten sollen diese jedoch in Turn- oder Messehallen verlegt werden. In Dresden wird bereits eine Messehalle zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt.

In der Bundesregierung ist man sich der Lage bewusst. Ihre Migrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD) mahnte deshalb bereits im Vorfeld des Spitzentreffens Vorbereitungen auf mögliche neue Fluchtbewegungen aus der Ukraine an. Zwar sei die Zahl der aus der Ukraine ankommenden Flüchtlinge mit etwa 150 pro Tag derzeit rückläufig. Ein „harter Kriegswinter“ könne dies jedoch schnell ändern, so die Migrationsbeauftragte.

Alabali-Radovan forderte in diesem Kontext eine „große gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen“. Gleichzeitig verwies sie darauf, dass sich der Bund bereits jetzt „in erheblichem Maße“ an der Unterbringung der Flüchtlinge beteilige. Bereits im April seien rund zwei Milliarden Euro dafür zugesagt worden.

Keine finanziellen Zusagen von Faeser auf dem Flüchtlingsgipfel

Ministerin Faeser sagte ihrerseits auf dem Flüchtlingsgipfel zu, der Bund werde 56 zusätzliche Bundesimmobilien für die Unterbringung von 4.000 Geflüchteten zur Verfügung stellen. Sie wies darauf hin, dass 300 bislang angebotene Immobilien des Bundes bisher erst zu 68 Prozent ausgelastet seien.

Gleichzeitig räumte sie ein, dass in vielen Fällen Renovierungen erforderlich seien, ehe eine Unterbringung von Flüchtlingen möglich werde. Neue finanzielle Zusagen machte Faeser allerdings nicht.

Die Kontrollen an den Grenzen zwischen Bayern und Österreich würden, so die Bundesinnenministerin, über November hinaus bestehen bleiben. Zugleich forderte Faeser von Serbien, die visumsfreie Einreise für Staatsangehörige vieler Drittstaaten zu beenden. Diese habe zu einer Zunahme illegaler Einreisen in die EU geführt. Serbien hatte seine Einreisebestimmungen für Bürger mehrerer Staaten erleichtert, die eine Anerkennung des Kosovo als souveränem Staat ablehnen.

Dobrindt fordert wirksamen Schutz der Außengrenzen

Politiker von FDP und Union forderten von Faeser unterdessen Bemühungen auf EU-Ebene. Sie solle dort Maßnahmen anstoßen, die eine weitere Verschärfung der Situation verhindern könnten. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt äußert in der „Augsburger Allgemeinen“:

Ich erwarte, dass Innenministerin Faeser ein konkretes Konzept zur schnellen Unterbrechung der Transitrouten vorlegt und mit der EU den besseren Schutz der Außengrenzen organisiert.“

Es gehe nicht allein um die Unterbringung von Flüchtlingen, die in Deutschland angekommen seien, sondern bereits um das Verhindern illegaler Einwanderung. Dies würde, so Dobrindt, mit Blick auf den ergebnisarmen Flüchtlingsgipfel, auch die „wirksamste Entlastung der Kommunen“ darstellen.

Der Parlamentarische FDP-Geschäftsführer Stephan Thomae forderte gar einen „Europäischen Flüchtlingsgipfel, um auch für zukünftige Flüchtlingswellen gewappnet zu sein“. Ziel eines solchen müsse ein einheitliches europäisches Asylsystem mit festem Verteilungssystem sein. Mehrere Mitgliedstaaten der EU lehnen ein solches übernationales Vorgehen kategorisch ab, unter anderem die Staaten der Visegrád-Gruppe.

Weiterer Flüchtlingsgipfel im November soll Finanzierungsfragen klären

Unterdessen fordert der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, die Kontrollen ab den deutschen Außengrenzen auf Tschechien auszuweiten. Auf diese Weise lasse sich der „illegalen Zuwanderung, die derzeit vor allem über die Balkanroute erfolgt“, entgegenwirken. Im Gespräch mit der „Welt“ erklärt er, der Bund müsse „Wege aufzeigen“, um illegale Einreisen über Nachbarländer wirksam zu begrenzen.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann beziffert den zusätzlichen Finanzbedarf, der im Bereich von Unterbringung und Integration von Flüchtlingen zu erwarten sei, auf etwa acht Milliarden Euro. Diese müsse der Bund den Ländern und Kommunen bereitstellen, forderte er gegenüber der „Mediengruppe Bayern“.

Ministerin Faeser kündigte an, offene Finanzierungsfragen in einer weiteren Bund-Länder-Runde Anfang November klären zu wollen. Über die Zahl der Flüchtlinge, die in diesem Jahr insgesamt noch nach Deutschland kommen würden, wollte sie keine Angaben machen.

Verstärkter Andrang nach Österreich

Von Jahresbeginn bis September haben nach Angaben des Bundes fast 135.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt und damit knapp 35 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Zudem mussten seit Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht werden. Diese können ohne Visum einreisen und müssen für einen legalen Aufenthalt keinen Asylantrag stellen.

Offiziellen Angaben im sogenannten Ausländerzentralregister zufolge wurden bis zum 8. Oktober genau 1.002.668 Personen erfasst, die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg seit dem 24. Februar nach Deutschland eingereist sind. Rund ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Mehr als 70 Prozent der Erwachsenen sind Frauen. Allerdings ist unklar, wie viele Geflüchtete insbesondere aus der Ukraine in der Zwischenzeit das Land wieder verlassen haben.

Österreich habe seit Mai rund 68.000 irregulär eingereiste Migranten aufgegriffen, vor allem aus Afghanistan, Indien, Syrien, Tunesien und Pakistan. Die Tendenz sei weiter steigend, heißt es aus Wien. Einige streben offenbar eine Weiterreise nach Deutschland an. So habe Bayern von Anfang Januar bis Ende August 2022 im 30-Kilometer-Bereich an den Grenzen zu Tschechien und Österreich 1.650 Fälle unerlaubter Einreisen festgestellt.

Forscher: „Kein Vergleich mit Situation von 2015“

Migrationsforscher geben demgegenüber Entwarnung. „Da ist keine Welle im Entstehen“, ist sich Franck Düvell von der Universität Osnabrück sicher. „Dass jetzt wieder das Schreckgespenst Balkanroute 2015 bemüht wird – ich finde das eigentlich unverantwortlich.“ Ähnlich äußert sich sein Kollege Marcus Engler vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung:

Ich sehe da bisher keine ganz große neue Migrationsbewegung von außen in die Europäische Union.“

Die Zahl der Asylsuchenden, die über die Balkanroute in die EU strebten, bewege sich auf einem Niveau von zehn bis 15 Prozent der Zahlen von 2015 oder 2016. Viele der Menschen, die sich nun auf den Weg machten, hätten bedingt durch die Corona-Pandemie in Griechenland festgesessen. Insofern mache sich jetzt ein „nachholender Effekt“ bemerkbar, äußert Düvell.

Mit Blick auf den Flüchtlingsgipfel sieht Düvell mehr Entgegenkommen aufseiten des Bundes als erforderlich an. Zudem übt er Kritik am passiven Umgang mit der Entwicklung:

Es wurden keine Vorbereitungen getroffen. Und jetzt sind alle ganz überrascht, dass die Zahlen steigen und manche Kommunen an ihre Grenzen stoßen.“

(Mit Material von dpa, AFP und dts)



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