Wirbel um den Reproduktionsfaktor – RKI-Chef: „Das ist ein Pressebriefing und kein Mathematikseminar“

Erst stieg er an, jetzt fällt er wieder. Die Rede ist vom Reproduktionswert, einem Faktor zur Beurteilung des mehr oder weniger dynamischen Corona-Geschehens. In der Pressekonferenz des Robert Koch-Instituts vom 30. April gab es um diesen Wert viel Verwirrung.
Von 30. April 2020

Der Reproduktionsfaktor, der anzeigt, wie viele Menschen ein Infizierter anstecken kann, ist gefallen. Darüber informierte Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), in einer Pressekonferenz vom 30. April.

Lag der Wert am Dienstag (28.4., 0:00 Uhr) noch bei 0,9, so betrage er aktuell „geschätzt“ 0,76. Mit anderen Worten: Zehn infizierte Menschen übertragen SARS-CoV-2 an etwa sieben andere Menschen. Die Darstellungen hinsichtlich der Infizierten hat das RKI inzwischen angepasst. Im Lagebericht vom 29. April heißt es dazu:

Die im Rahmen des Nowcastings geschätzte Anzahl von Neuerkrankungen wurde bisher als gleitendes 3-Tage-Mittel dargestellt, um Zufallseffekte einzelner Tage auszugleichen. Ab heute verwendet das RKI ein 4-Tage-Mittel, das den Verlauf noch etwas glättet und gleichzeitig die Berechnung des Punktschätzers für den R-Wert erleichtert: für einen bestimmten Tag ergibt sich der R-Wert jetzt als einfacher Quotient der geschätzten Anzahl von Neuerkrankungen für diesen Tag geteilt durch die Anzahl von Neuerkrankungen 4 Tage davor. Dadurch hat sich die Form der dargestellten Kurve leicht verändert.

So sah die Kurve am 26. April aus:

RKI-Darstellung des Infektionsgeschehens vom 26. April. Foto: Screenshot RKI

So stellt sich die Kurve, aus der die Anzahl der Infizierten ersichtlich ist, am 29. April dar. Wesentliches Augenmerk sollte hier auf den hellblauen Säulen (ab etwa 13. April) liegen, die kürzer sind als in der Darstellung vom 26. April.

RKI-Darstellung des Infektionsgeschehens vom 29. April. Foto: Screenshot RKI

Nur die Darstellung der „Anzahl der geschätzten Neuerkrankungen“ änderte sich

Dieser Umstand sorgte für große Verwirrung. Wie groß wäre der aktuelle Produktionswert, wenn die Methode nicht geändert worden wäre? Diese Frage stellte eine Journalistin in der Pressekonferenz an das RKI.

„Offensichtlich ist es mir in den letzten Tagen nicht gelungen, Ihnen gut genug zu erklären, wie man den Schätzwert R [Reproduktionsfaktor] berechnet“, antwortete Wieler und übergab das Wort an seinen Kollegen, den Mathematiker Dr. Matthias an der Heiden. Dieser führte aus, dass die Berechnung des R-Wertes nicht geändert worden sei. Lediglich die Darstellung der Nowcast-Kurve, also die „Anzahl der geschätzten Neuerkrankungen“, habe sich geändert. „Die haben wir etwas geglättet“, äußerte der Experte. Die Berechnungsmethode sei dieselbe geblieben.

Warum der R-Wert schwanke, sei eine Frage, die jetzt oft gestellt werde, erklärte der Mathematiker auf Nachfrage: „Je niedriger die Anzahl der geschätzten Neuerkrankungen ist – also in desto kleinere Zahlen wir kommen – desto mehr machen sich lokale Cluster und lokale Entwicklungen bemerkbar.“

Insoweit würden dann Schwankungen im R-Wert auftreten. Das läge an der  „kurzfristigen“ Betrachtung des Werts. Dabei versuche das RKI aktuell „möglichst nahe am Geschehen“ zu sein. Ein Nachteil davon sei, dass bei kleineren Zahlen mehr Schwankungen auftreten würden. „Die sollten aber jetzt nicht zu so großer Beunruhigung führen, weil diese Wacklungen nur einen kleineren Effekt haben“, beendete der Experte seine Ausführungen. Das seien nur prozentuale Änderungen.

„Vielleicht sollten wir nochmal ein Seminar zu R machen“, schlägt Wieler vor, damit dieser Punkt den Journalisten nochmals genauer erklärt würde.

Kurz gesagt: Ein R-Wert von beispielsweise R = 2 bedeutet, dass jeder Infizierte zwei weitere Menschen ansteckt. Das entspricht einem exponentiellen Wachstum mit einer Verdopplungszeit von etwa vier Tagen. R = 1 besagt, dass jeder Infizierte einen anderen ansteckt und die Gesamtzahl der Coronafälle linear steigt. Langfristig führt R = 1 zu einer konstanten Anzahl an aktiven Fällen. Bei einem R-Wert unter 1 sinkt die Zahl der aktiven Fälle, während die Kurve der Gesamtfälle (Infizierte, Genesene und Todesfälle) langsam, nicht linear steigt.

Neue Berechnung – neue Ergebnisse?

Ein Reporter hakte nochmals nach: „Die Berechnungsmethode für R wurde verändert.“ Der Reproduktionswert würde nun aus zwei Zahlen berechnet werden: Die Zahl der Neuerkrankten geteilt durch die Zahl der Neuerkrankten vor vier Tagen. Seine Frage war: „Ist das Modell jetzt tatsächlich so stark vereinfacht worden oder ist es eigentlich komplexer?“

Wieler antwortete geduldig: „Wie gesagt, die Berechnung von R ist nicht verändert worden. Ich bitte das nicht zu sagen, weil das einfach nicht stimmt und wieder für Verwirrung sorgt.“ Erneut erhält der Mathematiker das Wort: „Ich glaube, das ist vielleicht eine missverständliche Formulierung, die wir da gewählt haben“, sagte an der Heiden. Die Berechnung des Reproduktionswertes habe sich nicht geändert. Lediglich die Darstellung der Nowcasting-Kurve sei etwas geglättet worden. Das führe dazu, dass über die Glättung, die in der Berechnung  von R einen Zwischenschritt darstelle, der Wert R leichter berechnet werden könne, „indem ich die Glättung ausnutze dafür“.  Das führe aber nicht zu anderen Ergebnissen, bestätigt der RKI-Mathematiker.

„Ich bin jetzt noch verwirrter als vorher“, sagte ein weiterer Journalist nach diesen Ausführungen. Die Nowcast-Kurve habe sich grundlegend verändert. Bisher sei eine Stufe in der Darstellung gewesen, jetzt gehe die Kurve „kontinuierlich runter“. Die Informationen seien so neu und schnell, dass sie nicht nachvollziehbar seien.

Wieler plädierte erneut für einen R-Wert-Kurs für Journalisten. „Das ist ein Pressebriefing und kein Mathematikseminar“, erklärte er schmunzelnd. Der „Club der R-Interessierten“ solle sich mit dem Experten vernetzen, um die Thematik zu klären.

Mehr Corona-Tests, aber gezielt

Neben der Diskussionen rund um den Reproduktionsfaktor wies Wieler nochmals auf die Corona-Tests hin. Das RKI rate weiterhin davon ab, generell alle Menschen zu testen. Menschen ohne Symptome könnten bereits infiziert sein und später noch erkranken, ein Test könne also „zu falscher Sicherheit“ führen.

Für sinnvoll hält Wieler dagegen Tests auch unabhängig von Symptomen in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen. Gerade dort gehe es darum, Infektionen so früh wie möglich zu erkennen, um Risikogruppen zu schützen.

Grundsätzlich seien Tests ein wichtiger Baustein bei der Eindämmung der Corona-Epidemie. Die Testkapazitäten in Deutschland lägen mit 860.000 so hoch wie noch nie. Da diese nicht vollständig ausgenutzt werden, könne sich Wieler vorstellen, dass deutsche Labore andere Länder in der Diagnostik unterstützen.

Der RKI-Chef wies erneut darauf hin, dass das Virus noch „monatelang“ bestehen und man in „neuer Normalität“ leben müsse. Es gelte weiterhin, die Verbreitung zu dämmen. Nach derzeitiger Einschätzung werde die Situation bis zum Vorliegen eines Impfstoffes, der eine nötige Immunität verleihe, oder bis zur Verfügbarkeit besserer Medikamente zur Behandlung von COVID-19 bestehen bleiben – „oder wenn es uns gelingt, ganz geniale Konzepte zu entwickeln, die bislang aber leider nicht da sind“. Vielleicht könne die physikalische Distanzierung mit „kreativen Tools“ anders bewältigt werden.

Impfstoff? Wieler ist optimisch

Der Optimismus, dass entsprechende Medikamente und ein Impfstoff entwickelt werden, sei groß, bekräftigte Wieler. Unabhängig davon sei eine Sache ziemlich klar: „Die Idee, dass man dieses Virus aus der menschlichen Population ausrottet, dieses Szenario wird ohne einen Impfstoff nicht gelingen.“

Die Frage, ob ein Impfstoff eine bessere Immunität bringe als eine natürliche Infektion, könne er nicht beantworten. Aber wenn ein Impfstoff effektiv und sicher sei, dann „werden an dem Impfstoff nicht annähernd so viele Menschen sterben, als wenn sie natürlich infiziert werden.“

Dieses Virus habe eine Reihe von Eigenschaften, denen Wieler niemanden aussetzen wolle – weder sich selbst, noch seinen Kindern. Wer das tue und denke, dass er eine Herdenimmunität hervorrufen könne, sei naiv oder habe andere Dinge im Kopf. „Aber die Gesundheit der Menschen, die dieser Person anvertraut sind, kann nicht in seinem Sinne sein. […] Ich kann sie nur alle warnen, nicht zu lässig mit diesem Virus umzugehen, es zu unterschätzen.“

Immunitätspässe und Negativbescheinigungen

Hinsichtlich der Erstellung von Immunitätspässen oder Negativbescheinigungen, wie sie beispielsweise für die Einreise in anderen Ländern in Kürze gefordert werden könnten, verwies der RKI-Chef auf die fehlenden Forschungsergebnisse.

Derzeit sei nicht bekannt, wie gut die Immunität nach einer überstandenen Infektion sei. „Wir wissen noch nicht, wie lange sie anhält und wann sie genau einsetzt.“ Wenn man den Immunitätsstatus einschätzen könne, sei das eine gute Sache. „Ich kann mir schon vorstellen, dass mit Menschen, die eine Immunität haben, anders umgegangen werden und sie anders eingesetzt werden können.“

In diesem Zusammenhang weist Wieler darauf hin, dass Folgeschäden einer COVID-19-Erkrankung noch untersucht würden. Aus diesem Grund sei die Immunität bei manchen Menschen dann eine sekundäre Eigenschaft.

Dem RKI wurden aktuell (Stand 30.4, 0:00 Uhr) für Deutschland 159.119 Infizierte mit SARS-CoV-2 gemeldet. Das sind 1.478 mehr als gestern. Abzüglich der 123.500 geschätzten Genesenen (Stand 29.4.) sind demnach aktuell rund 35.600 Menschen infiziert. 6.288 Patienten sind in Verbindung mit COVID-19 bislang gestorben. (mit Material von afp)

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