Der Deal mit Stockholm: Erdoğan unterstützt Schwedens NATO-Beitritt und erhält Gegenleistungen

Heute beginnt der NATO-Gipfel in Vilnius. Präsident Erdoğan will das Parlament der Türkei über den Beitrittswunsch Schwedens abstimmen lassen. Im Gegenzug hat er Zusagen eingeholt.
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Trilaterale Gespräche im Vorfeld des NATO-Gipfels haben eine Annäherung zwischen der Türkei und Schweden in der Frage des Beitrittsgesuchs gebracht. Bild: HENRIK MONTGOMERY/TT NEWS AGENCY/AFP via Getty Images
Von 11. Juli 2023

Die Türkei will den Beitrittsantrag Schwedens zur NATO prüfen. Der Generalsekretär des Bündnisses, Jens Stoltenberg, hat dies am Montagabend, 10.Juli, verkündet. Zuvor hatte er an einem trilateralen Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson teilgenommen. Erdoğan habe sich bereit erklärt, den Beitrittsantrag der türkischen Großen Nationalversammlung vorzulegen. Diese werde dann über die Ratifizierung entscheiden.

Schweden sagt Türkei Unterstützung in Sachen Visafreiheit zu

Wie „Daily Sabah“ berichtet, hat Erdoğan erklärt, das Gesuch „so bald wie möglich“ zu übermitteln, ohne allerdings ein exaktes Datum zu nennen. Er habe ihm zugesagt, so Stoltenberg, „eng mit der Versammlung zusammenzuarbeiten, um die Ratifizierung sicherzustellen“.

Gleichzeitig habe Schweden zugesagt, sich als EU-Mitglied für die Wiederbelebung des türkischen EU-Beitrittsprozesses einzusetzen. Zudem wolle die Regierung in Stockholm Druck ausüben, um die Modernisierung der Zollunion und die Visafreiheit für türkische Staatsangehörige in der EU zu beschleunigen. Brüssel hatte der Türkei beides im Rahmen des Grenzsicherungsabkommens von 2016 zugesagt. Umgesetzt hat es die EU seither jedoch nicht.

Im trilateralen Rahmen einigten sich die Beteiligten auch darauf, auf die Abschaffung von Sanktionen und Hindernissen beim Handel mit Verteidigungsgütern hinzuarbeiten.

NATO will eigenen Anti-Terror-Koordinator einsetzen

Was die Frage der Terrorismusbekämpfung anbelangt, hat Schweden zugesagt, einen bilateralen Sicherheitsmechanismus zwischen Ankara und Stockholm schaffen zu wollen. Man werde entschlossener gegen die terroristische PKK vorgehen.

Zudem wolle man eine größere Sensibilität gegenüber türkischen Interessen an den Tag legen, wenn es um das Gülen-Netzwerk geht. Das islamisch-konservative, aber prowestliche Netzwerk des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen wird in der Türkei als terroristische Organisation eingestuft. In Ankara macht man die Bewegung für den vereitelten Putschversuch von 2016 verantwortlich. In westlichen Ländern teilt man diese Einschätzung nicht.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte werde auch die NATO selbst einen Sonderkoordinator für die Terrorismusbekämpfung einrichten, erklärte Stoltenberg.

Gespräche mit EU-Ratspräsident Michel am Rande der Unterredungen

Wie „Hürriyet Daily News“ informiert, seien die trilateralen Unterredungen für ein Gespräch zwischen Erdoğan und EU-Ratspräsident Charles Michel unterbrochen worden. Michel sprach von einem „guten Treffen“. Man habe „Möglichkeiten ausgelotet, um die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei wieder in den Vordergrund zu rücke“. Beide Seiten seien entschlossen, „unseren Beziehungen neuen Schwung zu verleihen“.

Zwar kann Michel oder können die übrigen Beteiligten die Beitrittsgespräche nicht im Alleingang wieder in Gang setzen. Die Erklärungen vom Montag deuten jedoch darauf hin, dass Ankara und Brüssel auch ohne formelle Beitrittsgespräche den Handel ankurbeln, ihre Zollabkommen aktualisieren und die Visabestimmungen lockern könnten.

Erdoğan brachte EU-Beitritt der Türkei als Bedingung ins Gespräch

Vor seinem Abflug nach Vilnius hatte Erdoğan die Wiederaufnahme des EU-Beitrittsprozesses zur Bedingung für ein türkisches „Ja“ gemacht.

Wie die „Washington Times“ berichtete, erklärte Erdoğan vor Reportern:

Die Türkei hat mittlerweile mehr als 50 Jahre vor den Toren der Europäischen Union warten müssen. Fast alle NATO-Mitgliedstaaten sind auch Mitglieder der EU.“

An die Adresse dieser Länder gerichtet forderte der türkische Präsident, der Türkei zunächst den Weg in die Europäische Union zu ebnen. „Danach ebnen wir den Weg für Schweden, so wie wir ihn für Finnland geebnet haben“, stellte Erdoğan in Aussicht.

Finnland und Schweden hatten im Vorjahr unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt. Die Türkei hatte gegenüber beiden Ländern ein entschlosseneres Vorgehen gegen die terroristische PKK zur Bedingung für eine Zustimmung gemacht. Diese ist zwar auch in der EU verboten, de facto nutzen ihre Anhänger jedoch europäische Länder als ruhiges Hinterland.

Stoltenberg für Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei

Im Jahr 2005 hatten offizielle Gespräche zum EU-Beitritt zwischen Brüssel und der Türkei begonnen. Vor allem der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte sich auf EU-Ebene für die Aufnahme der Verhandlungen starkgemacht.

Mittlerweile liegen die Gespräche auf Eis. Die EU wirft der Türkei Mängel im Bereich der Rechtsstaatlichkeit vor. Ankara sieht diese aufseiten der EU selbst – und wirft Brüssel zudem vor, mögliche Beteiligte am vereitelten Putsch in der Türkei im Jahr 2016 zu decken.

Der „Istanbul Gazetesi“ zufolge hatte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Vorfeld der Gespräche Verständnis für die Türkei geäußert. Er erklärte demnach:

Ich unterstütze den Antrag der Türkei auf EU-Mitgliedschaft.“

Gleichzeitig gab er seiner Hoffnung Ausdruck, möglicherweise doch noch eine Lösung bezüglich der zeitnahen Mitgliedschaft Schwedens zu finden. Es sei, so Stoltenberg, „immer noch möglich, dass es in Vilnius eine positive Entscheidung über Schweden geben wird“.

Erdoğan wird im Gespräch mit Biden auf Lieferung von Kampfjets drängen

Neben den für die Türkei bedeutsamen Zusagen bezüglich der Zollunion und der Visafreiheit haben auch die USA Entgegenkommen gegenüber Ankara signalisiert. Am späten Abend des 9. Juli habe Erdoğan auch mit US-Präsident Joe Biden die Frage des EU-Beitrittsprozesses diskutiert.

„Ich sagte ihm, dass dies die Erwartung unserer Nation seit 50 Jahren ist. Wir sind die Türkei, kein gewöhnliches Land“, äußerte Erdoğan.

Am heutigen Dienstag will der türkische Präsident mit seinem US-amerikanischen Amtskollegen über die Verteidigungszusammenarbeit und den Kampf gegen den Terrorismus sprechen. Dabei wird es auch um die Frage der Lieferung von Kampfflugzeugen gehen.

Die Türkei hat offiziell beantragt, 40 neue F-16 und 79 Modernisierungspakete von den USA zu kaufen. Zuvor hatten die USA die Lieferung von F-35-Kampfjets verweigert, obwohl Ankara bereits 1,45 Milliarden US-Dollar dafür bezahlt hatte. Eine Änderung der US-Position war bislang an Einwänden im Kongress gescheitert.

Hakan Fidan strebt ersten Durchbruch als Außenminister an

In den Tagen vor dem Gipfel hat es Berichten zufolge ein weiteres Telefongespräch zwischen dem neuen türkischen Außenminister Hakan Fidan und seinem US-Amtskollegen Antony Blinken gegeben. Der Sprecher des State Departments, Matthew Miller, erklärte, beide Minister hätten in wesentlichen Punkten Übereinstimmung erzielt. Dies betreffe den NATO-Beitritt Schwedens und die Notwendigkeit des Ausbaus der langjährigen Zusammenarbeit zwischen Washington und Ankara im Verteidigungsbereich.

Der langjährige Geheimdienstchef Hakan Fidan gilt als politisches Schwergewicht in der Türkei und als möglicher Nachfolger Erdoğans ab 2028. Ein Durchbruch in der Frage der F-16 wäre ein erstes Ausrufezeichen, das der neue Chefdiplomat in seiner neuen Funktion setzen könnte.

Nach einer Ratifizierung durch das türkische Parlament steht ein solcher Prozess noch vonseiten Ungarns aus. Dort wird das Thema jedoch erst nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause auf der Tagesordnung stehen.

Erdoğan würde Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO begrüßen

Am Freitag hatte Präsident Erdoğan auch mit dem ukrainischen Machthaber Wolodymyr Selenskyj gesprochen. Dies berichtete die „Frankfurter Rundschau“. Im Anschluss an das Treffen erklärte Erdoğan in Istanbul vor Reportern:

Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Ukraine die Mitgliedschaft in der NATO verdient.“

Allerdings sollten mit Blick auf den Krieg mit Russland beide Seiten „zu Friedensgesprächen zurückkehren“. Im August wird der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, die Türkei besuchen. Erdoğan wird mit diesem unter anderem über eine Verlängerung des am 17. Juli auslaufenden Abkommens zur Ausfuhr ukrainischen Getreides sprechen.

Die Türkei teilt die Position Kiews im Zusammenhang mit dessen Ansprüchen auf die 2014 in die Russische Föderation eingegliederten Halbinsel Krim. Außerdem missbilligt sie die russische Militäroperation in der Ukraine. Allerdings hat Ankara keine Sanktionen gegen Russland verhängt und bemüht sich um eine Vermittlung zwischen den Kriegsparteien.



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